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7 Samstag

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„Ruhe und Frieden, himmlisch“, seufzte Ben wohlig und streckte sich hinter seinem Schreibtisch. Anne fasste ihn streng ins Auge. „Und da bist du ganz sicher, ja?“

Katrin kicherte. „Da wäre zunächst mal Bens Schreibtisch.“

„Es gibt Wichtigeres. Habt ihr beide den Fall Manuela Schermann vergessen?“

Ben und Katrin sahen beide etwas verblüfft drein; Ben fasste sich etwas schneller: „Aber das war doch ein Selbstmord? Die hat sich doch irgendwo in Selling aufgehängt?“

„Richtig. An einem Baum hinter dem Supermarkt an der Düsseldorfer Straße. Aber Julia Engelhorn hat sich die Verletzungen am Hals noch mal genauer angeschaut und Indizien für Fremdverschulden gefunden. Das heißt, wir sollten doch davon ausgehen, dass wir zu ermitteln haben.“

„Schon klar“, resignierte Katrin. „Wo hat die denn gleich wieder gewohnt? Und was gearbeitet?“

Anne grinste. „Sehr brav. Das kriegst du bitte gleich mal raus, ja? Und Ben informiert uns über den familiären Hintergrund?“

Beide wandten sich ihren Rechnern zu und Anne vertiefte sich erst einmal in die dünne Akte, die vorsichtshalber angelegt worden war, bevor sie sie wohl etwas verfrüht wieder geschlossen hatten. Also, Selling, vor zwei Wochen genau. Gefunden hatte sie der Filialleiter, als er morgens Lieferungen hereinholen wollte. Der LKW war zwar nahe an den Hintereingang herangefahren, aber der Mann hatte am Wagen vorbei doch über den Parkplatz und in die Baumreihe dahinter blicken können – und da hatte sie an einem der Bäume gehangen.

Warum ausgerechnet da? Wollte man bei einer so endgültigen Aktion nicht eher ungestört sein? Kamen dort nicht auch nachts immer wieder Leute vorbei? Immerhin war die Düsseldorfer Straße die Sellinger Einkaufsmeile und es gab dort auch einige Lokale. Und Leute, die containern wollten, gab es hier garantiert auch.

Hatte die Schermann mit dem Supermarkt etwas zu tun gehabt?

„Habt ihr schon was?“

Katrin sah auf. „Gewohnt hat sie zu der Zeit im Dortmunder Weg. Nummer vier. Ob alleine oder mit Freund oder in einer WG, kann ich hier nicht sehen. Ist in der Akte gar nichts?“

„Nein“, gab Anne ärgerlich zu. „Da haben die von der Bereitschaft und auch wir uns wohl viel zu früh geschlagen gegeben, peinlich. Ich hab hier einen windigen Bericht von der Auffindesituation, dann etwas Vorläufiges von Julia, grobe Todeszeit und Strangmarken – und sonst nichts. Habt ihr was zum Arbeitsplatz?“

„Nein. Ben?“

„Nö. Aber etwas über die Familie. Andreas Schermann, also der Vater, hat eine kleine Firma für Nahrungsergänzungsmittel. Studierter Chemiker. Seine Frau ist Innenarchitektin, arbeitet aber nur für Freunde und ausgewählte Kunden, recht entspannt offenbar. Drei Kinder, Manuela war die Jüngste. Die Eltern wohnen… ach ja, Clementinenweg. Wo ist das?“

„Nördliches Waldburgviertel. Schöne Gegend. Warum wohnt die Tochter dann in Selling?“

„Papa zahlt nicht besser?“

„Eltern sind Kapitalisten, sie will einen Akzent dagegen setzen?“

„Sie steht auf die Fünfziger?“

„Sie könnte auch Minimalistin sein“, versuchte Ben noch einen draufzusetzen.

Katrin grinste zu ihm hinüber: „Und was, wenn sie in Selling eine vollgestopfte Vierzimmerwohnung hat?“

Er streckte ihr kurz die Zunge heraus.

„Kindergarten“, murmelte Anne. „Gut, bis auf das letzte kann alles möglich sein… halt, Moment, ich hab einen Bericht vom Gespräch mit den Eltern gefunden. Wer hat den verkehrt herum gefaltet eingeheftet?“

„Der Kurti?“, schlug Katrin vor und grinste breit.

„Dachte ich auch gerade, aber das dürftige Ding war noch gar nicht im Archiv. Nein, das war irgendjemand hier oben…“

„Wir nicht!“

„Nein, wir nicht. Aber auf die Frage, wer das versaubeutelt hat, konzentrieren wir uns jetzt nicht. Wer könnte das Mädel umgebracht haben, heißt die Frage! Nicht so plump, natürlich.“

Sie entfaltete den Bogen. „Handschriftliches Protokoll… wer war das bloß? Egal. Also, Mutter jammert, das waren diese Gestörten. Vater sagt Was die schon alles von Manus Geld bekommen haben! Und keiner hat gefragt Welche Gestörten? Die Geschwister hatten Manuela seit Wochen nicht gesehen. Die Schwester hat nur gemeint, Manuela sei immer schon seltsam gewesen, voll der Psycho, hat sie gesagt. Der Bruder lebt ganz woanders, in Hamburg, und arbeitet auch da, der wusste eigentlich gar nichts. Toll. So ein mieses Gespräch! Gut, wenn wir den Fall geklärt haben, kriege ich raus, wer das so windig gemacht hat.“

„Bestimmt die Streife vor Ort. Die haben damit ja nicht so viel Erfahrung und haben wohl nach dem Psycho- und Gestörte-Gewäsch gedacht, das spricht für Selbstmord?“ Katrin wollte Anne wohl wieder vom Kriegspfad abbringen.

„Mag sein, wer weiß das schon. Okay, Katrin und ich fahren nach Selling und schauen uns mal die Adresse an - und dann nochmal zu den Eltern.“

„Und ich?“ Ben klang beleidigt.

„Schau mal deinen Schreibtisch an“, empfahl Anne und schwang sich ihre Tasche um.

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Kurz darauf standen sie in Selling vor einem sehr solide wirkenden Bau aus der vorigen Jahrhundertwende, wie zumindest Katrin vermutete, der in sonnigem Dottergelb gestrichen war und etwas undefinierbar Gemütliches ausstrahlte. Die Straße war wenig belebt. „Kunststück, Samstag“, murmelte Katrin.

„Weiß ich“, antwortete Anne. „Spengler hat es gestern Abend ziemlich dringend gemacht, als er die Mail von Julia bekommen hat. Es soll nicht so aussehen, als hätten wir die ganze Woche verstreichen lassen. Sobald wir das hier gemacht haben, gibt´s Wochenende.“

„Deshalb hab ich´s nicht gesagt, nur: Wer weiß, ob wir hier jemanden antreffen. Samstag, schönes Wetter, vielleicht sind alle im Prinzenpark oder am Mönchensee oder in der Innenstadt beim Shoppen?“

„Das sehen wir dann ja. Das Haus macht einen recht ordentlichen Eindruck. Nicht ganz so kleinbürgerlich wie dieser Fifties-Charme weiter draußen. Nur diese Reinigung… die müffelt ordentlich.“

„Und was ist das auf der anderen Seite? Das mit diesem Bank-Sichtschutz?“

Sie traten näher. „Silver Centre“, las Katrin vor.

„Klingt wie ein Laden für teuren Silberkram. Aber hier?“, überlegte Anne.

„Und schon sehr unspektakulär. Ich sehe es ja ein, dass sich ein teurer Laden sichert, aber so findet doch kein Kunde hin! Und du hast recht, das ist auch die falsche Gegend. Was könnte das noch sein?“

„Fragen wir mal!“ Anne nickte in Richtung Haustür, aus der gerade eine Frau um die Dreißig trat, dem Wochenende entsprechend eher lässig gekleidet und mit einem dunklen Pferdeschwanz. Unter dem Arm trug sie diverse Pappen und war gerade im Begriff, sich der Hofeinfahrt zuzuwenden, als Katrin ihr in den Weg trat.

„Entschuldigung?“

„Nicht schon wieder“, seufzte die Angesprochene, ohne aufzusehen, weil die Pappen gerade abrutschten. „Ihr könnt euch euren Psychoquatsch in die Haare schmieren.“

„Bitte?“

Jetzt sah sie doch auf. „Oh, ich dachte – egal. Was kann ich für Sie tun?“ Sie sah zwei Ausweise. „Oh – was ist denn passiert? Es ist aber nicht, weil ich dem Sektenbeauftragten eine Mail geschrieben habe? So schnell kann das nicht gehen, schon gar nicht am Samstag…“

„Ich glaube, das sollten wir etwas ausführlicher klären“, legte Anne fest und erntete ein Grinsen. „War ich unverständlich? Sorry. Ich bin Amelie Preuß. Kommen Sie mit rauf – oh, kann ich noch schnell die Pappen ins Altpapier?“

Anne entließ sie mit einer Handbewegung. Sie hörten den Tonnendeckel, dann eilte Frau Preuß zurück. „So, jetzt aber!“

Solides Treppenhaus, fand Katrin, die sich gründlich umsah und schon ihr Handy fotografierbereit in der Hand hielt.

Auch die Wohnung machte einen netten Eindruck. Frau Preuß bot Wasser an, was wie immer tugendhaft abgelehnt wurde, und sie setzten sich rund um den Tisch.

„Die Sitzecke ist doch ein bisschen klein“, stellte Katrin dann fest.

„Katrin!“

„Das Sofa hab ich heute bestellt, es kommt aber erst am Dienstag. IKEA eben. Ich bin erst am Donnerstag eingezogen – huch, ehrlich erst vorgestern? Kommt mir viel länger vor!“

„Warum? Ist es hier so aufregend?“

„Na, geht so. Ich kenne noch nicht alle Nachbarn. Aber umziehen, herumräumen, zum IKEA schauen, die Läden hier inspizieren, einen Tag arbeiten… na, jetzt hab ich ja frei.“

„Für zwei Tage haben Sie´s schon weit gebracht“, lobte Katrin. Anne fuhr dazwischen, weil sie nun doch mal zum Thema kommen wollte, schließlich hatten sie ja noch mehr zu tun – und wie eben ausführlich thematisiert worden war, hatten sie Samstag und damit eigentlich Wochenende.

„Warum haben Sie eben auf der Straße so abweisend reagiert?“

„Ich dachte, das ist wieder diese dämliche Sektentussi. Okay, wahrscheinlich ist das ein armes Luder, das auch nichts dafür kann, sondern gezwungen wird, den Leuten irgendwelche Beratung für ein Schweinegeld aufzuschwätzen, aber ich hatte der schon gesagt, dass ich sowas nicht leiden kann und auch nicht brauche.“

„Hui – Scientology?“, staunte Katrin.

„Nein, irgendwas mit Silver. Dieser Raum, der wie ein Versicherungsbüro oder so wirkt, ist offenbar der Tempel. Aber so, wie die Kerle dort mit den Mädels umspringen, ist das wohl ein verlogener Haufen, wie er im Buche steht. Da krieg ich wirklich einen Hals!“

„Verständlich. Deshalb haben Sie sich an den Sektenbeauftragten gewendet?“

„Ja, aber erst heute. Einer von den Kerlen – die laufen in einer hell- oder dunkelgrauen Kutte herum, die Mädels tragen schwarz – hat doch glatt eins von den Mädchen geohrfeigt. Direkt hier vor dem Haus! Ich hatte mich eh mit ihm schon gestritten, anscheinend darf man nicht vor dem Haus stehen, da fühlen die sich bei ihren krummen Geschäften wahrscheinlich beobachtet. Dann wurde er sozusagen drohend und ich bin schleunigst hier rauf. Arschloch vom Balkon zu plärren, hab ich mich dann auch nicht mehr getraut.“

„Hui“, machte Katrin noch einmal, „das hört sich ja regelrecht gefährlich an! Diese Hell- und Dunkelgrauen scheinen dann die Chefs dieser – äh – Gruppierung zu sein?“

„Vielleicht hat das was mit diesem Silver zu tun? Wegen Silver Centre?“, stimmte Amelie nach einem Moment des Nachdenkens zu.

„Dann sollten wir diese Leute einmal ins Gebet nehmen, vielleicht erfahren wir da etwas?“, überlegte Anne.

„Ach – worüber denn?“, entfuhr es der neugierigen Amelie.

Anne grinste. „Wüssten Sie wohl gerne, gell?“

Amelie grinste zurück. „Dann rate ich halt! Das sind Hausbesetzer. Sie schicken die Mädels zum Klauen oder auf den Strich. Die haben keine Konzession. Diese Pseudoreligion ist verfassungsfeindlich…?“

„Ganz kalt“, bedauerte Katrin. „Denken Sie schön weiter nach, wir sehen uns unten mal um.“

Amelie konnte sich nur ärgern, dass sie vom Balkon aus zwar sehen konnte, wie die beiden aus dem Haus kamen und sich in Richtung der verhängten Tür wandten, aber mehr nicht zu erkennen war.

Immerhin hatten ihnen niemand den Eintritt verwehrt, denn sie sah sie nicht enttäuscht davonziehen.

Nachbarschaft mit kleinen Fehlern

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