Читать книгу Nachbarschaft mit kleinen Fehlern - Elisa Scheer - Страница 7
5 Freitag
Оглавление„Und, wie war dein Umzug?“, fragte Marco, einer ihrer beiden Kollegen und lümmelte sich gemütlich in seinen Schreibtischstuhl, wohl um Geschichten von Muskelkater, diversen Pannen und missgünstigen Nachbarn zu genießen.
Amelie lächelte breit. „Ganz problemlos. Ein schönes Haus.“
„Ein ganzes Haus??“
„Unsinn, wozu denn? Zwei Zimmer, Küche, Bad, Balkon. Reicht mir vollkommen.“
„Und wo ist dieses Miniaturkönigreich?“
„In Selling. Mehr Richtung Bahnhofsviertel.“
„Huch!“
„Du bist ein Affe, Marco“, kommentierte Amelie gleichmütig. „Voll das Prinzchen auf der Erbse. Von der Seite aus ist es ziemlich nah zur Altstadt, die Häuser sind alt und solide und die Mieten sind günstig. Was will ich mehr?“
„Eine gute Adresse und richtig Platz?“
„Mehr Platz? Wozu denn? Mein bisschen Kram war locker unterzubringen. Und eine gute Adresse? Damit sich gewisse Kollegen nicht erschrecken müssen? Dass du so ein Seelchen bist, ist doch nicht meine Schuld.“
„Ist der Marco mal wieder pikiert?“, erkundigte sich Sabine, die Dritte im Bunde. „Marco, du wolltest doch unseren esoterischen Dichter noch einmal bequatschen? Er sitzt schon in deiner Ecke und fühlt sich sichtlich unzureichend betreut!“
„Männo!“ Marco eilte davon; Amelie grinste Sabine zu, die vergnügt zwinkerte, und vertiefte sich dann wieder in das Manuskript von Luise van Roos. Es sah nicht schlecht aus – gut gebaute, sehr spannende Geschichte mit den (recht beliebten) Geheimnissen aus der Vergangenheit.
Immerhin bezogen sich die Rückblicke nicht auf die Nazizeit, das war leider allmählich immer das Gleiche, sondern auf die unmittelbare Nachkriegszeit: Schwarzmarktgeschäfte, ein alter, nie aufgeklärter Mord, die Rattenlinie (oder ein ähnliches Netzwerk) und die Folgen für die Gegenwart. Komplex aufgebaut, ohne sich in zu vielen Nebenhandlungen zu verzetteln. Das konnte man gut weiterempfehlen!
Lektorieren konnten Winkler&Partner es ruhig selbst, aber sie würde jetzt einen Werbetext schreiben, der die Leute bei W&P sabbern lassen würde! Nicht mal die böse Katrin Horst konnte da meckern, die Kasparek und die Bensdorf erst recht nicht, die hatten genauso Sinn für Qualität. Bei denen zu arbeiten hätte ihr auch Spaß gemacht, aber LIT-Ag hatte dann doch das bessere Angebot gemacht.
Und sie hatten zum Teil schon interessante und bekannte Autoren im Programm, daneben aber immer ein offenes Ohr für neue Leute.
Jemandem zu sagen, dass sein Erstling leider nichts taugte, war natürlich bitter, aber man konnte mit dem enttäuschten Möchtegernautor auch an einem Text arbeiten, der wenigstens im Ansatz etwas taugte. Und gute Neuentdeckungen waren wirklich ein Fest!
Luise van Roos konnte es, eindeutig. Und ins Programm von W&P passte der Roman allemal, die hatten viel Sinn für Edelkrimis. Sie schrieb einen verlockenden Begleittext (ohne Spoiler, natürlich), las ihn befriedigt durch und zeigte ihn Sabine, die anerkennend nickte. „Ist die Story wirklich so gut?“
„Klasse. Komplex, aber nicht sinnlos verwickelt. Sehr gut geschrieben, interessante Charaktere und originelle Geheimnisse.“
„Ja, das hast du so ungefähr geschrieben. Und jetzt?“
„Ich möchte der van Roos vorschlagen, das Manuskript W&P zu geben, bei denen passt es gut ins Programm. Jetzt rufe ich sie mal an.“
„Mach das!“
Luise von Roos war begeistert und mit allem einverstanden; der Chef der Agentur, Niko Winter, lobte Amelie, bis sie lachte. „Na, W&P könnten immer noch ablehnen, oder?“
„Ist Ihnen das schon mal passiert?“
„In den drei Monaten, in denen ich hier arbeite? Nein, aber das kann ja alles noch kommen, oder?“
„Glaube ich nicht. Sie haben ein Händchen, das ist es!“
Amelie freute sich. Wenn das Manuskript angenommen würde, bekam LIT Ag zwölf Prozent der Verlagsreingewinns aus dem ersten Jahr nach der Veröffentlichung. Und davon gingen elf Prozent an die Agenturleitung und eins an die verantwortliche Agentin. Das konnten neben dem Gehalt ab und an ein paar tausend Euro sein. Okay, oder knapp hundert, wenn der Schmöker sich dann doch nicht verkaufte…
Dann schrieb sie eben selbst auf den wichtigen Seiten hymnische Rezensionen! Schließlich war die Geschichte gut!
So, und was hatte sie jetzt hier?
Eine Liebesgeschichte – er reich und verkorkst, sie arm und harmlos. Ach herrje! Gab es das nicht schon einmal – oder eher tausendmal?
Na, mal sehen, wann der Rohrstock zum Einsatz kam! Sie las weiter und machte sich Notizen. Die Frau konnte schon schreiben, aber die Story war gelinde gesagt ausgelutscht. Und wenn man schon London als Schauplatz wählte, sollte man sich dort ein wenig besser auskennen oder doch wenigstens ab und zu mal im Netz einen Stadtplan zu Rate ziehen!
Origineller wurde die Sache auch nicht, als sie weiterlas. Also, entweder entwickelte diese Frau noch eine persönliche Note oder sie konnte den Kram im Self Publishing rausbringen, gelesen wurde das Zeug ja schon.
Oder… welche Verlage waren denn für solchen seichten Kram bekannt? Da musste sie mal überlegen…
Sie las weiter, holte sich mittags einen Salat und eine Gesämestange im Supermarkt gegenüber, las wieder weiter und fand die etwas unelegant hineingequetschte Krimihandlung nicht wirklich überzeugend: Wieso verdächtigte diese unbedarfte Person nun plötzlich ihren reichen und fürsorglichen – und gar nicht so seltsamen – Liebhaber? Gut, er war ein bisschen älter als sie, aber das ließ sich ja mit einem Vaterkomplex erklären. Das musste diese Corinna Schönburg (wetten, so hieß die nicht wirklich?) aber noch deutlich überzeugender und raffinierter aufbauen!
Nun ja, je weiter sie las, desto eher änderte sich ihre Meinung von Totaler Schwachsinn! zu Kann man was draus machen, wird aber noch viel Arbeit. Und dann vielleicht den Chic-Verlag fragen? Den mit den kitschigen Titelbildern?
Das hielt Sabine auch für eine gute Idee, sofern sich der Roman im Endeffekt als nicht zu bescheuert erweisen sollte.
Marco war seinen Lyriker erst am frühen Nachmittag losgeworden und jammerte nun, der Kerl sei vollkommen beratungsresistent, er stelle sich offenbar vor, ein Verlag werde seine Gedichte in Seide gebunden herausbringen und ein Vermögen damit machen.
„Der soll erst einmal bei Poetry Slams mitmachen, Kleinigkeiten veröffentlichen, sich vielleicht eine Homepage zulegen. Möchtegern-Promis lesen seine Gedichte auf Youtube, all sowas.“
„Was passt ihm denn daran nicht?“
Marco schnaufte. „Seelenlose Technik. Goethe hätte nie…!“
„Quatsch, Goethe war zu seiner Zeit der totale Trendsetter. Allein schon, dass alle seine Fans sich genauso angezogen haben wie er!“, rief Amelie.
Sabine lachte. „Blauer Frack und gelbe Beinkleider. Die Werthertracht!“
„Was hat dein Dichter eigentlich studiert?“, wollte Amelie wissen. „Germanistik kann´s ja eigentlich nicht gewesen sein, oder?“
„Weiß ich gar nicht, Philosophie vielleicht? Jedenfalls schreibt er auf Papier. Mit der Hand.“
„Mit Gänsekiel?“, konnte Amelie sich nicht verkneifen. Sabine ging hohnlachend ab, Marco schniefte wehleidig.
Komisch, Marco hatte öfter solche Gestalten – wieso eigentlich? Mit denen konnte man doch, wenn man ehrlich war, auch nichts verdienen?
Sie konnte da im Gegenzug nicht klagen, sie war erst seit drei Monaten da und hatte schon einen vielversprechenden Roman an Land gezogen, bei einem anderen die Filmrechte verkauft – und jetzt war die Roos doch auch eine interessante Option? Damit konnte sie schon mit ein paar hundert Euro pro Monat für die nächsten Jahre rechnen…
Das sollte sie mal Papa erzählen, der immer so tat, als sei sie eine gescheiterte Existenz: „Germanistik? Was kann man denn damit werden? Mach doch Jura – geklagt wird immer!“
Jura hatte sie nur leider überhaupt nicht interessiert, obwohl mittlerweile das, was sie hier brauchen konnte, doch recht spannend war, aber da ging es eben um Urheber- und Vermarktungsrecht. Das war ein überschaubares Gebiet – und wichtiger war Niko wohl doch, dass sie ein sehr gutes Gespür dafür hatte, wie man einen Text optimierte.
Ja, sie konnte zufrieden sein: Toller Job! Und eine sehr ordentliche Wohnung. Fertig einrichten musste sie sie noch, aber das war ja eigentlich auch nur ein Spaß…
Morgen vielleicht doch ein Sofa? Und weitere Kissen und Bezüge?
Mal sehen…
Auf dem Heimweg aber schlugen ihre Füße sozusagen fremdgesteuert einen kleinen Umweg ein und führten sie ins Bombay. Sollten die sich nicht korrekterweise endlich mal Mumbai nennen, dachte sie wie immer in den letzten Jahren, wenn sie hier vorbei kam. Immer diese Kolonialherrensprache?
Aber das Bombay hatte eine irrsinnige Auswahl, wenn auch alles stark nach Sandelholz zu riechen pflegte… wenn schon, ihr gefiel der Duft eigentlich ganz gut.
So, noch zwei Kissenbezüge, einer zartgelb, einer schwarzweiß, so hatte sie es sich notiert. Sie wühlte das große Regal durch, wie immer ohne von Verkäuferinnen behelligt oder gar beraten zu werden. Zartgelb mit einer eher schmalen Kante im Bollywoodstil in kräftigerem Gelb mit etwas schwarz und grau – sehr hübsch. Und da, verschieden breite Streifen in Schwarz auf Weiß, die eine Art Farbverlauf andeuteten… auch sehr nett.
Oh, und schwarzweißes Karo? Gingham? Egal, das konnte sie auch brauchen, sie würde an der van Roos sicher auch gut verdienen. Als allererstes würde sie es sich ja selbst kaufen und gleich rezensieren – fünf Sterne!
Dazu noch Daunenkissen in der passenden Größe… sehr gut.
ZU Hause drapierte sie die Kissen auf dem Klappsessel, der darunter kaum noch zu erkennen war. Ein dunkelgraues Sofa musste her, eindeutig! Morgen war Samstag… und wo hatte sie den IKEA-Katalog hingetan?
Sie räumte noch ein bisschen herum und fand zwar nicht den Katalog, aber einiges, was in den Müll gehörte, also sammelte sie das alles ein, fand, dem Sozialladen im Wertstoffhof sei das auch nicht mehr zuzumuten, und lief nach unten, um es im Restmüll zu versenken.
Die Rückfront der Wäscherei sah so aus, wie man sich das vorstellte; ein Gebläse beförderte diesen typischen Chemiegeruch in den Hof und hinter einem Fenster sah man gereinigte Ballkleider an einer Kleiderstange.
Jede Reinigung hatte so etwas – gingen die Leute wirklich so oft auf Bälle? Gab es überhaupt so viele Bälle? Oder waren die Kleider seit Jahren die gleichen und sollten nur zeigen Seht her, wie toll wir sogar sowas reinigen?
Auf der anderen Seite der Hofdurchfahrt war die Rückseite des Silver Centre zu sehen. Blöder Name, er klang wirklich, als könne man hier unnützes Silberbesteck verkaufen.
Auch hier hatten sie diesen hässlichen Sichtschutz – eigentlich komisch, überlegte sie, neben der schwarzen Tonne stehend und den Schlüsselbund in der Hand, wäre es nicht netter, man sähe einen hübschen Meditationsraum, entspannte Leute, die sich mit Namaste begrüßten? Dazu vielleicht eine Liste, was so angeboten wurde? Klangschalentherapie, Rebirthing und was es alles so gab? Oder war das ein ganz anderes Geschäftsmodell?
Die Hintertür öffnete sich und ein Mann, dieses Mal in einer blassgrauen Kutte, wandelte in den Hof; anders konnte man diesen zugleich würdevollen und entspannten Gang nicht nennen, denn er wirkte wie ein antiker Philosoph. Sie lächelte: wie einer von Marcos Kunden?
Der Blassgraue warf ihr einen misstrauischen Blick zu und schwieg, als sie höflich Grüß Gott sagte.
Ach herrje, fühlte er sich von einer religiösen Floskel angegriffen? War Grüß Gott nicht neutral genug? Na, wenn er so albern war: „Guten Tag“?
Immer noch keine Reaktion.
Unhöflich oder schlicht schwerhörig?
Aber wie eine Idiotin hier herumplärren wollte sie nun auch nicht. Und hatte die Frau an der Kasse im Drogeriemarkt nicht gesagt, die Leute wären seltsam?
Als sie wieder zum Durchgang eilte und sich dort noch einmal kurz umsah, spähte der Mann in die gelbe Tonne. Er hatte doch gar nichts in der Hand gehalten? Wollte er kontrollieren, ob auch niemand etwas Falsches hineingeworfen hatte? Was ging ihn das an?
Nein, das war Quatsch, tadelte sie sich im Treppenhaus, Mülltrennung war schon wichtig. Und wenn sie jemanden sähe, der Plastikverpackungen in den Restmüll warf, würde sie doch auch was sagen, oder?
Auf jeden Fall waren die blöd. Und sie würde jetzt noch ein bisschen durch die Geschäfte bummeln, die sie noch nicht inspiziert hatte!
Selling war wirklich ganz nett, musste sie zugeben. Gut, der Optiker war (noch) uninteressant und der Jeansladen hatte grausiges Zeug im Fenster, aber der Haushaltswarenladen hatte ja gestern schon gezeigt, dass er viel zu bieten hatte. Der Supermarkt war gut sortiert; sie holte sich einen Napf Wurstsalat und zwei Brezen und ärgerte sich kurz, dass sie keine Tupperdose mitgenommen hatte, um Müll zu vermeiden.
Einen Wachszieher gab es hier auch? Waren die Leute hier so fromm (im Schaufenster gab es neben Kommunionskerzen auch Kruzifixe und Heiligenfiguren) oder fiel hier so oft der Strom aus? Kerzen in allen Größen, Farben und Verzierungen!
Als nächstes gab es Tierfutter, Wolle und Handarbeitskram, eine Apotheke (auch nicht schlecht), einen Pizzaservice, eine Videothek (dass so etwas noch Kunden anzog?), den Fahrradreparaturservice Garbrecht… oh, und in einer Nische einen richtigen Obstwagen! Wie hinter der Uni! Toll!
Sie kaufte sich Trauben und drei sehr verlockende Birnen und schlenderte gemütlich zurück. Morgen ein reines Obstfrühstück? Das war doch supergesund? Und dann zum IKEA…
Vor dem Haus standen zwei schwarze Mädchen, ein dunkelgrauer Mann und ein hellgrauer Mann und schienen sich erbittert zu streiten, jedenfalls schrieen sie sich an.
Amelie blieb einen Moment lang stehen, um ihren Schlüsselbund herauszukramen und die merkwürdigen Gestalten aus dem Augenwinkel zu beobachten, da wurde sie prompt angeschnauzt: „Gehen Sie gefälligst weiter!“
„Nein. Ich wohne hier. Streiten Sie sich doch gefälligst drinnen, wenn Sie Geheimnisse haben!“
„Werden Sie nicht unverschämt!“ Das war der Hellgraue.
„Ich hab doch nicht angefangen! Und ich wüsste nicht, warum Sie das Recht haben sollen, andere Leute schwach anzureden. Sind Sie vielleicht die Polizei? Und sogar da würde ich ein Mindestmaß an guten Manieren erwarten, solange ich mich nicht strafbar gemacht habe.“
„Wie reden Sie denn mit mir?“ Er trat etwas näher.
„Wie man in den Wald hineinruft…“
„Sie wissen wohl nicht, wer ich bin?“
„Einer von diesen Sektenfuzzis, sieht man doch!“
„Oh…!“ Er trat noch näher und Amelie verschwand hastig im Haus und drückte von innen die Tür zu.
Oben schlich sie auf ihren Balkon und linste verstohlen nach unten – die stritten sich schon wieder! Und der blöde Dunkelgraue ohrfeigte doch glatt eins der Mädchen, woraufhin der Hellgraue wiederum mit ihm zu streiten anfing.
Soweit war es bei denen mit Liebe, Harmonie und Entspannung also auch nicht her… Ohrfeigen gingen ja wohl gar nicht!
Das andere schwarzverkleidete Mädchen tat gar nichts, sondern stand nur mit demütig gesenktem Kopf daneben, sie tröstete nicht einmal ihre Glaubensschwester (konnte man dieses Wort hier wohl verwenden?), die ganz offensichtlich weinte – jedenfalls wischte sie sich immer wieder über die Augen.
Amelie verspürte eine starke Lust, den Mädchen zu raten, einfach wegzugehen. Das war doch wohl nicht wie ein Kloster – und auch dort konnte man doch sagen Ich will nicht mehr Nonne sein? Den Habit ablegen, nannte man das nicht so?
Sie würde sich jedenfalls nicht so schikanieren lassen, das war mal sicher!
Aber diese alberne Sekte konnte ihr ja wohl völlig gleichgültig sein. Viel wichtiger war die Frage, wie sie diesen Balkon einrichten sollte – Blumen? Passend zur Fassade? Einen gemütlichen Sessel und einen passenden Tisch? Aus dem Baumarkt? Oder auch von IKEA?
Morgen vielleicht…
Diese Sektentypen brauchen bestimmt nie Möbel, die hatten einfach jeder eine Matratze. Zumindest sah es bei Sekten, die im Fernsehen vorkamen, gerne so aus. Ach ja, und keinerlei Privatbesitz!
Und warum wohl diese Schwarzgrau-Töne? Gab´s da eigentlich auch einen, der weiß trug? Wie der Papst? Oder wie so ein Guru oder Swami oder wie immer man die Obersten da so nannte?
Sie wollte doch gar nicht mehr darüber nachdenken!
Lieber räumte sie ihre Wohnung jetzt endgültig auf – die Regale konnten noch übersichtlicher gestaltet werden, sie hatte noch nicht überlegt, wo sie die leider immer noch nicht völlig vermeidbaren Abfälle schön getrennt sammeln wollte und was sie am besten in den Flur stellen konnte.
Ganz kahl war ja auch nichts. Einen Garderobenständer vielleicht, einen wie aus den ganz alten James-Bond-Filmen? Und ein kleines Regal für Schuhe, Taschen, Schals und Handschuhe? In Körben versteckt. Und das kleine Regal so stabil, dass man sich zum Stiefelanziehen auch darauf setzen konnte. Genau, vielleicht noch mit einem Kissen darauf. Alles in – gelb?
Sie liebte Gelb eben und so schlecht passte es wirklich nicht zu Kiefernholz.
Am besten machte sie sich für morgen eine Liste.
Und in der Küche brauchte sie einen freien Unterschrank, wenigstens mit zwei Eimern oder so für Verpackungen und Altpapier. Restmüll müffelte einfach zu schnell!
Sie schaute in alle Unterschränke und entdeckte sogar zwei, in denen noch gar nichts stand. Und wenn sie sich im Haushaltswarenladen zwei passende Eimer holte, gelb und blau, am besten viereckig? Das würde sie jetzt machen!
Das klappte auch gut, es gab die passenden Eimer, die sich sogar ineinander stapeln ließen, und obendrein schön altmodische Garderobenständer in verschiedenen Farben, auch in Gelb, freundlicherweise zerlegt und in einem handlichen Karton verpackt. Fehlte bloß noch das Schuhregal, aber das gab es wirklich beim IKEA. Morgen eben.
Mit einer Tasche voller gestapelter Eimer in der einen Hand und dem Karton mit den Garderobenständerteilen in der anderen kam sie nach Hause zurück.
Himmel, da stand der Hellgraue schon wieder!
Sie reckte das Kinn, als sie blicklos an ihm vorbeizueilen versuchte, und war direkt erstaunt, als sie nicht beschimpft wurde.
Vielleicht hatte der Depp vom Obermotz einen Rüffel bekommen? Sie konnte es ihm nur wünschen. Wie wollten die hier unangefeindet leben, wenn sie die Nachbarn so dämlich von der Seite anquatschten?
War das der gleiche Hellgraue gewesen? Hatten die mehrere von der Sorte? Schwarze Mädels gab es doch auch mindestens zwei? Wie groß war diese Sekte wohl? Vielleicht noch im Aufbau begriffen? Wenn die weiter so krätzig unterwegs waren, würde sich mit Aufbau nicht mehr viel ergeben!
Sie aß ihren Wurstsalat und die Brezen – sehr lecker, das musste sie sich merken. Und über diese Deppen würde sie jetzt nicht mehr nachdenken, das war wirklich Zeitverschwendung. Verdienten die gar nicht.
Nach dem Wurstsalat gab es noch eine Birne und dabei schrieb sie sich eine Liste für morgen; zwischendurch grabbelte sie schnell einen kleinen Zeitungsstapel durch und entdeckte tatsächlich den IKEA-Katalog.
Gut, Sofas….
Wenn die bereit wären, am Dienstagabend zu liefern…? Das da sah nett aus, nicht zu wuchtig, gemütlich, solider Bezugsstoff – das musste sie aber noch live sehen, manches war dann in Echtzeit, Farbe und 3D doch eher schäbig…
Das Regal… da gab es eine Sitzbank mit offenen Fächern, recht nett. Den Abmessungen nach mussten diese Rattankörbe hineinpassen. Die hatten eine blöde Farbe, aber sie könnte sie ja gelb anpinseln. Morgen überprüfen… die Sitzbank konnte sie selbst transportieren und zusammenbauen.
Weitere Sofakissen, damit es so richtig gemütlich aussah.
Brauchte sie noch etwas für die Küche? Geschirr hatte sie, Besteck hatte sie auch, noch aus der Zeit vor der WG, Gläser? Gut, einen Satz vielleicht. Stapelbare natürlich. Sie schaute in den Kühlschrank: zwei, drei Tupperdosen, auch fürs Einkaufen? Ach, so was gab´s ja überall. Nein, im Moment fiel ihr nichts mehr ein.
So, und jetzt würde sie diesen Garderobenständer aufbauen! Sie schraubte alle Teile zusammen, bis die diversen Arme an der richtigen Stelle saßen und nichts mehr wackelte, dann stellte sie das gelbe Prachtstück in den Flur und hängte ihren grauen Regenmantel, ihr dunkelgraues Wolltuch und ihre schwarze Umhängetasche dran. Ja, das sah gut aus. Minimalistisch, aber nicht armselig. Für morgen brauchte sie auf jeden Fall noch ein Maßband, am besten warf sie es gleich in die Tasche…
Damit war sie für den Samstag doch schon gut gerüstet, also konnte sie jetzt noch etwas fernsehen?
Weit kam sie im Freitagskrimi nicht, denn Mama rief an, erkundigte sich nach der neuen Wohnung, lobte das schwarz-weiß-gelbe Farbkonzept und fand die Sekte bedenklich.
„Ach, Mama, wenn mich die Leute ködern wollen, müssen sie noch ganz schön üben! Bis jetzt hat mich nur einer angepflaumt. Nix mit Gehirn richtig nutzen und Persönlichkeitstests. Und wenn die sich auf offener Straße zanken, kommt sowas wie Harmonie und Einssein mit dem Universum auch gar nicht gut rüber.“
„Du hast den Wortschatz ja schon gut drauf!“, staunte ihre Mutter.
„Gell? Und dabei kenne ich sowas nur aus Krimis oder aus dem Fernsehen. Aber die anderen Nachbarn sind harmlos, denke ich, ich hab aber noch gar nicht alle gesehen. Wie geht´s euch denn?“
Ihre Mutter berichtete vom Garten, was Amelie leicht wegdriften ließ, aber dann wurde es interessanter: „Und der Jakob hat jetzt eine Freundin, glaube ich!“
„Na endlich“, kommentierte Amelie. „Wie ist die so?“
„Er hat sie noch nicht mitgebracht. Aber er hat sich die Haare schneiden lassen und achte etwas darauf, wie er sich anzieht. Und saubere Fingernägel!“
„Das könnte auch bedeuten, dass er einen Job an Land gezogen hat, wo er etwas gepflegter auftreten muss“, gab Amelie zu bedenken, die ihren kleinen Bruder schließlich kannte.
„Und was sollte das wohl sein?“
„Na, solche Agenturen wie unsere gibt´s doch wie Sand am Meer! Werbung, Literatur, PR, Online-Services. Und bei den meisten – also, außer IT-Diensten – darf man nicht zu abgewrackt daherkommen. Wenn die einigermaßen gut zahlen, könnte Jakob schon sein Lieblingsoutfit einmal opfern, meinst du nicht?“
Ihre Mutter gab einen bedauernden Laut von sich. „Ich fürchte, du hast Recht. Er steht nämlich auch viel früher auf als sonst. Schade, ich hab wirklich gehofft…“
„Warum eigentlich?“
„Was?“
„Warum hoffst du denn, Mama? Wovor hast du Angst?“
„Ich habe doch keine Angst!“, behauptete ihre Mutter und Amelie kicherte. „Hast du wohl! Du möchtest nicht, dass dein Sohn eine besondere Art der Sexualität hat, stimmt´s? Er soll nicht mit einem Freund nach Hause kommen oder lieber ganz alleine bleiben?“
„So wie du, Amy?“
„Also, ich bin nicht asexuell. Ich lerne nur immer irgendwelche Idioten kennen und auf Frauen stehe ich leider nicht, da gäbe es bestimmt interessantere Optionen. Lass den Jakob doch einfach in Ruhe. Wenn er weiß, dass wir alle seine Orientierung akzeptieren, kann er sich doch für das entscheiden, was ihm wirklich liegt?“
„Ja, du hast ja Recht“, gab ihre Mutter etwas kleinlaut, aber zugleich unzufrieden zu und wechselte, wie es ihre Gewohnheit war, umgehend das Thema: „Wann kommst du denn mal wieder vorbei?“
„Nächstes Wochenende vielleicht. Morgen muss ich erstmal zum IKEA und dann muss hier alles fertigwerden.“
Dann war das nächste Wochenende schon wieder verplant, aber eigentlich war es bei Mama ganz nett. Vielleicht konnte man schwimmen gehen? So arg weit wohnte sie ja vom Feldafinger Strandbad auch nicht weg… Badeanzug einpacken, machte sie sich im Geiste eine Notiz.
Vielleicht hatte sie bis dahin ja auch eine spannende neue Geschichte über die Spinner aus dem Erdgeschoss?