Читать книгу Nachbarschaft mit kleinen Fehlern - Elisa Scheer - Страница 5
3 Donnerstag
ОглавлениеUm acht stand sie wieder in ihrem alten WG-Zimmer, nahm die Bretter aus den Regalen, steckte die Haltestifte ein, zerlegte den Schrank, soweit sie das alleine fertigbrachte, und stopfte die letzten herumliegenden Kleinigkeiten in eine Tragetasche. Auf dem Gang wurde es lauter, dann läutete es. Basti und Rieke? Nein, eine fremde Stimme – oh, das musste diese Neue sein, ihre Nachmieterin, Inge? Inga?
Sie schaute in den Flur – tatsächlich; Inga und ein recht gutaussehender Mann trugen richtige Umzugskisten herein und stapelten sie im Flur auf. Inga sah auf: „Du bist noch gar nicht weg?“
„Meine Freunde kommen um neun und helfen mir mit den großen Stücken, der Rest ist schon drüben“, antwortete Amelie unwirsch. „Ich dachte, wir hätten neun ausgemacht?“
„Ich dachte, wir könnten schon früher kommen. Das Zimmer ist aber schon geputzt?“
„Durchsaugen kann ich erst, wenn Bett und Schrank draußen sind, ansonsten ist geputzt. Ich kann die beiden Regale nach draußen tun, aber dann kommt niemand mehr durch den Flur.“
Glücklicherweise kam Beate aus dem Bad und bat Inga und ihren Macker, doch bitte den Rest im Treppenhaus eng an die Wand zu stellen. „Ihr steigt doch auch nicht in den Bus, bevor die anderen Leute ausgestiegen sind?“
„Ich muss zur Arbeit“, grummelte der Mann, der sich nicht mal vorgestellt oder wenigstens die anderen begrüßt hatte. „Wie lange dauert das denn noch?“
„Hab ich doch gerade gesagt, meine Freunde kommen um neun. Jetzt ist es zwanzig nach acht. Taschenrechner ist leider schon drüben.“
„Ganz schön pampig.“
„Wie man in den Wald hineinruft… ich kann nichts dafür, dass ihr zu früh dran seid. Hättet ihr vorher gefragt, hätte ich vielleicht Basti und Rieke auch vorverlegen können.“ Amelie zerrte das erste Regal in den Flur und alles andere, soweit sie konnte, zur Tür, so dass sie den Bereich am Fenster schon einmal absaugen konnte.
„So, Sie könnten die Kisten schon mal vors Fenster stellen.“
„Wozu? Dann ist es drinnen doch dunkel?“
Sie rollte deutlich mit den Augen. „Da hängt doch eine Lampe! Und wenn Sie die Kisten reintragen, ist hier draußen wieder mehr Platz, also könnte ich noch mehr von meinem Kram in den Flur stellen und wieder ein Stück saugen. Sie haben es doch so eilig!“
Der Typ murmelte etwas von Studenten und eh nichts zu tun und keine Struktur.
„Was heißt hier keine Struktur? Wir hatten neun Uhr vereinbart, was kann denn ich dafür, wenn Sie zu früh auftauchen!“
Diese Inga wirkte etwas peinlich berührt, aber Amelie hatte jetzt keine Lust, zu überlegen, was genau ihr peinlich war, das WG-Zimmer oder ihr Macker. Sie wenigstens machte sich daran, Kiste für Kiste ins Zimmer zu tragen; im Gegenzug zog Amelie das zweite Regal nach draußen und wuchtete das Bett schon mal auf die Seite. Zu zweit mit Inga schaffte sie auch das Bett nach draußen – und da tauchten auch schon Bastian und Rieke auf und übernahmen das Bett. Inga blöder Begleiter murmelte nach einem Blick auf Rieke etwas von Mannweib und Amelie verkniff es sich mit Mühe, Inga zu fragen, woher sie diesen Deppen bloß hatte.
Im Handumdrehen waren sie zurück und zerlegten den Schrank zu zweit in seine Einzelteile. Amelie saugte den Rest. „Also bitte schön! Das Fenster ist geputzt, der Boden ist gesaugt, und die Wände hab ich erst letztes Jahr gestrichen.“
„Das sollte man eigentlich beim Mieterwechsel machen“, moserte Ingas komischer Freund.
„Nein, muss man nicht“, fand Rieke, einen Stapel Schrankbretter lässig unter dem Arm, „Amelie hat beim Einzug gestrichen und letztes Jahr nochmal, das reicht ja wohl.“ Sie musterte die zierliche, blonde Inga etwas abschätzig und fuhr fort: „Wenn du rosa Wände und Einhörner willst, musst du selbst zur Rolle greifen.“
Inga kicherte. „Also, zehn bin ich nun schon länger nicht mehr. Das Zimmer ist völlig okay.“ Sie stellte weitere Kisten vor das Fenster und sah ihren Begleiter auffordernd an.
„Was ist?“, fragte er.
„Die Möbel müssen noch rauf“, erinnerte sie ihn.
In Anwesenheit von Beate übergab Amelie die Schlüssel und wünschte ihrer Nachmieterin dann viel Glück im neuen Heim.
Im Dortmunder Weg mussten sie halb auf dem Bürgersteig parken, was natürlich den Greifenklau, der überwachend aus dem Fenster hing, schon wieder aufregte.
„Noch will ja hier keiner vorbei!“, rief Amelie unwirsch nach oben. „Und wenn wir jetzt keine Zeit verplempern müssen, sind wir auch gleich wieder fertig!“
Sie schnappte sich einige Regalbretter und eilte nach oben, um die Tür aufzusperren. Einige Momente später schwankten ihre Freunde mit dem Bett herein und stellten es weisungsgemäß ins Schlafzimmer; Amelie hatte, um das Parkett zu schonen, kaum Filzgleiter unter die Beine geklebt, als auch schon die ersten Schrankteile und ein Stuhl auftauchten.
Sie arbeiteten etwa eine halbe Stunde lang, dann stand alles oben, sogar so etwa an der richtigen Stelle, und der Schrankkorpus war perfekt zusammengesetzt, besser als zuvor, als Amelie den alten Schrank alleine hatte aufbauen müssen.
Amelie umarmte beide und lud sie zum Essen ein; Rieke wünschte sich den Kaiserpalast, aber lieber erst abends. Bastian grinste. „Ich glaube auch nicht, dass die Frühstück anbieten. Es ist gerade mal zwanzig vor zehn! Komm, wir bringen den Transporter weg, ich muss noch ein Referat machen.“
Rieke musste auch zur Arbeit, also winkte Amelie ihnen dankbar nach und wandte sich zurück zur Haustür. Greifenklau hing immer noch - oder schon wieder - aus dem Fenster und sie gestikulierte mit weit ausgebreiteten Armen, um zu zeigen, dass doch wohl alles fristgerecht verräumt worden war.
Greifenklau knallte entrüstet sein Fenster zu; Amelie grinste und eilte nach oben, wo sie sich erst einmal ratlos umsah: Wo sollte sie denn da anfangen?
Außerdem brauchte sie jetzt wohl ein Sofa, wo doch das Bett im anderen Zimmer stand… nicht so eilig, zunächst konnte sie ja den Klappsessel verwenden!
Wo kamen die Regale hin?
Also platzierte sie erst einmal den Klappsessel und überlegte.
Hm… das Sofa dann etwa hierhin, die Regale an die nächste Wand, für eventuelles Binge Watching? Es gab ja wirklich tolle Serien zurzeit!
Gut, die Regale also hier an die Wand…
Als alle Bücher, Ordner und Filme einsortiert waren, sah sie auf die Uhr. Halb zwei, gar nicht so schlecht.
Genau, sie würde jetzt ihre Klamotten in den Schrank sortieren und sich danach vielleicht zu IKEA aufmachen. Ein Sofa – das musste sie aber liefern lassen. Oder so ein leichtes, womöglich mit Schlaffunktion?
Dann hätte sie hier Betten für vier Personen, dabei wollte doch eh nie jemand bei ihr übernachten!
Obwohl, jetzt hatte sie ja eine richtige Wohnung, hier musste man sich morgens nicht von den Mitbewohnern misstrauisch anschauen lassen. Andererseits kannte sie überhaupt niemanden, der lieber hier schlafen wollte als bei sich zu Hause! Schließlich war Leisenberg ein besseres Kaff und Leute von außerhalb kannte sie doch gar nicht.
Was für sinnlose Gedanken sie sich gerade machte – auch wenn das schönste und leichteste Sofa ausklappbar war, musste sie es doch nicht ausklappen, oder? Der Schlafsessel war hellgrau. Wenn das Sofa dunkelgrau wäre – ein paar Kissen in Gelb?
Die Regale und der große Tisch waren aus Kiefernholz, passte Gelb dazu? Kiefer und grau – Kissen in Schwarzweiß? In Orange? In Rosa? Uäh, keinesfalls rosa. Das ließ sie wieder an Inga mit dem albernen Freund denken. Ob die wohl schon fertig eingerichtet war?
Was ging es sie an!
Zweimal schwarzweiß und zweimal – gelb! Basta. Orange war viel zu sehr Siebziger Jahre. Mama hatte noch haufenweise Küchengeräte in Orange, unter anderem einen Küchenquirl von Neckermann, einer Marke, von der Amelie noch nie etwas gehört hatte.
Also kein Orange, sondern ein einigermaßen helles Gelb, nicht gerade dotterfarben!
Und sonst?
Eigentlich reichte das für heute. Heute war Donnerstag, morgen würde sie wieder arbeiten und am Samstag konnte sie wirklich mal zu Ikea fahren, wenn es notwendig war. Keinen Schotter anhäufen!
Und was war jetzt in dieser Kiste?
Sofakissen! Gelb, blau, rot, grün. Die hatten auf ihrem Bett gelegen, auf der grauen Tagesdecke.
Die Tagesdecke fand sich auch in der Kiste, sie wanderte umgehend gefaltet in den Schlafzimmerschrank. Dann brauchte sie nachher zwar neue Bezüge, aber eigentlich keine Kissen mehr.
Auf ihren kleinen Balkon zur Straße hinaus schien noch die Nachmittagssonne, also zog sie die quietschbunten Bezüge ab – auch noch aus grobem Cord, was hatte sie sich nur dabei gedacht? – und schleppte einen ihrer Stühle auf den Balkon, um die Kissen darauf in der Sonne auszulegen.
Gut so! In der Kiste fanden sich noch einige Bücher, die sie irgendwie in die Regale stopfte, ihre Teekanne, in Geschirrtücher gewickelt (intelligentes und übersichtliches Packen sah anders aus) und eine gelb-weiß gestreifte Schachtel, in der sich Spielkarten, Würfel und vier Teelichthalter befanden.
Schachtel ins Regal, Teekanne in die Küche, Geschirrtücher gefaltet in einen Küchenschrank, eins davon an den Haken neben der Spüle, Kiste zusammengefaltet in den Flur.
Flur! Der war bis auf einen Packen gefalteter Kisten noch ganz leer – Kunststück, bis jetzt hatte sie solche Haken gehabt, die man oben über die Tür hängte – aber auf die Innenseite!
Wenn sie an IKEA dachte, verlor sie schon wieder die Lust. Ach, sie würde jetzt eine Pause machen, ein wenig einkaufen und mal sehen, ob es nicht nette Geschäfte hier in der Gegend gab. Wenn sie vom Dortmunder Weg nach Norden ging, kam dann nicht die Düsseldorfer Straße? Oder sollte sie zuerst einmal den Wupperweg inspizieren?
Am besten beides.
Sie befestigte das Frotteeband um ihren Pferdeschwanz wieder richtig, griff sich Tasche, Geld und Schlüssel und verließ ihr neues Heim. Vielleicht sollte sie auch einmal schauen, welcher Kellerverschlag der ihre war?
Genau, das kam zuerst! Sie sprang die zwei Treppen hinunter, merkte sich vor, dass sie ein ordentliches Schildchen für Briefkasten, Klingelschild und Wohnungstür machen musste, und lief die Kellertreppe, die nicht ganz so schön mit graugesprenkeltem Stein ausgelegt war, etwas vorsichtiger hinunter. Hm… ein warmer quadratischer Raum mit nacktem Estrich, im Hintergrund eine graue Stahltür und ansonsten rundherum Kellerverschläge – und zwei standen offen. In einem von ihnen räumte jemand herum und sie trat näher. Eine Frau in mittleren Jahren, vielleicht fünfzig, sammelte Kram in eine Mülltüte.
„Hallo?“
Die Frau drehte sich um. „Grüß Gott?“
„Ja, Grüß Gott. Ich bin Amelie Preuß und hab die Wohnung von der Frau Holnbeck gemietet.“
„Ach, die san Sie? Sie san erst gestern Morgen eingezogen, gell?“
„Stimmt. Und jetzt weiß ich gar nicht, welcher Keller meiner ist… ich tippe mal auf den neben Ihrem, weil er offensteht?“
„Gut geraten. Ham´S den Greifenklau schon kennengelernt?“
„Oh ja. Er denkt, ich sei Studentin und würde hier dauernd demonstrieren und kiffen. In ganz altmodischen Worten.“
Die Frau kicherte und streckte die Hand aus. „Roswitha Hörl. Der Greifenklau ist harmlos, aber schon recht - naja – alt. Und was tun Sie beruflich?“
„Ich arbeite in einer Literaturagentur.“
„Was macht man da denn?“
„Wir beraten Schriftsteller und suchen den richtigen Verlag für sie.“
„Ja, können´S denn des?“
„Schon. Ich hab Germanistik studiert. Macht viel Spaß, aber heute hab ich frei, wegen des Umzugs.“
Frau Hörl nickte. „Sie werden ein Schloss brauchen, gell? Richtung Düsseldorfer gibt´s einen kleinen Haushaltswarenladen.“
„Super. Ich wollte eh grad schauen, was es hier alles gibt. Lokal einkaufen, gell?“
„Lokal? Wollen Sie essen gehen?“
„Nein, das hab ich jetzt nicht gemeint. Lokal nur im Sinne von „vor Ort“. Besser hier einkaufen als in der Stadt.“
„Gscheit. Na, viel Spaß dabei!“
„Und vielen Dank für den Tipp!“
Also, dann diesen Haushaltswarenladen zuerst! Unterwegs sah sie den Schreibwarenladen, der auch Poststelle und Paketshop zu bieten hatte, wenn man den Aufklebern an der Tür glauben konnte, ein recht spießiges Klamottengeschäft, das man getrost ignorieren konnte, und ein Handarbeitsparadies. Vielleicht irgendwann nicht uninteressant. Schließlich kam der Haushaltswarenladen in Sicht: unglaublich volle vier Schaufenster – der schien ja alles zu haben, was man sich nur vorstellen konnte!
Drinnen sah sie sich fasziniert um; schließlich eilte ein Verkäufer im traditionell grauen Kittel herbei und fragte nach ihren Wünschen.
„Ein Vorhängeschloss? Da haben wir eine schöne Auswahl!“
Tatsächlich, alle Größen, mehrere Farben, mit Schlüssel oder mit Zahlencode. Amelie nahm ein mittelgroßes in Dottergelb mit Schlüssel (sie konnte sich ihre sonstigen PINs und Passwörter ja schon kaum merken!) und kündigte an, sich noch ein bisschen umsehen zu wollen. Der Verkäufer reichte ihr ein Körbchen und legte den Blister mit dem Schloss hinein. „Dann viel Vergnügen!“
Faszinierend, was es hier alles gab – eher Kaufrausch als nachhaltiger Konsum.
Aber schauen musste sie doch.
Ofenhandschuhe! In Gelb und Grau? Die Küchenschränke waren schlicht weiß, dazu passte ja alles. Und wenn sie sich auf Schwarz, Weiß, Grau und Gelbtöne beschränkte, war das Wäschesortieren auch einfacher. Gut, und rosa Klamotten hatte sie natürlich auch.
Geschirrtücher? Oh, ein Dreierpack in Gelb-Grau gestreift, kariert und gezackt? Halbleinen, nicht ganz billig, aber mit Biosiegel, fair trade? Das Siegel kannte sie zwar nicht, aber die Handtücher waren so hübsch…
Ob die wohl auch Kissenbezüge hatten?
Tatsächlich, einen großen Drahtkorb voll, aber viele waren gruselig gemustert. Sie entdeckte einen witzigen in Schwarzweiß und einen in einem schönen zarten Gelbton. Den Rest würde sie wohl anderswo finden.
Einen Kochlöffel, einen Pfannenwender.
Das reichte erst einmal, also eilte sie zur Kasse.
In der Düsseldorfer Straße gab es auch einen Supermarkt, wo sie sich mit dem Nötigsten eindeckte und dann erst einmal alles nach Hause schleppte, den Kühlschrank putzte, zwei Kissen bezog und hübsch auf dem Klappsessel arrangierte und alles Übrige verräumte oder aufhängte.
Gut so - für den Beginn. Und der Fernseher war auch schon ans Kabel angeschlossen.
Bei IKEA brauchte sie nicht nur ein anständiges Sofa – der freie Platz schrie förmlich danach! – sondern auch ein, zwei Kellerregale. Irgendwas Leichtes. Das hätten die in dem Haushaltswarenladen vielleicht auch gehabt, aber ohne Auto? Am Samstag vielleicht; jetzt hatte sie keine Lust mehr.
Sie druckte sich die passenden Schildchen für den Briefkasten und die Wohnungstür und ein provisorisches für die Klingeltafel aus und friemelte sie in die Halterungen. Damit war sie doch angekommen, oder?
Eine Frau, jünger als die Frau Hörl aus dem Keller, schloss die Haustür auf, als Amelie noch mit der Briefkastentür kämpfte. „Wer sind Sie denn?“, fragte sie misstrauisch.
Amelie stellte sich artig vor und erfuhr, dass sie vor Frau Schmalzl stand. Sie musste lachen und Frau Schmalzl kniff sofort die Augen zusammen: „Was ist jetzt da so witzig?“
„Na, die Frau Hörl und Sie, Sie haben so schöne bayerischen Namen – und da komme ich und heiße Preuß, das passt eigentlich gar nicht, oder?“
Als Antwort erhielt sie nur einen vage zustimmenden Laut, dann stieg Frau Schmalzl, die ungefähr so alt sein musste wie sie selbst, aber viel schicker aufgemacht, entschlossen die Treppe hinauf.
Dann kannte sie jetzt doch alle außer dem Paar neben ihrer Wohnung. Und wer wohnte über ihr im dritten Stock? Da fehlte draußen ein Klingelschild.