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ОглавлениеWerner schnarchte leise neben mir, als ich am Samstag aufwachte, er hatte sich offenbar wirklich den Nachtfilm auch noch gegeben. Dann musste er doch langsam allergische Reaktionen gegen Seismografen, Killerviren und Autoverfolgungsjagden zeigen?
Ich schlich mich aus dem Bett, um ihn nicht zu wecken, duschte, zog mich an, räumte im Wohnzimmer etwas auf und setzte mich dann an meinen Rechner, um die neue Steuersoftware auszuprobieren. Ich hatte schon fast die halbe Steuererklärung fertig, als ich Werner ins Bad schlurfen hörte. Schnell bereitete ich das Frühstück vor – was, schon halb elf?
„Ich könnte heute mal zu Brides und Brautmoden Schöpperle gucken“, schlug ich vor und hoffte, Werner würde so begeistert reagieren, wie es dieses opfervolle Angebot verdiente. Nein, er grunzte und angelte nach der Wochenendzeitung.
„Sag mal, redest du eigentlich noch mit mir?“, fragte ich schließlich gereizt.
Er ließ die Zeitung wieder sinken. „Was hast du denn?“
„Seit gestern Abend hast du nur Grunzlaute von dir gegeben! Ist es dir Recht, wenn ich in die Stadt gehe und nach einem Brautkleid schaue?“
„Wenn du Lust hast? Dass Frauen immer Klamotten kaufen müssen...“
„Jetzt reicht´s aber!“, schrie ich wutentbrannt. „Glaubst du, ich bin scharf drauf, mir so einen unnützen Fetzen zu kaufen? Ich tu´s, damit dein Onkel Josef nicht meckern kann!“
„Schrei nicht so hysterisch rum. Du weißt doch, dass du ein Brautkleid brauchst, jetzt finde dich doch endlich damit ab.“
„Und was ist mit deinem Anzug?“, fragte ich mühsam beherrscht.
„Was soll sein? Ich nehme meinen Smoking, der ist noch fast neu.“
Das Leben war unfair! Ich hätte auch gerne irgendein fast neues kleines Schwarzes verwendet und mir für das gesparte Geld etwas wirklich Nettes gekauft. „Gut, dann nehme ich nichts zu Aufwendiges“, antwortete ich nur. Keine Antwort. „Warum bist du so wortkarg?“, versuchte ich es noch einmal.
„Ich bin nicht wortkarg“, erklang es hinter der Zeitung. „Ich wusste nicht, dass du darauf eine Antwort wolltest.“
Dafür hätte er eigentlich heißen Kaffee über den Kopf kriegen müssen; ich bezähmte mich mit letzter Kraft und stand auf. „Dann geh ich jetzt mal. Kannst du bitte den Tisch abräumen, wenn du fertig bist?“
„Mhm.“
Auf dem Weg in die Stadt wütete ich vor mich hin und nahm einem Kerl, der Werner ziemlich ähnlich sah, mit Genuss die Vorfahrt. Unglaublich, als ob ich vor Gier sabberte, wenn es darum ging, so einen albernen Lappen zu besorgen. Und wir hatten noch kein Restaurant, keinen Notartermin (wir kannten ja nicht einmal einen Notar), kein Gespräch mit dem Pfarrer, keine Anmeldung beim Standesamt, kein gar nichts. Werner warf mir immer vor, dass ich mauerte, rührte selbst aber auch keinen Finger! Dann lassen wir es doch einfach, murrte ich vor mich hin und stellte den Wagen in die Marktgarage. Als ich aus dem Aufzug trat, landete ich fast direkt vor den Schaufenstern von Schöpperle und begann damit, sie zu inspizieren. Grausig!
Nummer eins: eine schulterfreie, mit irisierenden Pailletten bestickte Corsage, darunter ein weiter Tüllrock wie bei einer Ballerina im 19. Jahrhundert. Und die Corsage war so knackig eng, dass man wahrscheinlich ein Schnürmieder darunter tragen musste. Wenn ich schon soviel Geld für ein Hochzeitsessen ausgeben musste, wollte ich selbst auch etwas essen, ohne dass ich aus dem Kleid platzte! Außerdem brauchte man für eine solche Corsage einen üppigeren Busen, als ich ihn aufzuweisen hatte.
Die Puppe daneben guckte arrogant über mich hinweg und hielt einen Arm geziert in die Luft. Dazu hatte sie wirklich keinen Grund, nicht mit diesem Kleid! Offenbar bestand es aus reiner Kunstfaser, jedenfalls glänzte es so penetrant wie ganz altmodische Kunstseide, in einem Weiß, von dem man schneeblind werden konnte. Der Schnitt – Wiener Nähte, leicht ausgestellter Rock und vom runden Ausschnitt herabfallend ein üppiger Rüschenkragen aus Maschinenspitze – war ideal für eine Braut, die sich mit der Hochzeit beeilen musste, damit die Wehen nicht schon vor dem Altar einsetzten. Nein, ich hatte keinen Babybauch zu kaschieren, aber ich hatte auch keine Sanduhrfigur aufzuweisen, und normalerweise war ich ganz froh darum. In kleine Jeans und schmale Kostüme zu passen, war mir wichtiger als eng zugezurrte Gürtel.
Nächstes Fenster! Elfenbeinfarbene Spitze von oben bis unten. Schöne Spitze, aber das Ganze sah aus wie ein Nachthemd – und war es nicht auch ein bisschen durchsichtig? Außerdem wirkte die Spitze vergilbt. Nein, lieber nicht. Hoppla! Seidentaft, eng geschnitten, hochgeschlossen, der bodenlange Rock so schmal, dass man darin nur trippeln konnte. Stil etwa von 1890, schätzte ich. Der Stoff war schön, ich hatte noch nie weißen Moirétaft gesehen, der so intensiv changierte. Ich verrenkte mir den Hals und entdeckte schnell den Pferdefuß: einen veritablen Cul de Paris, geziert mit einer riesigen Taftschleife. Im Profil musste man so aussehen wie eine Kropftaube, wenn man die Oberweite noch etwas ausstopfte. Danke bestens!
Das nächste war über einem Reifrock zu tragen, der Rock über und über mit üppigsten Draperien besetzt. Ich sah schon richtig, wie sich der Staub darin fing! Und die alberne Perlenstickerei auf dem Oberteil!
Eigentlich waren weiße Kleider immer scheußlich, und die hier waren besonders überladen, Rüschen, Spitzen, Perlen, Pailletten und dazu langweilige Schnitte. Nichts gegen schöne Kleider, ich konnte lange in meinen Lieblingsgeschäften verweilen und für wirklich schöne Kleidung (meistens Kostüme) auch stolze Summen hinblättern, aber doch nicht für diese Raffgardinen!
In den anderen Fenstern hingen nur noch Ballkleider. Seufzend betrat ich den Laden, vielleicht hatten sie drin ja schönere Sachen? Der Laden war völlig leer, an den Wänden bauschten sich weite weiße Röcke aus allen geeigneten und ungeeigneten Materialien. Eine Dame, anders konnte man es nicht nennen, schwebte aus dem Hintergrund auf mich zu, ganz in Schwarz, ein Maßband um den Hals.
„Womit kann ich Ihnen helfen?“
„Ich wollte mich nur mal nach Brautkleidern umsehen“, erläuterte ich zaghaft.
„Aber gerne. Woran hatten Sie denn so gedacht?“
„Ich bin mir nicht ganz sicher“, gab ich zu, „aber wahrscheinlich an etwas möglichst Schlichtes. Ohne Rüschen und so Zeug.“ Das hätte ich damenhafter formulieren können, merkte ich, als ich da, wie die vornehme Verkäuferin leicht einen Mundwinkel kräuselte. „Schlicht... gut. Und wann wollen Sie heiraten – im Sommer, im Herbst oder im Winter? Wegen des Materials, meine ich?“
„Mitte Juni“, gab ich lustlos Auskunft.
„Oh, das wird aber knapp, wenn man an die Änderungen denkt... Haben Sie sich erst kürzlich umentschlossen?“
„Nein, das ganze Problem verdrängt“, gestand ich ohne nachzudenken.
Darauf antwortete sie gar nichts, sondern schob eine Holztür beiseite und nahm einige Kleider heraus, die sie an einen fahrbaren Ständer hängte. Eins sah nicht so übel aus, glatte weiße Seide mit einem leichten rosa Stich, fast schulterfrei, mit Ausnahme der Spaghettiträger, aber dann sah ich, dass der Saum asymmetrisch geschnitten war, links war das Kleid bodenlang, rechts aber kniekurz. So was hatte ich immer schon dämlich gefunden. Ich schüttelte den Kopf und wandte mich dem nächsten zu. Hochgeschlossen, enger, bestickter Stehkragen, tausend Knöpfchen auf dem Rücken. Mit diesem Kleid musste ich ja schon am Vorabend mit dem feierlichen Ankleiden beginnen!
Ich achtete, nachdem ich die misstrauischen Blicke registriert hatte, sorgfältig darauf, nur die Bügel anzufassen und ja nicht die kostbaren Stoffe, aber eins war seltsamer als das andere.
„Tja, ich fürchte, das ist alles nicht das Richtige“, bedauerte ich und wollte mich erleichtert wieder davonmachen, aber Mylady hielt mich auf. „Warten Sie doch, wir haben sicher noch etwas Geeigneteres. Sagen Sie mir doch genauer, was Sie wünschen!“
„Schlicht eben, das heißt, ohne Schnickschnack, keine Verzierungen, keine bemüht witzigen Schnitte und nichts Historisches.“
„Hm, das ist wirklich nicht einfach. Wissen Sie, die meisten Bräute möchten an ihrem schönsten Tag auch prunkvoll gekleidet sein, die Schönste von allen sein.“ Gute Verkaufsmasche, aber nicht, wenn die fragliche Braut diesen Tag nicht als den schönsten empfindet. Ich wollte eigentlich ein Kleid, mit dem man mir nichts vorwerfen konnte und mit dem ich möglichst billig davonkam. Von diesem sentimentalen Gewäsch hielt ich nichts. Sie brachte ein Kostüm aus weißem Brokat, kurzes Jäckchen mit Puffärmeln und extra langen Manschetten mit Reihen von Perlknöpfchen, der Rock bodenlang und weit. Schlicht? In diesen steifen Brokatfalten? Sogar Silberfäden waren in den Stoff eingewebt!
„Tut mir Leid, aber das ist alles nicht das Richtige!“ Ich floh, bevor sie mir noch weiter zusetzen konnte. Sollte ich noch zu Brides gehen? Lustigere Kleider hatten die bestimmt, aber eigentlich reichte es mir schon wieder.
Ich stand gerade vor dem Schaufenster von Bits&Bytes und betete einen irrsinnig tollen Laptop an, als neben mir eine Stimme fragte: „Lena?“
Lena hatte ich nur während des Studiums geheißen, bei einigen Leuten wenigstens, denen Leni zu bäuerlich und Hélène zu affektiert war. Ich drehte den Kopf. „Beate! Dich wollte ich sowieso dieser Tage mal anrufen. Toll, dass ich dich treffe.“
„Warum wolltest du denn anrufen?“
„Nur so, mal wieder Kontakte auffrischen, weggehen oder so.“
„Wir gehen nicht mehr weg“, versetzte Beate und guckte verdächtig ideologisch drein, „aber ihr könnt gerne mal zu uns kommen.“
„Ja, oder ihr zu uns. Wieso geht ihr nicht mehr weg? Habt ihr ein Baby?“
„Um Gottes Willen, nein! In diese Welt kann man doch keine Kinder mehr setzen, alles ist verseucht. Und leisten können wir uns das auch nicht.“ Klassenbewusstes Proletariat? Ökoterroristen? Arbeitslos? Dem musste ich auf den Grund gehen! Äußerer Eindruck: Beate hatte sich die Haare offensichtlich selbst geschnitten, dabei aber wenig Sinn für Symmetrie bewiesen. Asymmetrisch war der Schnitt auch nicht, nur schief. Der selbst gestrickte Pullover aus ungefärbter Wolle war ausgeleiert und für die Jahreszeit viel zu warm, sie musste entsetzlich schwitzen. Und die Flatterhose aus dünner Baumwolle (Typ Gummizugbund) passte farblich nicht dazu und war zu kurz, aber das war bei diesen Hosen normal, die billige Baumwolle lief bei der ersten Wäsche gewaltig ein, und zwar nur in der Länge. Dazu Birkenstocklatschen und keine Strümpfe, die Fußnägel unlackiert und ein bisschen zu lang. Die Fingernägel waren dafür abgekaut. In der Hand trug sie eine Jutetasche. Ziemlich typisch, fast schon klischeehaft. Werner hatte Recht gehabt: billig und schadstofffrei. Lobenswert, aber vielleicht nervend. „Warum geht ihr denn nun nicht mehr weg? Wir haben in letzter Zeit auch nichts mehr auf die Reihe gekriegt, aber das würde ich gerne mal wieder ändern.“
„Wenn du weggehst, musst du etwas trinken und essen. Das kostet einen Haufen Geld, vor allem jetzt mit dem Euro, und dafür fährst du bloß jede Menge Schadstoffe ein, Pestizide, Fungizide, Farbstoffe, Konservierungsmittel, du weißt nicht, ob das Gemüse biologisch-dynamisch angebaut wurde, und wenn du ganz großes Pech hast, musst du anderen Leuten beim Kannibalismus zuschauen.“
„Na! Kannibalismus? Wo gibt´s denn hier Menschenfleisch?“
„Tierfleisch zu essen ist auch Kannibalismus“, behauptete Beate. Was für ein Blödsinn, aber mit manchen Leuten konnte man eben nicht diskutieren.
„Deshalb laden wir Leute nur noch zu uns ein, da wissen wir, was wir eingekauft und gekocht haben.“
„Ich kann euch doch auch sagen, wo ich was besorgt und wie ich es zubereitet habe“, bot ich an.
„Nein, du siehst mir nicht so aus, als achtest du auf die wirklich wichtigen Dinge. Außerdem haben wir kein Auto und auch kein Geld, dauernd mit der U-Bahn herumzugurken. Ihr könnte euch das eher leisten, wahrscheinlich habt ihr sogar noch ein Auto, oder?“
Ich nickte feige. Dass wir zwei hatten, würde mir jetzt wahrscheinlich ökologisch korrekte Prügel einbringen.
„Wieso habt ihr kein Geld für ein U-Bahn-Ticket? Was macht ihr beide denn jetzt? Ich dachte, Theo wollte Lehrer werden? Und du hast doch auch BWL gemacht?“
„Ich hab abgebrochen, als ich die Strukturen durchschaut hatte.“
Ich guckte anscheinend so erklärungsheischend, dass Beate unverzüglich fortfuhr: „Wenn man nur ein bisschen Durchblick hat, erkennt man doch sofort, dass BWL nur der Verfestigung des herrschenden Kapitalismus dient, die multinationalen Konzerne werden in ihrer Übermacht gestärkt und alle kleinen, autonomen Strukturen haben keine Chance.“
„Stimmt schon, aber es ist ja nicht so, dass es irgendeine funktionierende Alternative zum Kapitalismus gibt, oder? Schau dir doch das Elend an, das in Rumänien oder Kuba dabei rauskam, oder welche Ruinen am Ende der DDR übrig geblieben sind.“
„Ich bestreite, dass es nur mit dem Kapitalismus geht! Wir müssen zu kleinen, überschaubaren Strukturen zurück, und die multinationalen Konzerne müssen durch strikten Boykott ausgehungert werden. Hier zum Beispiel! Ich hab schon gesehen, wie du dieses Teil im Schaufenster angebetet hast. Du würdest doch nicht ernsthaft dafür Geld ausgeben? Für einen Stromverbraucher, einen Konzernförderer, ein Symbol des globalen Gesellschaft?“
„Doch, sofort, wenn ich nicht schon einen Computer hätte, der noch ziemlich neu ist, und einen Laptop wirklich brauchen könnte“, gestand ich.
„Du hast einen Computer?“
„Beate, jeder hat doch einen. Na, fast jeder. Kommst du wirklich ohne aus?“
„Selbstverständlich! Wir versuchen, möglichst ganz ohne Strom fressende Geräte auszukommen. Für deinen Computer muss vielleicht bald ein neues AKW gebaut werden! Schämst du dich nicht?“
Manchmal schon, aber das konnte ich so natürlich nicht zugeben. Ich beschränkte mich auf den Hinweis, dass überhaupt keine neuen AKWs mehr gebaut wurden. Beates Blick wanderte an mir entlang. Statt meine Benutzung eines Geräts, das die globale Erwärmung ebenso wie die globalen Konzerne förderte, weiter zu kritisieren, nahm sie meine Kleidung (Jeans und ein T-Shirt) ins Visier. Schadstofffrei hergestellte Baumwolle? Naturfarben? Hergestellt in förderungswürdigen Betrieben der Dritten Welt, aber ohne Kinderarbeit und ohne Zerstörung des Regenwaldes? Ich musste auf der ganzen Linie passen und kam zu dem Ergebnis, dass Beate (und Theo, wenn er genauso drauf war), vielleicht doch kein so angenehmer Umgang war. Das schlechte Gewissen und die zunehmende Gereiztheit reichten mir schon fürs ganze Wochenende. Aber eins wollte ich doch noch wissen, bevor ich endlich ins Brides musste: „Und was machst du jetzt beruflich? Und Theo?“
„Theo hat sich natürlich ebenfalls geweigert, als Knecht dieser Gesellschaft Kinder zu erziehen und sie dabei völlig zu verbiegen. Warum reitest du auf dieser Frage so herum? Kann es sein, dass du nur auf Geld und Karriere fixiert bist und dir diese Welt scheißegal ist?“ Bitte, dann eben nicht. „Lass, ich will´s gar nicht mehr wissen“, murmelte ich und wandte mich zum Gehen. „Was? Und wann wollt ihr denn jetzt vorbeikommen?“
„Ich glaube, das lassen wir dann lieber. Aber ich kann ja anrufen – noch habt ihr doch Telefon?“ Damit machte ich, dass ich wegkam. Grauenhaft! Das Schlimmste war aber, dass in all diesem ideologischen Müll einiges an Wahrheit steckte, was mich am meisten ärgerte. Vielleicht sollte ich mir wenigstens ein Brautkleid aus ungefärbter, recycelter Baumwolle kaufen, um ein Zeichen zu setzen? Quatsch, ich nahm das Ganze ja schon wieder nicht ernst!
Außerdem interessierte es mich natürlich doch, was die beiden so trieben, aber nach Beates Angriff vermutete ich stark: gar nichts. Theo konnte ich mir so richtig vorstellen – keine Stelle, da schlechte Noten wegen Aufmüpfigkeit (ehrenwert, aber nicht sehr klug), Taxifahren kam aus ökologischen Gründen nicht in Frage, bei JobTime bekam man die Angebote auch ohne politische oder umwelttechnische Überlegungen vorgelegt, und sonst konnte der Gute ja nichts. Und Beate? Ein abgebrochenes BWL-Studium, damit konnte man Buchhaltung machen, jobben... alles nichts, wenn man die Verantwortung für den ganzen Planeten trug. Wahrscheinlich lebten sie von Sozialhilfe und reisten von Weltwirtschaftsgipfel zu Weltwirtschaftsgipfel, um zu protestieren. Vielleicht gaben sie Kurse in ökologisch korrekter Lebensführung? Als Film hätte ich das Leben der beiden sicher sehr lustig gefunden, aber wenn jede Erklärung als Vorwurf aufzufassen war, verging einem der Spaß schnell wieder.
Also, auf zu Brides!
Die Schaufenster sahen schon mal besser aus, sparsam dekoriert, schlichtere, aber witzigere Kleider. Das erste Fenster zeigte auf einer Unterlage aus Sand eine sitzende Schaufensterpuppe in einem schlichten, bodenlangen Kleid aus weißem Leinen. Viereckiger Ausschnitt, ärmellos, keine Verzierungen. Wunderschön für Sommerfeste, wenn es nicht gerade Spareribs gab, aber als Braut durfte man sich darin keinesfalls hinsetzen, wenn man nicht aller Welt eine verknüllte Hinterfront präsentieren wollte. Schade!
Die Puppe im zweiten Fenster stand im Wasser, das durch entsprechend drapierte blaue Plastikfolie dargestellt wurde. Das Kleid war ebenfalls blau. Nein, weiß, weiß mit einem Schimmer von Blau, je nachdem, wie das Licht darauf fiel. Runder Ausschnitt, kurze Ärmel, klare Linien, die geschwungenen Nähte im Vorderteil durch eine hauchdünne Linie irisierender blauer Perlen akzentuiert. Das gefiel mir nicht schlecht. Der schmale Rock hatte Seidenschlitze, so dass man sich wenigstens bewegen konnte, ohne zu trippeln wie 1890. Das sollte ich mir vielleicht näher ansehen?
Entschlossen drückte ich gegen die Tür und musste feststellen, dass Brides nur wochentags von elf bis siebzehn Uhr geöffnet hatte. Gemeinheit! Da hatte ich mich schon mal für etwas entschieden, und dann hatten die Faulpelze zu! Ich turnte noch etwas vor dem Fenster herum, bis ich das Preisschild entziffern konnte – 990 Euro, dafür konnte man auch ein ganzes Sofa kriegen, oder einen halben Laptop. Aber dieses Kleid war bis jetzt eindeutig das kleinste Übel.
Ich fand noch ein schönes T-Shirt für Werner und in der Bäckerei Aumeier diese Knabberstangen, die er so liebte, Blätterteig, dick mit Käse, Kümmel und Mohn bestreut, und nahm ihm eine Tüte voll mit. Tat ich das aus Liebe, aus schlechtem Gewissen oder um ihn vor dem Fernseher ruhig zu stellen? Schwer zu entscheiden. Ich wusste nur, dass ich mich in unserer Beziehung auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatte. Ökologisch auch nicht. Und wer unsere Abrechnungen frisierte, wusste ich ebenfalls noch nicht. Festgefahren, in jeder Hinsicht!
Als ich nach Hause kam, unzufrieden und praktisch ohne Tüten (na gut, silbernen Nagellack für die Füße hatte ich mir noch gegönnt), war Werner nicht da. Immerhin hatte er wirklich den Frühstückstisch abgeräumt.
Dieser Idiot! Abräumen hieß doch nicht nur, alles in der Küche irgendwohin zu stellen! Hätte er Butter, Käse und Wurst nicht in den Kühlschrank räumen können? Die Butter stand in der Sonne und war schon halb flüssig, Käse und Schinken schwitzten sicher schon seit drei Stunden vor sich hin, mit Fetttropfen bedeckt und an den Rändern ausgetrocknet. Der Käse roch schon ganz streng. Ich kippte alles in den Müll – ich jedenfalls wollte das nicht mehr essen! – und räumte dann die Spülmaschine ein und das Wohnzimmer auf.
Zu nichts zu gebrauchen, dieser Kerl! Und dem brachte ich noch ein T-Shirt und seine Lieblingsknabberei mit. War ich denn verrückt? Am liebsten hätte ich die Knabberstangen selbst verdrückt, aber zum einen mochte ich das Zeug leider nicht, zum anderen hätte ich das vor seinen hungrigen Augen tun müssen, damit es wirklich eine Strafe war. Also schluckte ich statt der Knabberstangen meinen Ärger herunter und zog die Betten ab.
Werner kam erst am frühen Nachmittag wieder, müde, nassgeschwitzt und etwas streng duftend. „Super Workout!“, schwärmte er, „ich brauch sofort eine Dusche. Hast du jetzt ein Brautkleid?“
Ohne meine Antwort abzuwarten, zog er sich auf dem Weg ins Bad aus und ließ die Klamotten auf den Boden fallen. Ich ignorierte das und holte die Bettwäsche aus dem Trockner, um sie kurz zu bügeln. Als ich das Schlafzimmer fertig hatte und die Wäsche wieder im Schrank lag, kam Werner erfrischt und strahlender Laune aus dem Bad, zog sich frische Jogginghosen und ein T-Shirt an und fiel dann aufs Sofa. Im Flur lagen immer noch T-Shirt, Jogginghose, Socken, Shorts zwischen Küchen- und Badezimmertür sauber aufgereiht. Würde er sich heute noch darüber wundern oder erst morgen?
Ich präsentierte ihm nun doch, inkonsequent, wie ich war, die Knabberstangen, die begeistert begrüßt wurden und unter heftiger Krümelproduktion im Handumdrehen verspeist waren. „Ich glaube, heute Abend brauche ich gar nichts mehr zu essen“, stöhnte Werner hinterher satt und offenbar hoch zufrieden. „Was ist denn jetzt mit dem Brautkleid?“
Ich erzählte ihm von dem Kleid bei Brides. Der Preis schockte ihn weniger (er musste es ja nicht bezahlen) als die Farbe. „Was wird Onkel Josef sagen, wenn du nicht in Weiß heiratest?“
„Erstens ist es fast weiß“, argumentierte ich, „und zweitens denke ich, dein Onkel ist so furchtbar fromm? Dann muss er doch wissen, dass weißes Kleid und Schleier nur absolut jungfräulichen Bräuten zustehen, oder?“
„Na und?“
„Werner! Wir wohnen seit fünf Jahren zusammen, weiß er das denn nicht?“
„Bist du wahnsinnig? Das hat dem garantiert keiner erzählt! Er würde ausrasten!“
„Ist das eigentlich ein Erbonkel oder warum habt ihr alle derartig die Hosen voll? Was wäre denn schon groß passiert, wenn er einen Schock bekäme?“
„Er hat´s am Herzen. Nein, zu erben gibt´s da nichts. Er hat zwar alle seine Kinder wegen ihres Lebenswandels enterbt, aber das muss man wohl mehr symbolisch sehen.“
„Aber wenn er sich über jeden Scheiß künstlich aufregt, ist doch seine eigene Schuld, wenn er einen Herzkasperl kriegt, oder? Warum gehen alle auf Zehenspitzen, moralisch gesehen?“
„Weiß ich auch nicht“, antwortete Werner. „Jedenfalls wird er über das blaue Kleid bestimmt war zu sagen haben.“
„Mein Gott, dann sage ich halt, Weiß steht mir nicht oder sonst was. Muss ich
mir jetzt noch eine Tarnadresse zulegen, falls er fragt?“
„Übertreib nicht. Sein größtes Vergnügen auf Hochzeiten ist es, die Braut nach der standesamtlichen Trauung stur mit Fräulein Sowieso anzureden und nach der kirchlichen Trauung dann ganz ehrerbietig mit Frau und ihrem neuen Namen.“
„Dann solltest du vielleicht den Notarzt schon in Reserve halten, weil wir ihm das Vergnügen bestimmt vermasseln. Zur standesamtlichen Trauung brauchen wir doch bloß die Trauzeugen! Und was heißt hier überhaupt neuer Name?“
„Na, er kommt dann, tätschelt deine Hand und nennt dich – möglichst als allererster – Frau Reitz.“
„Und wenn ich ihn dann korrigiere, greift er sich filmreif ans Herz? Da bin ich ja mal gespannt! Stell dich am besten mit einem Rollstuhl direkt hinter ihn.“
Werner grinste versonnen. „Klasse Bild! Äh – wieso korrigieren?“
„Ich heiße doch nicht Reitz!“
„Wieso? Natürlich heißt du nach der Hochzeit Reitz, wie denn sonst?“
„Thibault, wie vorher auch!“
„Also, ich will nicht Thibault heißen, dann halten mich doch alle für einen Ausländer! Und ich kann nicht mal Französisch, ich schreib dann meinen eigenen Namen falsch. Nein, kommt gar nicht in Frage.“
„Sagt doch auch keiner! Du heißt Reitz, ich heiße Thibault. Tut mir Leid, aber Hélène Reitz klingt nach nichts.“
„Getrennte Namen?“ Werner machte große Augen. „Getrennte Namen, getrennte Finanzen, getrennte Rechner, gemeinsames Leben“, antwortete ich freundlich. „Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert!“
„Finde ich nicht gut“, maulte er, „dann weiß doch keiner, dass wir verheiratet sind!“
„Na und? Die Behörden kriegen einen Trauschein, Bekannten erzählen wir es und der Rest kann doch zum Teufel gehen, oder? Die Namensänderung ist ein furchtbarer Akt, Banken, Ämter, Firma – bloß damit alle wissen, dass wir verheiratet sind? Außerdem können wir ja Ringe tragen, wenn du das willst. Für die Trauung brauchen wir ohnehin welche.“
„Natürlich müssen wir Ringe tragen!“, stellte Werner kategorisch fest, „Aber dass du meinen Namen nicht tragen willst... Was soll denn das Theater plötzlich?“
„Wieso plötzlich?“, schnappte ich. „Ich hab immer schon Wert darauf gelegt, mein eigenes Leben zu behalten. Warum soll ich für die Heirat alles opfern, sogar den Namen, mit dem ich mich identifiziere? Reicht es nicht, dass ich hier ganz alleine für den Service zuständig bin?"
„Wie meinst du das? Ich hab doch den Tisch abgeräumt!“
„Ja, und das Essen in der Sonne stehen gelassen, alles ist schlecht geworden. Kannst du bei so etwas denn nicht mal ein bisschen mitdenken?“
„Jetzt reicht´s“, knurrte Werner und schaltete den Fernseher ein, „behandle mich nicht wie ein kleines Kind!“
„Dann benimm dich nicht so!“, fauchte ich und verschwand in meinem Arbeitszimmer. Und die Fitnessklamotten lagen immer noch im Flur herum!
Hatte ich das eigentlich nötig? Einen Mann heiraten, dem man alles hinterher räumen musste, und der immer dann, wenn ihm ein Gespräch nicht passte, einfach den Fernseher lauter drehte? Ich ging online und schaute mir an, was nette kleine Eigentumswohnungen, zwei Zimmer, Balkon, gute Lage, zurzeit so kosteten. Ja, Zweizimmerwohnungen, keine Reihenhäuser in der Pampa!
So teuer waren die gar nicht, je nach Alter, Größe, Ausstattung zwischen 160.000 und 220.000 Euro. Das konnte ich mir leisten. Knapp, aber immerhin. Würde ich lieber alleine wohnen? Zum Teufel mit den Kerlen? Der eine die totale Couch-Potato, der andere einer, der Frauen in der Tiefgarage flachlegte? Den konnte ich doch ohnehin streichen, ich wusste nicht mal, wie er mit Vornamen hieß. Und das wollte ich auch gar nicht wissen, basta!
Aus dem Wohnzimmer klang das übliche Gekreische. Hatte Werner immer schon nur action und Katastrophen geguckt? Eigentlich kam heute Abend Notting Hill, aber Werner würde ja doch auf The Rock bestehen. Und ich konnte nicht mal zum Fernsehen zu einer Freundin gehen, weil ich keine hatte. Verdammter Mist, wieso war nicht besser organisiert! Vielleicht konnte ich Notting Hill wenigstens aufnehmen?
Gegen sieben wagte ich mich wieder ins Wohnzimmer, wo Werner nun auf-geregte Fußballkommentare verfolgte, und legte eine Leerkassette ein. „Was machst du da? Du stehst mir im Bild“, maulte er.
„Ich will nachher Notting Hill aufnehmen, weil ich´s ja doch nicht gleich gucken kann, oder?“
„Ach muss das sein!“, schimpfte er, „ich hab mich so gefreut, Die Rückkehr der Jedi-Ritter aufzunehmen, und jetzt so einen sentimentalen Scheiß. Mensch, Leni, warum bist du zurzeit so komisch?“
„Oh, Verzeihung“, antwortete ich so ironisch wie möglich, „ich wusste nicht, dass es stört, wenn ich ab und zu mal was anderes sehen will als diese gequirle Kacke, die du dir hier wie die letzte Proll-Dumpfbacke pausenlos reinziehst!“ Die letzten Worte waren vielleicht etwas lauter herausgekommen, als es sich für eine Dame von Welt ziemte. Ich sah ihn kurz an, wie er fassungslos zu mir aufstarrte, dann drehte ich mich um, packte Tasche und Schlüssel und verließ die Wohnung. Der Krach, mit dem ich die Wohnungstür ins Schloss schmetterte, war ausgesprochen befriedigend, das ganze Haus schien zu vibrieren, und einen Stock tiefer wurde leise eine Wohnungstür geöffnet.
Dieser rücksichtslose Scheißkerl, wütete ich vor mich hin und trabte durch die Straßen, ohne darauf zu achten, wohin ich lief. Erst am Waldburgplatz sah ich mich schnaufend um, trat zornig gegen die Bänke dort und lief dann weiter. Legte er allmählich alles alleine fest? Sein Fernsehprogramm, sein Name, sein bescheuerter Onkel Josef, seine Unordnung, die ich alleine zu beseitigen hatte, seine Lebensplanung? Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein? An der Floriansgasse bog ich ab und sah in der Ferne den Turm meiner alten Schule. Das waren noch Zeiten, da kannte ich diesen Sofabewohner, diesen Schrottfilmsüchtigen, dieses Haushaltsferkel noch nicht! Ich überlegte, ob ich die Videokanäle neu programmieren sollte, damit er so lange die falschen Sendungen aufnahm, bis er es endlich merkte. Und technisch war er so unbegabt, dass er alleine die Kanäle nie wieder fand. Er konnte ja nicht einmal richtig mit einem Computer umgehen, das musste alles seine Sekretärin machen, die das auf ihre alten Tage gelernt hatte! Er konnte bloß daddeln.
Er war zu nichts zu gebrauchen, ärgerte ich mich, und so einen wollte ich heiraten? No, Sir! Aber das würde noch riesigen Ärger geben. Andererseits konnte ich doch nicht bloß heiraten, um Ärger zu vermeiden! Spätestens bei der Scheidung gab es den Ärger dann verschärft, das hieß ja nur, das Problem zu vertagen. Darin war ich leider ziemlich gut, musste ich zugeben.
Wo war ich denn hier? Emilienstraße... ach ja. Und da vorne gab es eine gemütlich aussehende Kneipe. Genau, einen Schnaps auf den Untergang aller Männer!
Ich stieß die Tür auf und trat ein. Der Laden war knallvoll, alle Tische waren belegt, nur ein einziger Stehplatz an der Theke schien noch frei zu sein. Ich glitt schnell in die Lücke. Jetzt einen Schnaps. Als der nett aussehende Mann hinter der Theke mich nach meinen Wünschen fragte, kniff ich aber wieder und bestellte mir bloß ein Pils.
Er nickte, schob es mir hin und kassierte zwei Euro, dann verschwand er wieder in der Küche. Eine junge Frau, jünger als ich und leicht aufgelöst wirkend, trat hinter die Theke und zapfte geschickt einige Weißbier.
„Heute brummt´s wieder“, stellte die Frau neben mir fest, und die Bedienung nickte.
„Gott sei Dank! Ich mag´s, wenn der Laden läuft. Willst du was essen, Hannah?“
„Später. Wenn ein Tisch frei wird. Mensch, Birgit, zahlt nicht bald mal jemand und haut ab?“
„Vielleicht hinten, am Fenster, die sind fast fertig und zanken sich schon über die Rechnung. Behalte sie ein bisschen im Auge“, riet die Bedienung und grinste. „Gar nicht so einfach, hier einen Stuhl zu ergattern“, murmelte ich in mein Bier. „Ja, aber der Laden ist es wert. Außerdem kochen Birgit und Rudi saugut“, antwortete meine Nachbarin.
Ich sah sie an und blinzelte. „Kenn ich dich nicht irgendwoher?“, fragte sie dann und sah mich gründlich an.
„Ja... ich weiß auch nicht. Uni? Was hast du studiert?"
„Philosophie und dann abgebrochen. Und du?“
„BWL. Nee, da sind wir uns garantiert nicht über den Weg gelaufen... Und hier war ich noch nie. Kassenschlange im Supermarkt?“
„Ich kauf immer hier an der Ecke ein“, sagte Hannah.
„Wieder ein Schlag ins Wasser, ich immer in der Rubensstraße. Jetzt bin ich ratlos.“
Hannah sah mich forschend an. „Wie heißt du eigentlich?“
„Hélène.“
„Was? Mit H vorne oder wie Lancelots Frau?“
Ich kicherte. Das hatte mich doch vor kurzem schon jemand gefragt? „Mit H.“
„Und dein Nachname – sag nichts – irgendwas mit T... hm – äh – Tibot oder so?“
„Genial! Thibault. Du kennst mich ja wirklich! Woher?“
„Mensch, wir haben zusammen Abitur gemacht! So ein seltener Name, das fällt doch auf! Hattest du nicht einen Bruder, der noch schräger hieß und total süß war?“
„Yannick? Stimmt. Süß? Naja, Schwestern können so was nicht so ganz nachvollziehen. Sorry, mittlerweile ist er verheiratet.“ Hannah lachte. „Macht nichts, ich hab schon einen Freund, einen nagelneuen. Aber du kannst dich gar nicht an mich erinnern, oder?“
„Naja... Hannah... es gab drei Hannahs in unserem Jahrgang und keine sah aus wie du. Wie heißt du denn mit Nachnamen?“
„Rehberger. Hannah Rehberger.“ Hätte ich auf einem Barhocker gesessen, wäre ich vermutlich runtergefallen. Ich öffnete schon den Mund, um taktlose Verblüffung zu äußern, als Hannah mir einen Rempler versetzte. „Schnell, die gehen! Nichts wie hin!“ Wir warfen uns über den Tisch, als die vorigen Gäste noch nicht mal richtig aufgestanden waren. Schnaufend grinste ich Hannah an. „Hannah Rehberger... du hast dich ja wahnsinnig verändert!“
„Du meinst, die Pickel sind weg, die Speckröllchen und die Kassenbrille?“
„Naja...“ Hannah war der Kurspummel gewesen und nicht gerade der Star des Abiballs. Und jetzt sah sie richtig gut aus, strahlend, vergnügt und zufrieden.
„Erzähl, was machst du jetzt?“, fragte sie und winkte Birgit. Ich erzählte von Elastochic und von Werner, und ehe ich es mich versah, hatte ich die ganze dumme Geschichte vor ihr ausgebreitet, von der Nummer in der Tiefgarage bis zu Werners neuer stoffeliger Art, von Onkel Josef und der nervenden Wilma bis zu den falschen Abrechnungen.
Hannah seufzte mitleidig und bestellte erst einmal noch zwei Pils. „Und du musst was essen! Wenn du morgen auch noch einen Kater hast, wird die Lage davon nicht besser.“
Ich entzifferte die Tafel neben der Theke. „Ein Thunfischsandwich... Was soll ich jetzt bloß machen?“
„Ich würde mich von diesem Werner verabschieden, wenn ich du wäre“, meinte Hannah entschieden. „Schau, du hast ihn schon satt, bevor ihr verheiratet seid – wozu dann noch heiraten? Du bist doch schon reif für die Scheidung!“
„Ja, aber weißt du, ich habe ja gar keinen richtigen Grund. Er rührt seit Jahren zu Hause keinen Finger, er war noch nie wahnsinnig gesellig, und seine Schwester war auch immer schon so eine Plage. Ich kann doch nicht jetzt plötzlich daherkommen und sagen, das nervt mich?“
„Warum nicht? Liebst du ihn eigentlich noch?“
Darüber dachte ich nach, bis unsere Sandwichs kamen. Ich biss in meins hinein – ausgezeichnet! Kauend überlegte ich weiter, dann schüttelte ich betrübt den Kopf. „Ich glaube nicht. Aber weißt du, es war ohnehin nie die ganz große Leidenschaft, wir hatten immer was Kumpelhaftes in der Beziehung. Bloß geht jetzt langsam auch der Respekt vor die Hunde, ich halte ihn für eine fade Couch-Potato, und für ihn bin ich doch bloß noch die Haushälterin.“
Hannah schüttelte den Kopf. „Das ist zu wenig. Weißt du, gleiche Jobs sind ja schon eine gute Basis, finde ich. Schau dir Birgit und Rudi an! Aber das alleine reicht doch auch nicht. Bist du so scharf aufs Heiraten, dass du einen nehmen willst, der dich schon vorher nervt?“
„Nein, natürlich nicht. Aber sechs Jahre einfach so wegwerfen?“
„Vielleicht waren aber sechs Jahre die natürliche Lebensdauer eurer Beziehung? Die wenigsten halten ein Leben lang.“
„Weiß ich. Dafür werden wir heute doch auch viel zu alt. Verdammt, kann er nicht eine andere finden und sich vom Acker machen?“
„Hélène, das ist feige! Du willst bloß nicht die Schuld haben!“
„Ja doch, dabei bin ich doch schuld, oder? Wenn ich nicht mit diesem Kerl in der Tiefgarage...“
„Wäre dein Werner dann weniger stoffelig? Er weiß es doch nicht, oder?“
„Nein, so war er ja vorher schon. Aber jetzt sehe ich ihn noch kritischer.“
„Wäre dir dieser andere lieber?“
Ich überlegte. „Nein. Den kenne ich doch überhaupt nicht, der kann noch viel grässlicher sein als Werner. Aber ich muss zugeben, der Sex mit ihm war hinreißend, da musste ich wirklich Vergleiche ziehen, und die sind für Werner ungünstig ausgefallen.“
„Das ist aber doch auch nicht deine Schuld. Glaubst du, du kannst Werner so weit bringen, dass er im Bett mehr Pep zeigt?“
Was machte ich hier eigentlich? Sprach mit einer Frau, die ich seit der Abifeier nicht mehr gesehen hatte, über die Bettgewohnheiten meines Zukünftigen? Stillos, wirklich! Aber Hannah hatte so etwas Beruhigendes, als wüsste sie eine Lösung. „Ich glaube nicht“, antwortete ich dann langsam, „nach sechs Jahren? Stell dir vor, du pennst seit sechs Jahren friedlich mit einem Typen, und plötzlich kommt er mit neuen Wünschen daher. Was würdest du denken?“
„Ich würde mich fragen, wer ihm diese neuen Ideen eingeredet hat“, gab Hannah zu und lächelte schief.
„Eben!“, triumphierte ich. „Soll ich dann sagen, ich kenn einen, der es mit mir in der Tiefgarage macht, ans Auto gelehnt, und du musst jetzt auch solche Dinge bieten? Das Gesicht möchte ich nicht sehen!“
Hannah kicherte in ihr Bier und entschuldigte sich sofort. „Ich weiß, das ist nicht lustig, aber wenn man sich das so vorstellt... Ich sehe nur eine Möglichkeit.“
„Sag schon!“
„Soviel Streit, dass er Schluss macht oder dass du eine Handhabe hast, zu sagen, er ist nicht mehr der, den du heiraten wolltest. Eigentlich müsste er doch ohnehin merken, wie lustlos du diese Hochzeit vorbereitest, oder?“
„Nein, er macht ja noch weniger.“
„Ach, also will er eigentlich auch nicht?“
„Er denkt, das machen die Heinzelmännchen. Er weiß, was er anziehen wird, und damit hat er seinen Teil erledigt. Seine Schwester findet auch, dass ich alles finanzieren muss, in Ermangelung von Brauteltern.“
„Wieso, was ist denn mit deinen Eltern? Sind die dagegen?“
„Das wären sie vielleicht tatsächlich, wenn sie Werner noch kennen gelernt hätten. Nein, sie sind tot. Autounfall, vor acht Jahren.“
„Bitter.“
„Ja... Ob ich deshalb bei Werner gelandet bin?“
„Wie meinst du das?“
„Naja, erst war ich ziemlich benommen, und Yannick fast noch mehr. Er hat dann aber bald Véronique kennen gelernt, die ihn wieder auf den richtigen Weg gebracht hat. Ich hab nach dem ersten Jahr ein verdammt lustiges Leben geführt, ein Kerl nach dem anderen, dann wurde mir das auch zu dumm und ich bin Werner begegnet.“
„Er war das Kontrastprogramm? Der Elternersatz?“
„Vielleicht. Jedenfalls war er etwas zum Liebhaben.“
„Klingt wie ein kleiner Hund“, kommentierte Hannah abfällig.
Jetzt musste ich albern kichern, und ein frisches Pils brauchte ich jetzt auch. „Werner, bei Fuß? Ja, ein Hund würde mich wenigstens auch mal das Fernsehprogramm aussuchen lassen. Am Montag kaufe ich mir einen eigenen Fernseher, im Arbeitszimmer ist auch ein Anschluss.“
„Meinst du, er merkt es überhaupt, wenn du nicht neben ihm auf dem Sofa guckst, sondern in einem anderen Zimmer?“
„Ach, doch, nach einiger Zeit. Wenn er sagt, Schatz, haben wir noch ein Bier? und niemand antwortet...“
Schließlich wechselten wir das Thema, und Hannah unterhielt mich mit einer begeisterten Beschreibung ihres Derzeitigen, Roland, und der Flopp-Parade, auf die sie stolz zurückblicken konnte. Kurt, der Ökoterrorist, gefiel mir am besten, und ich revanchierte mich mit Beate und Theo. Bei unseren Mutmaßungen, wie die beiden ökologisch einwandfrei und politisch korrekt ihren Lebensunterhalt verdienen konnten, wurden wir immer alberner; Kondome aus Hanf, in Handarbeit produziert, selbst gekochte Marmelade aus den Früchten am Wegrand, Schafzucht in der Wohnung mit anschließender Herstellung ungefärbter, lappiger Pullover, Rikschadienste... Es gab durchaus Möglichkeiten, vielleicht sollten wir den beiden eine Liste schicken?
„Rikschadienste nicht“, widersprach Hannah mühsam.
„Ist aber voll sch-schadstroff-schadstofffrei. Scheißwort!“
„Ja, schon, aber dann ist er doch der Sklave von denen, die sich rumfahren lassen.“
„Stimmt. Ja – nein! Wenn das ein Thai macht, ist es Ausbeutung der Dritten Welt, aber wenn ein Europäer das tut? Ist das dann nicht so was wie Wiedergutmachung?“
„Kommt drauf an, wen er fährt. Thai ja, einen dicken Ami nicht, dann ist er ein Sch-Sklave des US-Imperialismus.“
„Du hast die Sprüche ja auch gut drauf!“, staunte ich und hielt meine Augen mühsam gerade.
„Marxischische Gruppe, an der Uni. Kennzu nich´ mehr?“
Als ich gegen Mitternacht nach Hause kam, war ich glänzender Laune, allerdings gelang es mir nur mit mehreren Anläufen, die Tür aufzuschließen. Als ich endlich drin war und den Flur entlang schlich, stolperte ich und blieb mit dem Absatz in Werners Fitnesssocken hängen. Polternd ging ich zu Boden und saß dann verdutzt da, den Socken betrachtend. Seine Lieblingssocken – und jetzt hatten sie ein Loch. Ich dehnte das Gewebe noch etwas, bis das Loch schön groß war, und warf den Socken dann in eine Ecke. Meine Schuld war das ja nicht!
Übrigens hatte Werner keine Anstalten gemacht, aufzustehen und nachzusehen, ob ich vielleicht schwer verletzt im Flur lag. Etwas unkoordiniert rappelte ich mich wieder auf und rieb mein Hinterteil. Das gab sicher einen prächtigen blauen Fleck! Dann steuerte ich das Bad an, schluckte zwei Aspirin, putzte mir die Zähne und schrubbte mein Gesicht mit Peeling-Waschgel. Werner schnarchte selig, als ich aus meinen Kleidern und ins Nachthemd schlüpfte und mich ins Bett legte.