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Als Henni am nächsten Tag pünktlich mit Prosecco, Gläsern, etwas Knabberkram in einem Schüsselchen und ihrer Kamera in Zolling ankam, war von Willi natürlich weit und breit noch nichts zu sehen, also gab es noch keine Möglichkeit, sich gemütlich hinzusetzen und den Blick auf die Aktion zu genießen. „Dieser Wichtigtuer“, schimpfte sie halblaut vor sich hin, „erst macht er´s so dringend und dann kommt er nicht? Bricht ohne ihn mal wieder alles zusammen?“

Nun gut, sie fotografierte schon einmal das trübselig dastehende Häuschen, dass seine Hinrichtung schon zu erwarten schien, die eingeschlagenen Fenster, die schief in den Angeln hängende Haustür und das steile Giebeldach, in dem schon einige Ziegel fehlten.

Hatten sie es eigentlich vollständig ausgeräumt, bevor sie es an MayBau verkauft hatten? Oder hatten die es erledigt? Willi fragen, wenn er denn mal auftauchte, beschloss sie und musste grinsen – zum letzten Geburtstag hatten sie ihm „Nur noch kurz die Welt retten“ geschenkt, auf einem richtig teuren 256 GB-Stick, den er wirklich brauchen konnte. Sogar mit seinem Namen eingraviert. Luggi hatte noch gesagt: „Lad dir aber keine Pornos drauf, du kannst den Stick echt schlecht verleugnen.“

Willis Frau Claudia hatte etwas kariert dreingesehen, auch noch, als Luggi schnell behauptet hatte: „War bloß ein Witz, sowas täte der Willi doch nie!“

Henni hatte noch einen draufgesetzt: „Der Luggi schließt bloß mal wieder von sich auf andere!“

Über Luggis Wut freute sie sich heute noch, aber Sybille hatte dann gemeint, wer mit ihr verheiratet sei, habe billige Pornos nicht notwendig, und ihr Geschenk überreicht – eine dezente (fast schon langweilige) Krawatte.

Alle Möbius-Geschwister hatten sich eisern beherrscht, sogar Luggi, dem ein „Schatz, das geht ja gar nicht“ ins Gesicht geschrieben stand.

Henni umrundete den gelben Bagger und fotografierte durch die zerschlagenen Wohnzimmerfenster – leer. Und feuchte, schimmelige Wände. Kein Wunder, hier hatte seit einem guten Jahr niemand mehr geheizt! Das dünne Mosaikparkett wellte sich, mehr war nicht mehr zu sehen.

Wie hatten die den Bagger eigentlich hier hereingeschafft? Und die drei verschiedenfarbigen Container? Sie wanderte um das Häuschen herum und entdeckte, dass auf der anderen Seite der Zaun entfernt worden war und der verdorrte Rasen die Spuren von Baggerketten aufwies. Auch egal.

Das einzige, worum es ihr fast leidtat, war der kleine Zierahorn direkt an dem Zaun vor der Haustür. Ob man den ausgraben konnte? Dumm, dass sie keinen Spaten im Auto hatte…

Immerhin, als sie einen unschlüssigen Blick auf ihren Wagen warf, der einige Meter weiter weg an der Straße stand, entdeckte sie Willi, der mit seinem schwarzen BMW die Straße entlangglitt und schließlich ganz affig vor ihr rückwärts einparkte.

Henni beobachtete das kopfschüttelnd – die Straße war bis auf ihren eigenen Wagen völlig leer, er hätte überall problemlos vorwärts einparken können, ohne sein Können zu demonstrieren. Ach, was hieß hier Können?

Sobald er auf Hörweite herangekommen war, wenigstens wirklich zwei Klappstühle schleppend, lobte sie ihn also freundlich: „Guter Parkassistent, gell?“

Willi zog eine ertappte Grimasse, musste aber dann grinsen. „Noch nichts los hier?“

„Viertel nach zwei – pünktlich sind die nicht, da passen sie zu dir. Aber ich weiß, wo der beste Platz ist, komm!“

Schließlich hatten sie sich so auf der Seite platziert, dass sie beste Sicht auf das noch nicht stattfindende Geschehen hatten. Willi hatte sogar in dem halb eingestürzten Schuppen noch eine Kiste entdeckt, die, zwischen den Stühlen platziert, einen passablen Tisch abgab. Henni stellte gerade die Gläser, die Flasche und die Schale mit dem Knabbergebäck auf diesen Tischersatz, als Willi ausrief: „Na endlich!“

Sie sah auf und spähte über die Reste des Gartentors: „Ach was! Sind die doch schon da…!“

Immerhin sprangen draußen mehrere Männer – und eine Frau – mit Bauhelmen auf dem Kopf aus einem Sprinter und betraten das Grundstück. Einer stutzte, als er sie dort sitzen sah, und wandte sich an einen anderen, der nach einigen Worten abwinkte und dann die Ecke ansteuerte, in der Henni und Willi saßen.

„Herr und Frau Möbius?“

Willi nickte. „Sie sind der Leiter der Abrissaktion?“

„Bernberger. Genau. Und Sie wollen sich das wirklich anschauen?“

„Warum denn nicht? Glauben Sie, es ist zu gefährlich?“

„Aber woher denn, auf die Entfernung… Trotzdem, Helme sollten Sie schon aufsetzen…“ Er reichte ihnen zwei quietschgelbe Helme. Henni setzte ihren auf und nickte zufrieden. Willi besah sich seinen zweifelnd und setzte ihn dann leicht schräg auf. „Flott“, meinte Henni spöttisch.

„Und Sie wollen sich das auch anschauen?“, fragte Bernberger erstaunt. Henni sah zu ihm auf. „Ja, warum auch nicht? Es ist doch interessant, was da alles zum Vorschein kommt.“

„Was soll denn da zum Vorschein kommen? Ein Schatz vielleicht? Ja, die romantischen Vorstellungen der Damen, gell?“ Er zwinkerte Willi zu, der ein Steingesicht aufsetzte.

„Nicht ganz“, lächelte Henni süß. „Ich möchte wissen, mit welchem Mist man damals die Wände gedämmt hat, in der Hütte war es nämlich immer arschkalt.“

„Um es mal damenhaft zu formulieren“, murmelte Willi.

„Hui!“ Bernberger fuhr regelrecht zusammen. „Ganz schön hartgesotten, die Dame – war das nicht Ihr Elternhaus?“

„Mag sein, aber ganz objektiv war es ein Graus. Da wohne ich heute tausendmal schöner.“

Bernberger hatte sich wieder gefasst. „Ja, da muss man den Richtigen heiraten, gell?“

„Wieso? Ich kann mir meine Wohnung schon selbst leisten. Und da geht sogar die Heizung.“

Bernberger fiel ein, dass er mal nach dem Bagger sehen sollte. Leise den Kopf schüttelnd, trabte er davon, und Henni grinste ihm hinterher. „Ein wandelndes Klischee, der Mann.“

„Du hast jetzt wahrscheinlich sein Frauenbild zerstört“, befürchtete Willi, der schon am Korken der Proseccoflasche herumoperierte.

„Oder er hält mich einfach für eine herzlose Bestie“, antwortete Henni und hielt die Gläser für den Notfall schon bereit, „dabei haben wir alle vier das Haus nicht gemocht. Dass wir trotzdem eine ganz schöne Kindheit hatten, hat damit ja nichts zu tun. Und ich glaube auch nicht, dass Papa und Mama, wenn sie uns von oben zugucken, glauben, wir hätten ihr Lebenswerk zerstört – du?“

„Quatsch.“ Willi hatte den Korken endlich aus der Flasche gebracht und schaffte es auch, die beiden Gläser zu füllen, ohne etwas zu verschütten. „Wie oft hat Mama geschimpft, dass sie nicht einmal eine Spülmaschine haben konnte, und Papa über die vorsintflutliche Heizung..."

„Die undichten Fenster, egal wieviel TesaMoll man reingeklebt hat.“

„Die knarrenden Böden. Sogar das Linoleum in der Küche hat geknarrt.“

„Und die Farbe! Wie gespiener Spinat. Wer hat so etwas bloß hergestellt?“

„Die altmodischen Drehlichtschalter.“

„Die Zimmertüren, die immer wieder aufgesprungen sind.“

„Mit den blöden Glasfüllungen, so dass man abends nicht heimlich länger lesen konnte“, ärgerte sich Henni bei der Erinnerung. „Prost!“

Willi stieß mit ihr an. „Du hattest immerhin ein eigenes Zimmer – wir waren zu dritt unterm Dach.“

„Ihr hattet Platz – mein Zimmer hatte ungefähr vier Quadratmeter!“

„Eine Runde Mitleid – hui, schau mal, die fangen doch nicht etwa schon an?“

Der gelbe Bagger hatte ein Stück zurückgesetzt, was dem völlig vermoosten Rasen wohl den Rest gab. Zwei Arbeiter machten sich daran, eine Abrissbirne am Bagger zu befestigen – offenbar eine mühsame Aufgabe. „So ein Ding muss ja ordentlich was wiegen“, sagte Willi in diesem Moment. Henni lachte. „Hab ich mir auch gerade gedacht. Darauf ein Schlückchen!“

Schließlich hing die Stahlkugel in der richtigen Höhe und der Baggerausleger hob sich.

„Jetzt!“ Henni staunte, wie aufgeregt sie war. Willi stellte sein Glas ab und zückte sein Handy. „Gut, dass die Kamera ein Tele hat… Moment, so, das wird gut. Ich schick´s dir dann, ja?“

„Unbedingt!“

Die Kugel schwang zurück und dann vor und schlug ein beträchtliches Loch in die Hauswand knapp oberhalb der Wohnzimmerfenster.

Willi ließ seine Handykamera aufgeregt surren. Henni kniff die Augen zusammen: „Was ist das graue Zeug zwischen den Wandplatten?“

„Sieht tatsächlich aus wie alte Zeitungen“, murmelte Willi, der durch das Teleobjektiv mehr sah. „Das war sogar für damals zu schundig gebaut! Pappe und Zeitungen?“

„Na, Pappe? Aber Rigips geht doch auch nicht für Außenwände, oder?“

„Wer hätte sich damals beschweren wollen? Immer noch besser als eine Baracke in Dachau.“ Willi fotografierte, was das Zeug hielt.

Beim nächsten Schlag stürzte an dieser Stelle das steile und praktisch ungedämmte Dach teilweise ein. Mehrere Kartons stürzten auf den Rasen und entleerten sich.

Henni kicherte geniert. „Haben wir den Plunder auf dem Speicher vergessen?“

„Schaut so aus. Ist doch egal, wir wussten doch eh nicht, was da oben war. Was man nicht kennt, kann man nicht vermissen, oder?“

„Ja, aber nachher sollten wir doch mal schauen. Vielleicht gibt es peinliche Fotos, da haben wir dann doch was zu lachen. Und wir können Ulli und Luggi raten lassen, was drauf ist.“

Tatsächlich stoppte der Bagger und Bernberger eilte auf die beiden zu. „Wollen Sie schnell schauen, ob in den Kisten etwas ist, was Sie retten wollen? Aber nicht lange, wir haben einen ziemlich engen Zeitplan!“

Henni erhob sich und erschreckte Bernberger sichtlich, denn sie war einen guten halben Kopf größer als er. Willi folgte ihr zu den Kisten, aus denen vor allem Stoffe herausquollen. „War das nicht Mamas Schlabberhose mit den Mohnblumen darauf? Ein scharfes Teil“, kommentierte sie, ohne nach dem Stoff zu greifen. Stattdessen hob sie ein in dunkelrotes Plastik mit Goldrand gebundenes Album auf. Willi fand noch ein passendes in grellem Türkis. „Einen Geschmack hatten die damals in Fotoalben… voll die Siebziger“, kommentierte Henni kopfschüttelnd.

„Was erwartest du? Die Siebziger waren doch das Jahrzehnt des schlechten Geschmacks“, rief Willi ihr zu, der mit der Schuhspitze einen weiteren Haufen rasch durchstöberte.

„Quatsch, das waren die Achtziger!“, rief Henni zurück und hob ein weiteres Album auf – Querformat, Stoffbezug in trübem Streifendessin, naturbraune, leicht ausgefranste Seiten innen. Toll, das musste noch viel älter sein!

„Ich sehe nur noch Mist!“, rief Willi da wieder. „Moment – was ist das denn?“ Er winkte ihr zu und sie eilte zu ihm hin. „Was hast du da?“

Er zeigte es ihr. „Iih!“ machte Henni prompt, als sie den Bierseidel in Form einer nackten Frau sah. „Wieso ist das Mistding denn nicht kaputtgegangen?“

Willi grinste und klopfte darauf. „Echt Plastik. Du willst die Tussi nicht? Dann wäre sie was für den Luggi.“

„Langsam glaubt seine Sybille, dass er früher der totale Schwerenöter war. Aber er würde sich sehr nett aufregen.“ Sie kicherte. „Und wenn er das Ding auf den Wertstoffhof bringt, schauen sie ihn dort auch recht merkwürdig an…“

„Wahrscheinlich muss dann Sybille den Kram wegfahren“, vermutete Willi und klemmte sich die nackte Schöne unter den Arm.

Bernberger eilte wieder herbei. „Sie sind fertig?“

„Ja. Drei Fotoalben, der Rest dürfte Plunder sein. Kann alles in den Container, wenn von Ihrer Truppe niemand etwas davon haben will.“

Bernberger zuckte die Achseln und machte dem Baggerfahrer ein Zeichen; die Abrissbirne setzte sich wieder in Bewegung.

Nach einigen weiteren Attacken – die Gartenseite war bis etwa einen Meter über dem Boden eingestürzt – hielt der Bagger wieder inne.

„Müssen die den Kram nicht sortieren?“, überlegte Henni. „Wegen Wiederverwertung?“

„Meistens sortieren sie nur Kunststoff und Wertvolles aus“, erklärte Willi. „Hier gibt´s ja wohl weder – noch.“

„Das Holz von den Fensterrahmen könnte man doch wenigstens noch verbrennen?“

„Das klaubt doch gerade einer raus. Vorher hätte man das bisschen verrottete Holz ja noch mühsam aus der Wand brechen müssen.“

Willi hatte Recht, stellte Henni fest – ein Arbeiter hob die zersplitterten Fensterrahmen mit den Resten weißer Farbe auf und schüttelte die Glassplitter ab; ansonsten lagen vor allem zerbrochene uralte Dachziegel und Mauerbrocken, aus denen die dubiose Füllung heraushing, auf dem Boden. Auf der Vorderseite hängten zwei andere Arbeiter gerade die hölzerne Haustüre aus und warfen sie in den kleineren der Container, dann hörte man Sägegeräusche.

„Treppengeländer“, vermutete Willi und schenkte sich Prosecco nach. Henni stand auf und näherte sich der Ruine. Einige Fetzen der Tapete hingen noch an den Mauerbrocken und noch stehenden Mauerresten und verströmten genau jenen klammen Geruch, den sie mit ihrer Kindheit in diesem Haus verband.

Naserümpfend kehrte sie zu Willi zurück. „Bilde ich mir das ein, oder war die einzige Zeit, in der wir uns darin nicht den Hintern abgefroren haben, Weihnachten?“

Willi brummte zustimmend. „Das waren die vielen Kerzen am Baum. Weißt du noch, unser allabendlicher Wettkampf?“

Henni lachte. „Wessen Kerze am längsten durchhält? Ich war als Kleinste logischerweise auch die Doofste, immer wieder habe ich mich in schöne lange Kerzen weiter oben verliebt. Bis ich mal kapiert habe, dass die untersten am längsten halten…“

„Ja, dass du noch Sinn für Physik entwickeln würdest, konnte man damals wirklich nicht vermuten!“

Henni spürte eine sentimentale Anwandlung. „Ja, Spaß hatten wir schon, aber die Hütte war doch furchtbar. Und ganz ehrlich – Papa und Mama mochten sie doch ja auch nicht.“

„Woher denn! Aber vier Kinder und nur ein Gehalt? Da musste man wohl um das verschimmelte Erbe noch dankbar sein, sonst wären wir in einer Dreizimmerwohnung in Spitzing aufgewachsen.“

Henni schüttelte sich unwillkürlich. „Wieso hat Mama sich eigentlich keinen Job gesucht, wenigstens sobald ich in der Schule war?“

„Keine Ahnung. Naja, mit ein paar Semestern – was war´s, Anglistik? Was gibt´s da schon für Jobs…“

„Auch wieder wahr, aber das war doch furchtbar, den ganzen Tag in der Schimmelbude, die hat man doch eh nicht saubergekriegt“, murrte Henni. „Ui, schau mal, es geht weiter!“

Die nächsten Momente waren von sehr befriedigendem Krachen erfüllt, und dann war der Rest des Hauses auch mehr oder weniger verschwunden – nur noch ein flacher Haufen aus Mauerbrocken, Holzteilen, Teppichresten von der Treppe und losen Tapetenfetzen war zu sehen.

„Schäbige Bilanz“, urteilte Henni sofort. „Meinst du, es lohnt sich, noch dazubleiben?“

„Unbedingt! Die schmeißen jetzt alles in die Container und dann müssen sie den Keller noch einreißen oder aufbohren oder wie auch immer… ob das Beton war?“

„Weiß ich auch nicht. Mehr so erdig, oder? War Beton nicht zu wertvoll für gewöhnliches Volk? Haben die damit nicht die Autobahnen gebaut, damit die Panzer flott nach Osten rollen konnten?“

„Oder so ähnlich. Stimmt schon. Schau!“

Tatsächlich wurde die Abrissbirne vom Bagger entfernt; der Bagger stellte sich direkt neben den Container und schaufelte die Trümmer völlig unsortiert hinein; zwei Arbeiter fegten die kleinsten Überreste schließlich in die Baggerschaufel und sahen sich dann zufrieden um. Mehrere andere mit Kopfhörern und Pressluftbohrern trabten jetzt an und begannen, die Kellerdecke aufzubrechen.

„Also doch Beton“, stellte Henni fest.

„Oder Holzbalken mit Zement“, behauptete Willi. „Egal, wir haben doch beide keine Ahnung. Was war eigentlich im Keller?“

Henni überlegte. „Dieser kleine Öltank, oder? Aber der war doch leer. Oder??“ Sie starrte ihren Bruder in Panik an. Willi winkte ab. „Klar war der leer – und wenn nicht, ist das wohl die Aufgabe von MayBau, nicht unsere, oder? Das Grundstück gehört uns doch gar nicht mehr. Moment – den Schotter in der Rumpelkammer haben wir mit den Möbeln abtransportieren lassen, die Vorratskammer war leer und in der Waschküche waren höchstens noch die Reste von der alten Wäscheleine. Keine Sorge, mehr war da nicht.“

„Eigentlich komisch“, überlegte Henni. „Wenn dieses grässliche Haus 1938 gebaut wurde, wieso hat es keinen Luftschutzkeller?“

„Kein Platz?“

„Aber war das nicht Pflicht?“, rief Henni, um das immer lauter werdende Rattern der Bohrer zu übertönen.

„Kommt es auf ein paar Volksgenossen mehr oder weniger denn an?“

„Auch wieder wahr.“

Das Bohren schien erfolgreich zu sein, jedenfalls wurden immer mehr Bruchstücke Beton oder Zement oder was auch immer in Richtung Container geworfen, wo sie jemand aufnahm und korrekt entsorgte.

Schließlich war nur noch ein Arbeiter zu sehen, aber der Lärm war unverändert.

„Sind die schon beim Kellerboden angelangt?“, überlegte Willi. Henni stimmte gleichmütig zu und goss ihnen die letzten Schlucke Prosecco ein. „Ziemlich warm schon“, bemerkte sie dann. „Na, ich denke, noch ein paar Minuten, dann können wir gehen. Das Beste dürfte vorbei sein.“

„Mhm… war der Garten früher eigentlich schöner, was meinst du?“

Henni ließ ihren Blick über die ins Kraut geschossenen Sträucher, die halbkahle Lärche direkt an der Straße und die zahlreichen Ahornschößlinge unter der löchrigen Thujahecke wandern. „Nein. Nicht ganz so zerzaust, aber so ähnlich. Hatten wir eigentlich nie Blumen?“

„Doch. Der Großvater musste mal ein Staudenbeet angelegt haben, hinter dem Haus. Das hat der Papa noch ziemlich lange notdürftig in Schuss gehalten, aber wahrscheinlich hat er, wenn eine Staude den Geist aufgegeben hat, nichts Neues gekauft. Als ich so neun oder zehn war, hat er aufgegeben, alles rausgerissen und Rasen gesät.“

„Echt Rasen? Warum nicht gleich Moos?“

„Wahrscheinlich, weil das über kurz oder lang von selbst kommt. Ach ja, er hat an der Hintertür noch einen Rosenstrauch gepflanzt, aber der ist dann sofort eingegangen. Vielleicht hat der Mucki zu oft hingepisst.“

„Der Mucki…“ sinnierte Henni. „Der war doch schon so alt?“

„Als das mit dem Rosenstrauch war, war er vielleicht zehn – und du gerade mal drei. Wahnsinn – der Mucki und ich waren gleich alt! Fällt mir jetzt erst auf. Jedenfalls, der Papa hatte jetzt nicht wirklich den grünen Daumen.“

„Eher zwei linke Hände. Weißt du noch, dieses Schuhregal im Flur?“

Willi prustete vergnügt, brach aber plötzlich ab, als einer der Arbeiter aus dem Kellerloch krabbelte und schreiend und gestikulierend auf den Bagger zulief. Ein anderer rannte zu Bernberger, der mit einer Wurstsemmel in der Hand ebenfalls auf einem Klappstuhl saß und in Unterlagen blätterte. Auch Bernberger sprang auf und rannte mit der Wurstsemmel zum Keller. Als er hineinschaute, ließ er die Wurstsemmel fallen, schlug sich die Hand vor den Mund und drehte sich weg.

„Der schaut, als hätten sie gerade eine Leiche gefunden“, spottete Henni.

„Wer weiß?“

„Sei nicht albern, wer sollte denn eine Leiche in unserem Keller verstecken – und wie? Mit vier neugierigen Kindern im Haus? Und hätte das nicht ziemlich gestunken?“

„Vielleicht war das schon vorher?“

„Dann ist doch jetzt nichts mehr davon übrig, oder?“

„Schauen wir mal. Bernberger kommt eh schon her.“

„Sagen Sie mal!“, schrie Bernberger, als er noch kaum in Hörweite war, „was soll das denn?“

„Was denn?“ Willi hatte sich kampfbereit erhoben.

„Na, dann kommen Sie mal lieber mit, Sie beide!“

Henni und Willi folgten ihm und Henni spürte eine merkwürdige Mischung aus Neugier und Beklemmung: Auf jeden Fall musste etwas Gefährliches oder Scheußliches im Keller – besser noch im Kellerboden – aufgetaucht sein!

An der Kante der Ausschachtung stoppte sie abrupt und spürte tatsächlich den Sog der Tiefe, auch wenn diese Tiefe nicht sehr eindrucksvoll war. Zunächst sah sie nichts außer Erdhäufchen. grauen Zementbrocken und fünf Pressluftbohrern in schmutzigem Orange, außerdem die dazugehörigen fünf Arbeiter. Genaugenommen sah sie von ihrer erhöhten Position aus fünf gesenkte gelbe Schutzhelme. Offenbar starrten sie alle in die gleiche Vertiefung, die sie in den Kellerboden geschlagen oder gegraben hatten.

„Was soll dort sein?“, fragte sie den heftig schnaufenden Bernberger.

„Ich zeig´s Ihnen!“

Er lotste sie beide zu einer provisorischen Holzleiter und unten zu der Stelle, die immer noch von den Arbeitern umstanden war.

Als schauten sie in ein offenes Grab, dachte Henni, während sie versuchte, nicht über die diversen Brocken zu stolpern. Wie in einem ganz, ganz schlechten Film. Bernberger scheuchte die Arbeiter beiseite und wies dann dramatisch in das Loch.

Henni und Willi schauten gehorsam in die angegebene Richtung und fuhren zurück: Ein Totenschädel grinste sie an, mit bemerkenswert guten Zähnen.

„I-ist der echt?“, stotterte Willi.

„Schaut ganz so aus. Es gibt auch noch Knochen, aber die haben die Bohrer und Spaten nicht ganz so gut überstanden…“

Henni zückte ihr Handy. „Ich denke, das ist ein Fall für die Polizei.“

Bernberger runzelte die Stirn. „Glauben Sie wirklich, das muss sein? Das bringt unseren Zeitplan nur völlig durcheinander – und der arme Hund ist doch wohl seit Ewigkeiten tot, oder?“

Henni maß ihn streng. „Er hat sich aber wohl nicht selbst im Keller vergraben, oder? Als könnte es sich um einen Mordfall handeln – und Mord verjährt nicht, das wissen Sie doch wohl auch?“

„Ja, aber wer könnte ihn ermordet haben?“ Bernberger versuchte, schlau dreinzusehen. „Ich meine, das hier ist doch Ihr Elternhaus – wer anders als Ihre Eltern könnten denn die Mörder sein?“

„Das glaube ich weniger. Aber unsere Eltern sind tot, und ich habe keinen Hang dazu, etwas zu vertuschen. Du vielleicht?“, wandte sie sich an ihren Bruder, und Willi schüttelte den Kopf. „Tausende Krimis gesehen und gelesen – etwas verbergen zu wollen bringt einen nur noch mehr in die Bredouille. Ruf die Polizei, Henni.“

„Na gut, aber dann rufe ich den Chef an!“

„Gute Idee, tun Sie das ruhig“, gab Henni sich großzügig und tippte die 110 ein.

Eine böse Überraschung

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