Читать книгу Herz-Sammelband: Elisabeth Bürstenbinder Liebesromane - Elisabeth Bürstenbinder - Страница 45
5
ОглавлениеDie Oper war zu Ende. Aus dem Theatergebäude fluthete ein Menschenstrom hervor, der sich nach verschiedenen Richtungen hin vertheilte, und von allen Seiten rollten die Wagen herbei, um die ihnen bestimmten Insassen aufzunehmen. Das Haus war heute bis auf den letzten Platz gefüllt gewesen; denn die italienische Operngesellschaft hatte ihre Abschiedsvorstellung gegeben, und ganz H. hatte sich bemüht, den Sängern und vor Allem der schönen Primadonna zu zeigen, wie sehr es von ihren Leistungen entzückt war und wie ungern es sie verlor, jetzt, wo die Zeit des Scheidens kam. Die Treppen und Corridore waren noch dicht gefüllt; unten im Vestibül drängte sich Kopf an Kopf, und an den Ausgängen wuchs das Menschengewühl zu einer unbequemen und fast bedrohlichen Höhe an.
„Es ist ganz unmöglich, hier durchzukommen,“ sagte Doctor Welding, der in Begleitung eines andern Herrn soeben die Treppe herabkam. „Man geräth ja in Lebensgefahr bei dem Gedränge da unten. Lassen Sie uns lieber noch einige Minuten warten, bis die Menge sich etwas verlaufen hat!“
Der Begleiter stimmte bei, und die Beiden traten seitwärts in eine der tiefen und dunkeln Nischen des Corridors, wo bereits vor ihnen eine Dame Schutz gesucht hatte. Sie war einfach, aber doch nach Art der besseren Stände gekleidet, hatte den Schleier dicht über das Gesicht gezogen und schien das Menschengewühl sehr zu scheuen, auch wohl ganz unbekannt im Theatergebäude zu sein, denn sie drückte sich mit sichtbarer Aengstlichkeit fest an die Wand, als die beiden Herren herantraten, die, ohne sie weiter zu beachten, ihr vorhin unterbrochenes Gespräch wieder aufnahmen.
„Ich habe es gleich anfangs prophezeit, dieser Almbach nimmt einen großartigen Aufschwung,“ sagte Welding. „Seine zweite Composition übertrifft die erste in jeder Hinsicht, und schon die erste war bedeutend genug für einen Anfänger. Ich dächte, mit der Aufnahme könnte er auch diesmal zufrieden sein; sie war womöglich noch enthusiastischer. Freilich, es hat nicht Jeder das Glück, eine Biancona für seine Töne zu finden und sie so dafür zu begeistern, daß sie ihre höchste Kraft dafür einsetzt. Es war jedenfalls ihre Idee, diese neueste Composition Almbach’s als Einlage im letzten Act der Oper zu singen, noch dazu heute, bei ihrem Scheiden, wo der Beifallssturm selbstverständlich war; sie sicherte ihm damit von vornherein den Erfolg.“
„Nun, ich glaube, an Dankbarkeit läßt er es auch nicht fehlen,“ spöttelte der andere Herr. „Man spricht so allerlei. So viel steht fest, der ganze Verehrerkreis ist außer sich über diesen Eindringling, der, kaum aufgetaucht, schon auf dem besten Wege ist Alleinherrscher zu werden. Die Sache scheint übrigens ziemlich ernst und hochromantisch angelegt zu sein, und ich bin wirklich gespannt, was schließlich daraus wird, wenn die Biancona abreist.“
Der Doctor knöpfte ruhig seinen Paletot zu. „Das ist unschwer zu errathen. Eine Entführung in bester Form.“
„Sie glauben, daß er sie entführt?“ fragte der Andere ungläubig.
„Er sie? Das würde wohl keinen Zweck haben. Die Biancona ist ja vollkommen frei ist ihren Entschlüssen, wie in der Wahl ihres Aufenthaltsortes. Aber sie ihn. Das könnte eher der Fall sein; die Fessel ist auf seiner Seite.“
„Freilich, er ist ja verheirathet,“ stimmte der Begleiter bei. „Die arme Frau! Kennen Sie sie persönlich?“
„Nein,“ sagte Welding gleichgültig, „aber nach der Schilderung des Consuls Erlau kann ich mir ein ziemlich treffendes Bild von ihr entwerfen. Beschränkt, passiv, unbedeutend im höchsten Grade, dazu gänzlich untergegangen in Küche und Hauswirthschaft – ganz die Frau danach, einen genialen Feuerkopf wie diesen Almbach zu irgend einem Verzweiflungsschritte zu treiben, und da es eine Biancona ist, die ihr gegenübersteht, so wird dieser Schritt wohl nicht allzulange auf sich warten lassen. Für Almbach selbst wäre es vielleicht ein Glück, wenn er gewaltsam den beengenden Umgebungen entrissen und auf die Bahn des Lebens geworfen würde, aber freilich das bischen Familienfrieden würde dabei rettungslos zu Grunde gehen. Das gewöhnliche Schicksal solcher Künstlerehen, in denen sich die Frau auch nicht entfernt zu der Bedeutung des Mannes erheben kann!“
Er wandte sich bei den letzten Worten etwas verwundert um; die Dame hinter ihnen hatte unwillkürlich eine heftige Bewegung gemacht, aber gerade in dem Momente, wo der Doctor sie schärfer in’s Auge fassen wollte, öffnete sich eine Seitenthür, und Reinhold Almbach erschien, in Begleitung Hugo’s, des Capellmeisters und noch einiger Herren.
Hier freilich war Reinhold ein Anderer als zu Hause im Kreise der Seinigen. Die Düsterheit, welche dort immer und immer auf seinen Zügen ruhte, die Verschlossenheit, die ihn so oft ganz unzugänglich machte, waren wie mit einem Schlage abgeworfen; er strahlte von Aufregung, Glück und Triumph. Seine Stirn hob sich frei und stolz; aus seinen dunklen Augen blitzte das vollste Siegesbewußtsein, und sein ganzes Wesen athmete leidenschaftliche Genugtuung, als er sich zu seinen Begleitern wandte.
„Ich danke Ihnen, meine Herren. Sie sind sehr freundlich, aber Sie werden mich entschuldigen, wenn ich mich heute Abend der schmeichelhaftesten Anerkennung entziehe. Signora wünscht meine Begleitung bei der Festlichkeit, die zum Abschiede noch einmal die Mitglieder der Oper vereinigt. Sie werden begreifen, daß ich diesem Befehle vor allem nachkommen muß.“
Die Herren schienen das durchaus zu begreifen und nebenbei sehr zu bedauern, daß sie sich nicht einem ähnlichen Befehle zu fügen hatten, als Doctor Welding in ihren Kreis trat.
„Ich gratulire,“ sagte er, dem jungen Componisten die Hand reichend. „Das war ein großer und mehr noch, es war ein verdienter Erfolg.“
Reinhold lächelte. Das Lob aus dem Munde des sonst so anspruchsvollen Kritikers ließ ihn keineswegs gleichgültig
„Sie sehen, Herr Doctor, ich habe doch schließlich noch vor Ihrem Richterstuhle zu erscheinen,“ entgegnete er verbindlich. „Consul Erlau war leider im Irrthume, als er mich vor der Gefahr ein für alle Mal gesichert wähnte.“
„Man soll Niemand vor seinem Ende glücklich preisen,“ bemerkte der Doctor lakonisch. „Warum stürzen Sie sich so kopfüber in die Gefahr und wenden dem edlen Kaufmannsstande den Rücken? Ist es wahr, daß wir mit Signora Biancona auch Sie verlieren werden? Sie wollen gleichfalls Ihren Flug nach dem Süden richten?“
„Nach Italien, ja!“ sagte Reinhold mit vollster Bestimmtheit. „Es war schon längst mein Plan. Der heutige Abend hat ihn zum Entschluß gereift, aber jetzt – verzeihen Sie, meine Herren, ich kann Signora unmöglich warten lassen.“
Er grüßte und ging, von seinem Bruder begleitet. Der sonst nicht gerade schweigsame Capitain hatte während des Gesprächs eine auffallende Zurückhaltung beobachtet. Er war leise aufgezuckt, als beim Herantreten Welding’s die Nische frei wurde, in der die dunkle Frauengestalt sich tief in den Schatten der Wand geschmiegt hatte, als wollte sie um keinen Preis gesehen werden; es sah sie auch Niemand weiter, wenigstens nahm Niemand Notiz von ihr; sie konnte ihren Zufluchtsort nicht verlassen, ohne den ganzen Kreis zu passiren, der auch nach der Entfernung der Brüder noch seinen Platz behauptete. Die Herren kannten sich sämmtlich, und sie benutzten dieses Zusammentreffen, um ihre Ansichten über den jungen Componisten, Signora Biancona und das muthmaßliche Verhältniß der Beiden zu einander auszutauschen. Das letztere besonders mußte sich eine ziemlich schonungslose Kritik gefallen lassen. Die spöttischen, witzigen und boshaften Bemerkungen fielen hageldicht, und es dauerte eine geraume Zeit, bis der Kreis sich endlich auflöste.
Jetzt, wo der Corridor völlig leer war, richtete sich auch die Dame in der Nische empor und schickte sich an, zu gehen, aber sie wankte schon nach den ersten Schritten und griff, wie zusammenbrechend, nach dem Geländer der Treppe, als ein kräftiger Arm sie stützte und aufrecht erhielt.
„Kommen Sie in’s Freie, Ella!“ sagte Hugo, der urplötzlich an ihrer Seite stand. „Das war ja eine Folterqual.“
Er zog ihren Arm in den seinigen und führte sie hinunter, durch den nächsten Ausgang auf die Straße. Erst hier in der scharfen, kühlen Abendluft schien Ella wieder zur Besinnung zu kommen; sie schlug den Schleier zurück und athmete auf, als sei sie dem Ersticken nahe gewesen.
„Hätte ich ahnen können, daß meine Warnung Sie hierher treiben würde, sie wäre unterblieben,“ fuhr Hugo vorwurfsvoll fort. „Ella, um Gotteswillen, welche unglückselige Idee!“
Die junge Frau zog die Hand von seinem Arme zurück. Der Vorwurf schien ihr wehe zu thun.
„Ich wollte sie doch wenigstens einmal sehen,“ entgegnete sie leise.
„Ohne selbst gesehen zu werden,“ ergänzte der Capitain. „Ich wußte Das in dem Augenblicke, als ich Sie erkannte; deshalb schwieg ich auch gegen Reinhold. Aber wie auf Kohlen habe ich hier unten gestanden, während der ganze kritische Cirkel da oben vor Ihrem Zufluchtsorte tagte und seinen liebevollen Gesinnungen und Bemerkungen freien Lauf ließ. Ich kann mir ungefähr denken, was Sie da Alles anzuhören bekamen.“
Er hatte während der letzten Worte einem Kutscher einen Wink gegeben, ihm Straße und Hausnummer zugerufen und seiner Schwägerin beim Einsteigen in den Wagen geholfen; als er aber Miene machte, an ihrer Seite Platz zu nehmen, wies sie ihn sanft, aber entschieden zurück.
„Ich danke Ihnen. Ich fahre allein.“
„Auf keinen Fall!“ rief Hugo beinahe ungestüm „Sie sind furchtbar aufgeregt, halb ohnmächtig; es wäre unverantwortlich, Sie in diesem Zustande allein zu lassen.“
„Sie sind doch nicht verantwortlich dafür, was aus mir wird,“ sagte Ella mit aufquellender Bitterkeit. „Und Andere – kümmert Das ja nicht. Lassen Sie mich allein nach Hause fahren, Hugo! Ich bitte Sie darum.“
Ihre Augen sahen ihn durch den Thränenschleier bittend an. Der Capitain sagte kein Wort weiter; er schloß, gehorsam den Schlag und trat zurück; aber er sah dem fortrollenden Wagen nach, bis dieser verschwunden war. –
Mitternacht war längst vorüber, als Reinhold zurückkehrte und, ohne seine Wohnung zu betreten, sich sofort nach dem Gartenzimmer begab. Das Haus und die Nebengebäude lagen still und dunkel da; nichts regte sich mehr in dem ganzen Umkreise. Was hier lebte und schaffte, war gewohnt, den Tag für die Arbeit zu benutzen, und forderte dafür Nachts seine ungestörte Ruhe. Es war ein Glück, daß das Gartenhaus so fern und einsam lag, sonst wären die Hausgenossen und die Nachbarschaft wohl noch unduldsamer gewesen gegen den jungen Componisten, der es nun einmal nicht lassen konnte, so spät er auch oft nach Hause kam, stets noch seinen Flügel aufzusuchen, und den oft genug der lichte Morgen in seinen musikalischen Phantasien überraschte.
Es war eine stille und mondhelle, aber scharfe und rauhe nordische Frühlingsnacht. In dem dämmernden Lichte sahen diese Mauern und Giebel, die den Garten einengten, noch düsterer und gefängnißartiger aus als am Tage; die Fluth des Canals erschien noch schwärzer in dem blassen Mondstreif, der darüber hin zitterte, und die noch kahlen, blattlosen Bäume und Gesträuche schienen zu leben und zusammenzuschauern in dem kalten Nachtwinde, der erbarmungslos darüber wegfuhr. Man befand sich bereits im April, und doch zeigten sich kaum die ersten Knospen. „Dieser armselige Frühling mit seinem mühseligen Wachsen und Gedeihen, seinen grauen Regentagen und kalten Winden!“ Das hatte Reinhold erst vor wenigen Tagen aussprechen hören, und dann war eine glühende Schilderung jenes Frühlings gefolgt, der wie mit einem Zauberschlage auf den Fluren des Südens emporblüht, jener Sonnentage mit dem ewig blauen Himmel und der tausendfachen Farbenpracht der Erde, jener Mondscheinnächte voll Orangenduft und Liederklang. Der junge Mann mußte wohl noch Kopf und Herz voll haben von diesem Bilde; denn er blickte noch verächtlicher als sonst auf die dürftig kahle Umgebung und schob ungeduldig einen Fliederzweig zur Seite, dessen braune eben erst aufbrechende Knospen seine Stirn streiften. Er hatte keinen Sinn mehr für die Gaben dieses armseligen Frühlings und keine Lust mehr, so mühselig zu wachsen und zu gedeihen wie die Knospen hier, ewig im Kampfe mit Reif und Wind. Hinaus in die Freiheit, das war der einzige Gedanke, der ihn jetzt noch erfüllte.
Reinhold öffnete die Thür des Gartenzimmers und fuhr wie in plötzlichem Schrecken zurück. Es dauerte einige Secunden, ehe er in der Gestalt, die da an seinem Flügel lehnte, hell beschienen vom Mondlichte, das durch durch das Fenster fiel, seine Gattin kannte.
„Du bist es, Ella?“ rief er endlich rasch eintretend. „Was giebt es? Ist etwas vorgefallen?“
Sie machte eine verneinende Bewegung. „Nichts! Ich wartete nur auf Dich.“
„Hier? Und zu dieser Stunde?“ fragte Reinhold auf’s Aeußerste befremdet. „Was fällt Dir denn ein?“
„Ich sehe Dich ja fast nie mehr,“ war die leise Antwort, „höchstens noch bei Tisch in Gegenwart der Eltern, und ich wollte Dich einmal allein sprechen.“
Sie hatte bei diesen Worten die Lampe angezündet und auf den Tisch gestellt. Die junge Frau trug noch das dunkle Seidenkleid, das sie heute Abend im Theater getragen; es war freilich auch schmucklos und einfach genug, aber doch nicht so derb und unkleidsam wie ihre gewöhnlichen Hausanzüge. Auch die sonst immer unvermeidliche Haube war verschwunden, und jetzt, wo sie fehlte, sah man erst, welch ein seltener Reichthum sich unter ihr geborgen hatte. Das blonde Haar, das sonst immer nur in einem schmalen Streifen sichtbar wurde, ließ sich kaum bergen in den schweren Flechten, die sich jetzt ist ihrer ganzen prachtvollen Fülle zeigten; aber dieser natürliche Schmuck, mit dem wohl jede andere Frau geprunkt hätte, wurde hier beinahe ängstlich Tag für Tag versteckt, bis ein Zufall ihn enthüllte, und doch schien er dem Kopfe ein ganz anderes Gepräge zu geben.
Reinhold hatte wie gewöhnlich kein Auge dafür; er sah die junge Frau kaum an und hörte nur flüchtig und zerstreut auf ihre Worte. Es lag auch nicht die leiseste Spur eines Vorwurfs darin, aber er mußte doch so etwas herausfühlen, denn er sagte ungeduldig:
„Du weißt doch, daß ich gerade jetzt von allen möglichen Seiten in Anspruch genommen werde. Meine neue Composition, die in den letzten Wochen vollendet wurde, ist heute Abend zum ersten Male in die Oeffentlichkeit getreten –“
„Ich weiß es,“ unterbrach ihn Ella, „ich war im Theater.“
Reinhold stutzte. „Du warst im Theater?“ fragte er rasch und scharf. „Mit wem? Auf wessen Veranlassung?“
„Ich war allein dort. Ich wollte –“ sie stockte und fuhr dann zögernd fort: „ich wollte doch auch einmal Deine Töne hören, von denen alle Welt spricht, und die nur ich nicht kenne.“
Ihr Gatte schwieg und sah sie forschend an. Die junge Frau verstand sich schlecht auf die Verstellung, und die Lüge wollte nicht über ihre Lippen. Sie stand vor ihm, todtenblaß, bebend an allen Gliedern; es bedurfte keines besonderen Scharfblickes, um hier die Wahrheit zu errathen, und Reinhold errieth sie sofort.
„Und allein deshalb gingst Du?“ sagte er endlich langsam. „Willst Du mich täuschen mit dem Vorwande oder vielleicht Dich selber? Ich sehe, das Gerücht hat bereits bis zu Dir seinen Weg gefunden, Du hast mit eigenen Augen sehen wollen – natürlich! Wie konnte ich auch glauben, daß es mir und Dir erspart bleiben würde!“
Ella blickte auf. Das war wieder die finster umschattete Stirn, die sie stets an ihren Gatten zu sehen gewohnt war, der Blick düsterer Schwermuth, der Ausdruck eines trotzig niedergehaltenen Leidens, kein Hauch mehr von jenem strahlenden Triumphe, der vor wenig Stunden seine Züge so verklärte; das war ja draußen gewesen, fern von den Seinen; für die Heimath blieb nur der Schatten übrig.
„Warum antwortest Du nicht?“ begann er von Neuem. „Denkst Du, ich wäre Feigling genug, die Wahrheit abzuleugnen? Wenn ich sie Dir bisher verschwieg, so geschah es aus Schonung für Dich; jetzt, wo Du sie kennst, werde ich Dir Rede stehen. – Man hat Dir von der jungen Künstlerin erzählt, der ich die erste Anregung zum Schaffen, meinen ersten Erfolg und den heutigen Triumph danke. Man hat Dir das Verhältniß zwischen uns, Gott weiß wie, geschildert, und Du hältst das nun natürlich für ein todeswürdiges Verbrechen.“
„Nein. Aber für ein Unglück.“
Der Ton dieser Worte hätte wohl Jeden entwaffnet; auch Reinhold’s Gereiztheit hielt nicht Stand davor. Er trat ihr näher und ergriff ihre Hand.
„Armes Kind!“ sagte er mitleidig. „Ein Glück war es freilich nicht, was der Wille Deines Vaters Dir bestimmte. Du mehr als jede Andere bedurftest eines Gatten, der Tag für Tag im ruhigen Kreislaufe der Alltäglichkeit wirkt und schafft, ohne auch nur mit einem Wunsche darüber hinauszureichen, und gerade Dich hat das Schicksal an einen Mann gekettet, den es gewaltsam fortreißt auf andere Bahnen. Du hast ganz Recht: das ist ein Unglück für uns Beide.“
„Das heißt: ich bin es Dir,“ ergänzte die junge Frau tonlos. „Sie freilich wird es wohl besser verstehen, Dir Glück zu geben.“
Reinhold ließ ihre Hand fallen und trat zurück. „Du bist im Irrthum,“ versetzte er beinahe rauh, „und verkennst vollständig das Verhältniß zwischen Signora Biancona und mir. Es ist ein rein ideales gewesen vom ersten Augenblicke an, und ist es noch bis zu dieser Stunde. Wer Dir etwas Anderes gesagt hat, ist ein Lügner.“
Es schien, als wolle Ella aufathmen bei den ersten Worten; aber bei den nächsten schon zog sich ihr Herz wie im Krampfe zusammen. Sie wußte, daß ihr Gatte keiner Lüge fähig sei, am wenigsten in solchem Augenblicke, und er sagte ihr, das Verhältniß sei ein ideales. Noch war es das, daran zweifelte sie nicht, aber auf wie lange? Sie hatte heute Abend im Theater selbst die dämonischen schwarzen Augen leuchten sehen, denen so leicht nichts widerstand, hatte gesehen, wie jene Frau in ihrer Rolle die ganze Stufenleiter der Empfindungen bis zur höchsten Leidenschaft hinauf durchlief, wie diese Leidenschaft das Publicum zum Beifallssturme fortriß, und sie konnte sich unschwer sagen, daß, wenn es der Italienerin beliebt hatte, bisher nur die beglückende Muse zu sein, die den jungen Tondichter an ihrer Hand in das Reich der Kunst einführte, wohl die Stunde kommen werde, wo sie ihm etwas Anderes sein wollte.
„Ich liebe Beatrice,“ fuhr Reinhold mit einer Aufrichtigkeit fort, von deren Grausamkeit er in der That keine Ahnung zu haben schien, „aber diese Liebe kränkt und verletzt keines von Deinen Rechten. Sie gilt der Musik, als deren verkörperter Genius sie mir entgegentrat, gilt dem Besten und Höchsten in meinem Leben, dem Ideale –“
„Und was bleibt dann noch für Dein Weib übrig?“ unterbrach ihn Ella.
Er schwieg betroffen. Die Frage, so einfach sie war, klang doch eigenthümlich in dem Munde seiner für so beschränkt gehaltenen Gattin. Es war ja selbstverständlich, daß sie sich mit dem begnügen mußte, was noch übrig blieb, mit dem Namen, den sie trug, und dem Kinde, dessen Mutter sie war. Sie schien das seltsamerweise gar nicht begreifen zu wollen, und Reinhold verstummte völlig vor dem ruhigen und doch vernichtenden Vorwurfe dieser Frage.
Die junge Frau stützte die Hand auf den Flügel. Sie kämpfte sichtbar mit der Furcht, welche sie von jeher vor ihrem Manne gehegt, dessen geistige Ueberlegenheit sie tief empfand, ohne gleichwohl je den Versuch zu wagen, sich zu ihm zu erheben. In dem Bewußtsein, daß er hoch über ihr stehe, hatte sie sich ihm stets unbedingt untergeordnet, ohne damit jemals etwas Anderes zu erreichen, als eine Duldung, die nahe an Verachtung streifte. Jetzt, wo er eine Andere liebte, hörte die Duldung auf; die Verachtung war geblieben – das fühlte sie deutlich aus seinem Geständnisse heraus, das er so ruhig, so sicher that; seine Liebe zu der schönen Sängerin „kränkte und verletzte ja keines von ihren Rechten“; sie hatte ja überhaupt kein Recht an sein geistiges Leben. Und diesen Mann sollte sie festhalten, jetzt, wo ihm die Liebe einer schönen, von aller Welt gefeierten Künstlerin, wo ihm der Zauberschein Italiens, wo ihm eine Zukunft voll Ruhm und Glück winkte, sie, die nichts zu geben hatte, als sich selber – Ella fühlte jetzt erst das Unmögliche der Aufgabe, die man ihr zugewiesen.
„Ich weiß es, Du hast nie zu uns gehört, nie Jemand von uns lieb gehabt,“ sagte sie mit stiller Resignation. „Gefühlt habe ich es wohl immer; klar geworden ist es mir erst, seit ich Deine Frau bin, und da war es zu spät. Aber ich bin es doch nun einmal, und wenn Du mich und das Kind verlassen, aufgeben willst um einer Anderen willen –“
„Wer sagt das?“ fuhr Reinhold mit einer Entrüstung auf, die ihn freisprach von dem Verdachte, daß ein solcher Gedanke wirklich schon in seine Seele gekommen war. „Verlassen? Dich und das Kind aufgeben? Niemals!“
Die junge Frau richtete das Auge fragend auf ihn, als verstehe sie ihn nicht.
„Du sagtest doch soeben, Du liebtest Beatrice Biancona?“
„Ja, aber –“
„Aber? So mußt Du auch wählen zwischen ihr und uns.“
„Du entwickelst ja auf einmal eine ganz ungewöhnliche Bestimmtheit,“ rief Reinhold gereizt. „Ich muß? Und wenn ich es nun nicht thue? Wenn ich diese ideale Künstlerliebe für vollkommen vereinbar halte mit meinen Pflichten, wenn –“
„Wenn Du ihr nach Italien folgst,“ ergänzte Ella.
„Also auch das weißt Du schon?“ fuhr der junge Mann heftig auf. „Du scheinst ja so vortrefflich unterrichtet zu sein, daß mir nur noch übrig bleibt, die Nachrichten, die man Dir so freundlich zugetragen, zu bestätigen. Es ist allerdings meine Absicht, in Italien meine Studien fortzusetzen, und wenn ich dort Signora Biancona begegnen sollte, wenn ihre Nähe mir neue Begeisterung zum Schaffen giebt, ihre Hand mir die Künstlerwelt öffnet, so werde ich nicht der Thor sein, das Alles zurückzustoßen, blos weil ich nun einmal das Schicksal habe – eine Frau zu besitzen.“
Ella zuckte zusammen bei der schonungslosen Härte dieser letzten Worte.
„Schämst Du Dich dieser Frau so sehr?“ fragte sie leise.
„Ella, ich bitte Dich –“
„Schämst Du Dich meiner so sehr?“ wiederholte die junge Frau scheinbar ruhig, aber es war ein seltsamer, nervendurchzitternder Klang in ihrer Stimme. Reinhold wendete sich ab.
„Sei nicht kindisch, Ella!“ erwiderte er ungeduldig. „Glaubst Du, daß es für einen Mann wohlthuend oder erhebend ist, wenn er von seinen ersten Erfolgen nach Hause kommt und findet hier Klagen, Vorwürfe, kurz, die ganze nüchterne Prosa der Häuslichkeit. Du hast mich bisher damit verschont und solltest das auch in Zukunft thun. Du könntest sonst die Erfahrung machen, daß ich nicht der geduldige Ehemann bin, der dergleichen Scenen widerstandslos über sich ergehen läßt.“
Es bedurfte nur eines einzigen Blickes auf die junge Frau, um die grenzenlose Ungerechtigkeit dieses Vorwurfs zu erkennen. Sie stand da, nicht wie eine Anklägerin, sondern wie eine Verurtheilte, fühlte sie doch, daß in dieser Stunde das Urtheil ihrer Ehe und ihres Lebens gesprochen wurde.
„Ich weiß wohl, ich bin Dir nie etwas gewesen,“ sagte sie mit bebender Stimme, „habe Dir nie etwas sein können, und wenn es sich jetzt nur um mich handelte, so ließe ich Dich gehen, ohne ein Wort, ohne eine Bitte weiter. Aber das Kind steht ja noch zwischen uns, und da“ – sie hielt einen Augenblick inne und athmete tief auf – „da wirst Du es wohl begreifen, wenn die Mutter Dich noch einmal bittet – daß Du bei uns bleibst.“
Die Bitte kam scheu, zaghaft heraus; man hörte ihr die Ueberwindung an, die es sie dem Manne gegenüber kostete, in dessen Herzen auch nicht mehr eine Stimme für sie sprach, und doch bebte in den letzten Worten ein so rührend angstvolles Flehen, daß es nicht ganz ungehört an dem Ohre ihres Gatten verhallte. Er wandte sich wieder zu ihr.
„Ich kann nicht bleiben, Ella,“ entgegnete er milder als vorhin, aber doch mit kühler Bestimmtheit. „Es handelt sich um meine Zukunft. Du ahnst nicht, was in dem Worte für mich liegt. Begleiten kannst Du mich nicht mit dem Kinde. Abgesehen davon, daß dies bei einer Studienreise unmöglich ist, würdest Du Dich bald genug unglücklich fühlen in einem fremden Lande, dessen Sprache Du nicht verstehst, unter Verhältnissen und Umgebungen, denen Du auch nicht entfernt gewachsen bist. Du wirst Dich jetzt überhaupt gewöhnen müssen, mich und mein Leben mit einem andern Maßstabe zu messen, als mit dem des engherzigen Vorurtheils und der kleinbürgerlichen Beschränktheit. Du bleibst mit dem Kleinen hier im Schutze Deiner Eltern; in spätestens einem Jahre kehre ich zurück. In diese Trennung mußt Du Dich fügen.“
Er sprach ruhig, freundlich sogar, aber jedes Wort war eine eisige Zurückweisung, ein ungeduldiges Abschütteln der ihm lästigen Bande. Hugo hatte Recht: er lag bereits zu tief im Banne der Leidenschaft, um noch auf irgend eine andere Stimme zu hören – es war zu spät. Ein kaltes, mitleidloses „Du mußt Dich fügen“ war die einzige Antwort auf jene rührende Bitte.
Ella richtete sich mit einer ihr sonst fremden Entschlossenheit empor, und es war auch ein fremder Klang in ihrer Stimme; es lag etwas darin von dem Stolze des Weibes, der, jahrelang getreten und unterdrückt, sich endlich doch aufbäumte, als man ihm das Aeußerste bot.
„In die Trennung, ja!“ erwiderte sie fest. „Ich bist ja machtlos dagegen. Aber nicht in Deine Rückkehr, Reinhold. Wenn Du jetzt gehst, mit ihr gehst, trotz meiner Bitte, trotz unseres Kindes, so thue es – aber dann gehe auch für immer!“
„Willst Du mir Bedingungen stellen?“ rief Reinhold auflodernd. „Habe ich es nicht jahrelang getragen, dieses Joch, das die sogenannten Wohlthaten Deines Vaters mir aufzwangen, das meine Kindheit verbittert, meine Jugend vernichtet hat und mich jetzt an der Schwelle des Mannesalters zwingt, mir das erst in endlosen Kämpfen zu erobern, was ein Jeder als sein natürliches Recht beansprucht, die freie Selbstbestimmung? Ihr habt mich losgelöst von Allem, was Anderen Freiheit und Glück heißt, habt mich festgekettet an eine verhaßte Lebenssphäre mit allen nur möglichen Banden und glaubtet nun Eures Eigenthums sicher zu sein. Aber endlich ist doch für mich die Stunde gekommen, wo es beginnt, zu tagen, und wenn es dann auf einmal wie ein Blitz in die Seele niederschlägt und in flammender Klarheit das Ziel zeigt und den Preis am Ziele, dann erwacht man aus dem jahrelangen dumpfen Traume und findet sich – in Fesseln.“
Es war ein Ausbruch der wildesten Leidenschaftlichkeit, des glühendsten Hasses, der schrankenlos hervorbrach, ohne danach zu fragen, ob er sich über Schuldige oder Unschuldige ergoß. Das ist ja eben das furchtbar Dämonische der Leidenschaft, daß sie den Haß gegen Alles kehrt, was sich ihr entgegenstellt, und träfe dieser Haß auch die nächsten und heiligsten, träfe er auch die selbstgeknüpften Bande.
Es folgte eine lange, todtenstille Pause. Reinhold hatte sich, überwältigt von der Aufregung, in einen Sessel geworfen und die Hand über die Augen gelegt. Ella stand noch an demselben Platze wie vorhin; sie sprach nicht, regte sich nicht; selbst das Beben, das so oft während der Unterredung sie durchzitterte, hatte aufgehört. So vergingen mehrere Minuten, da endlich näherte sie sich langsam ihrem Gatten.
„Das Kind läßt Du mir doch wohl?“ sagte sie mit zuckender Lippe. „Dir würde es nur eine – Last sein in Deinem neuen Leben, und ich habe ja sonst nichts weiter auf der Welt.“
Reinhold sah auf und sprang dann plötzlich empor. Es waren nicht die Worte, die ihn so seltsam erschütterten, auch nicht die todtenstarre Ruhe ihres Gesichtes; es war der Blick, der sich auch ihm jetzt so unerwartet und überraschend entschleierte, wie einst seinem Bruder. Zum ersten Male sah auch er in dem Antlitze seiner Gattin die „schönen blauen Märchenaugen“, die er so oft an seinem Knaben bewundert, ohne je danach zu fragen, woher sie stammten, und diese Augen waren jetzt groß und voll auf ihn gerichtet. Es stand keine Thräne darin, auch keine Bitte mehr, aber ein Ausdruck, dessen er Ella nie für fähig gehalten, ein Ausdruck, vor dem sein Auge zu Boden sank.
„Ella,“ sagte er ungewiß. „Wenn ich zu heftig war – was hast Du, Ella?“
Er wollte ihre Hand ergreifen; sie wich zurück.
„Nichts. Wann gedenkst Du zu reisen?“
„Ich weiß nicht,“ antwortete Reinhold immer mehr betreten. „In einigen Tagen – oder Wochen – es eilt nicht.“
„Ich werde die Eltern benachrichtigen. Gute Nacht!“ Sie wandte sich, um zu gehen. Er that ihr heftig einen Schritt nach, als wolle er sie zurückhalten. Ella blieb.
„Du hast mich mißverstanden.“
Die junge Frau richtete sich hoch und fest auf. Sie schien auf einmal eine Andere geworden zu sein; diesen Ton und diese Haltung hatte Ella Almbach nie gekannt.
„Die ‚Fessel‘ soll Dich nicht länger drücken, Reinhold. Du wirst ungehindert Dein Ziel erreichen und Deinen – Preis. Gute Nacht!“
Sie öffnete rasch die Thür und trat hinaus. Das Mondlicht fiel hell auf die schlanke Gestalt ist dem dunklen Kleide, auf das starre blasse Antlitz und die blonden Flechten. Im nächsten Augenblicke schon war sie verschwunden. Reinhold stand allein.