Читать книгу Herz-Sammelband: Elisabeth Bürstenbinder Liebesromane - Elisabeth Bürstenbinder - Страница 48
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ОглавлениеMarchese Tortoni hatte nicht so Unrecht mit seiner Bemerkung; die Hitze begann sich trotz der frühen Jahreszeit schon sehr fühlbar zu machen. Zwar war die Saison noch nicht zu Ende, aber schon vertauschte manche Familie den Aufenthalt in der Stadt mit der gewohnten Villeggiatur im Gebirge oder am Meeresstrande, und die übrige Gesellschaft stand gleichfalls auf dem Punkte, sich früher als gewöhnlich nach allen Himmelsrichtungen zu zerstreuen, bis der Herbst sie wieder zusammenführte.
In der Wohnung Signora Biancona’s hatte man noch keine Anstalten getroffen, die auf eine baldige Abreise schließen ließen, und doch schien von einer solchen die Rede gewesen zu sein in dem Gespräche, das soeben zwischen ihr und Reinhold Almbach stattgefunden hatte. Die Beiden waren allein in dem glänzend und prachtvoll erleuchteten Salon der Sängerin; aber das schöne Antlitz Beatricens trug den Ausdruck einer unverkennbaren Aufregung. In die Kissen des Divans gelehnt, die Lippen zornig zusammengepreßt, zerpflückte sie achtlos eins der schönen Bouquets, die in reicher Fülle das Empfangszimmer der berühmten Künstlerin schmückten, während Reinhold mit finster umwölkter Stirn und verschränkten Armen im Zimmer auf- und niederging. Es bedurfte nur eines Blickes, um zu errathen, daß hier eine jener Sturmscenen stattfand, von denen Maestro Gianelli behauptete, daß sie zwischen den Beiden ebenso häufig seien wie der Sonnenschein.
„Ich bitte Dich, Beatrice, verschone mich jetzt mit ferneren Auftritten!“ sagte Reinhold mit vollster Heftigkeit. „Sie ändern nichts mehr an der einmal beschlossenen Sache. Marchese Tortoni hat mein Versprechen, und unsere Abreise nach Mirando ist auf morgen festgesetzt.“
„Nun, so wirst Du dieses Versprechen zurücknehmen,“ entgegnete Beatrice in gleichem Tone. „Du hast es ohne mein Wissen gegeben, schon vor Wochen gegeben, und doch hatten wir damals schon beschlossen, die diesjährige Villeggiatur im Gebirge zu nehmen.“
„Gewiß! Und ich werde Dich auch dort aufsuchen, sobald ich von Mirando zurückkehre.“
„Sobald Du zurückkehrst? Als ob Tortoni nicht wie gewöhnlich Alles aufbieten würde, Dich dort zu fesseln, und wenn Du nun vollends in Begleitung Deines Bruders gehst, so ist es wohl selbstverständlich, daß Du so lange, wie nur möglich, von mir ferngehalten wirst.“
Reinhold blieb plötzlich stehen, und ein finsterer Blick flog zu ihr hinüber.
„Willst Du nicht die Güte haben, dies bis zum Ueberdruß erschöpfte Thema endlich einmal bei Seite zu lassen?“ fragte er scharf. „Ich weiß bereits hinreichend, daß zwischen Dir und Hugo keine Sympathie besteht; aber er verschont mich wenigstens mit Auseinandersetzungen darüber und verlangt nicht, daß ich seine Sympathien und Antipathien theile. Uebrigens wirst Du zugeben, daß er Dir gegenüber niemals den Cavalier verleugnet.“
Beatrice warf das Bouquet bei Seite und erhob sich. „O gewiß, das gebe ich zu, und eben diese angenommene Ritterlichkeit ist es, die mich so empört. Diese liebenswürdigen Unterhaltungen mit dem ewigen Spottpfeile auf den Lippen, diese Aufmerksamkeiten mit dem Hohne tief im Auge, das ist so recht die deutsche Art, unter der ich so oft gelitten habe in Eurem Norden, die uns in den Kreis der sogenannten Gesellschaftsregeln bannt, die uns darin festzuhalten weiß, und wenn man noch so erbittert mit einander kämpft. Dein Bruder versteht das meisterhaft; den trifft nichts und verwundet nichts; Alles gleitet ab an diesem ewigen Spottlächeln. Ich – ich hasse ihn und er mich nicht minder.“
„Schwerlich!“ sagte Reinhold bitter. „Denn im Hassen bist Du eine Meisterin, die so leicht Keiner erreicht. Ich habe das oft genug gesehen, wenn Du Dich von irgend Jemandem beleidigt glaubtest. Das fluthet bei Dir gleich über alle Schranken. Diesmal aber wirst Du Dich erinnern, daß es mein Bruder ist, gegen den sich dieser Haß richtet, und daß ich nicht gesonnen bin, mir das erste kurze Zusammensein nach Jahren dadurch rauben zu lassen. Ich dulde keine Beleidigung und keinen Angriff gegen Hugo.“
„Weil Du ihn mehr liebst als mich,“ rief Beatrice ungestüm, „weil ich Dir nichts gelte neben Deinem Bruder. Freilich, was bin ich Dir auch –“ und jetzt war die Bahn gebrochen zu einer wahren Fluth von Vorwürfen, Klagen und Drohungen, die schließlich in einem Thränenstrom endigten. Die ganze Leidenschaft der Italienerin brach hervor; aber Reinhold schien dadurch zu nichts weniger als zur Nachgiebigkeit gestimmt zu werden. Er versuchte einige Male, ihr Einhalt zu thun, und als dies nicht gelang, stampfte er wüthend mit dem Fuße.
„Noch einmal, Beatrice, laß diese Auftritte! Du weißt, daß Du damit nichts bei mir ausrichtest, und ich dächte, Du hättest nun schon hinreichend die Erfahrung gemacht, daß ich nicht ein willenloser Sclave bin, dem ein Wort, eine Laune von Dir Befehl ist. Ich ertrage sie nicht länger, diese ewigen Scenen, die Du bei all’ und jedem Anlasse hervorrufst.“
Er trat stürmisch zum Balcon und, dem Gemache den Rücken zukehrend, blickte er hinab auf die Straße, wo sich das rege Leben und Treiben des Corso entfaltete. Im Salon hörte man noch einige Minuten lang das leidenschaftliche Schluchzen Beatricens, aber dann verstummte es, und gleich darauf legte sich eine Hand auf die Schulter des am Fenster Stehenden.
„Rinaldo!“
Halb widerstrebend wandte er sich um. Sein Blick begegnete Beatricens heißem, dunkelm Auge; noch stand eine Thräne darin, aber es war keine Thräne des Zornes mehr, und die eben noch so erregte Stimme hatte einen weichen schmelzenden Klang.
„Du sagst, ich sei eine Meisterin im Hassen. Nur im Hassen, Rinaldo? Du hast doch oft genug das Gegentheil erfahren.“
Reinhold wandte sich vollends zu ihr und trat vom Balcon zurück.
„Ich weiß, daß Du lieben kannst,“ entgegnete er milder, „heiß und voll lieben. Aber Du kannst auch quälen mit dieser Liebe; das muß ich täglich empfinden.“
„Und dieser ‚Qual‘ möchtest Du entfliehen, wenigstens auf einige Zeit?“
Aus ihrer Stimme sprach ein herber Vorwurf. Almbach machte eine ungeduldige Bewegung.
„Ich suche Ruhe, Beatrice,“ sagte er, „und die finde ich nun einmal nicht in Deiner Nähe. Du kannst nur in fortwährender Gluth und Aufregung athmen; beides ist Dir Lebensbedingung, und Du reißest Deine ganze Umgebung mit Dir in den ewig lodernden Feuerkreis Deines Wesens. Ich – bin müde.“
„Der Gesellschaft, oder meiner?“ fragte Beatrice mit wieder aufblitzender Heftigkeit.
„Kannst Du es denn nicht lassen, in jedem Worte einen Stachel zu suchen?“ fuhr Reinhold auf. „Ich sehe, daß wir heute wieder einander nicht verstehen. Leb’ wohl!“
„Du gehst?“ rief die Italienerin halb erschreckt, halb drohend. „Und mit diesem Abschiede für eine wochenlange Trennung?“
Reinhold, der schon an der Thür war, besann sich und kehrte langsam um.
„Ja so, ich vergaß die Abreise. Leb’ wohl, Beatrice!“
Aber so leicht sollte ihm der Abschied nicht gemacht werden. Signora Biancona hatte es längst verlernt, dem Manne dauernd zu trotzen, der es nun einmal verstand, ihren sonst so launenhaften Willen dem seinigen zu beugen, und als er sich ihr wieder näherte, da war es vorbei mit jedem ferneren Widerstande. Ihre Stimme bebte, als sie leise fragte: „Und Du willst wirklich allein gehen, ohne mich?“
„Beatrice –“
„Allein, ohne mich?“ wiederholte sie leidenschaftlicher. Reinhold machte einen Versuch, ihr seine Hand zu entziehen, aber es blieb bei dem Versuche.
„Cesario erwartet mich auf das Bestimmteste,“ sagte er abwehrend, „und ich habe Dir schon einmal erklärt, daß Du mich nicht begleiten kannst –“
„Nach Mirando nicht,“ fiel Beatrice ein, „das weiß ich. Aber was hindert mich denn, den ursprünglichen Plan zu ändern und den ersten Sommeraufenthalt, anstatt im Gebirge, jetzt in S., der großen Villeggiatur aller Fremden, zu nehmen? Es liegt nahe genug bei Mirando, in einer halben Stunde trägt Dich das Boot zu mir herüber. Wenn ich Dir folgte – darf ich, Rinaldo?“
Er war unwiderstehlich, dieser Ton schmeichelnder Bitte, und noch unwiderstehlicher bat ihr Blick, Reinhold sah schweigend nieder auf die schöne Frau, deren Liebe, deren Besitz ihm einst als der höchste Preis des Glückes erschienen. Der Zauber übte noch immer seine alte Macht und übte sie gerade dann am stärksten, wenn er den Versuch machte, ihm zu entrinnen. In Worten ward die Gewährung freilich nicht gegeben, aber Beatrice sah es, als er sich zu ihr niederbeugte, daß sie diesmal gesiegt hatte. Als er sie eine halbe Stunde darauf wirklich verließ, war die Aenderung in ihrem Reiseplane eine beschlossene Sache, und der Abschied galt nicht einer Trennung von Wochen, sondern nur von Tagen.
Es dämmerte bereits, und der Mond stieg langsam empor, als Reinhold seine eigene Wohnung erreichte, die in einiger Entfernung, im freieren Theile der Stadt lag. Beim Eintritt in das Empfangszimmer fand er dort den Capitain, der seinem Diener soeben eine nachdrückliche Strafpredigt gehalten zu haben schien, denn Jonas stand vor ihm mit der Miene äußerster Zerknirschung, die sich in komischer Weise mit einem verhaltenen Ingrimm mischte, dem Worte zu leihen ihn wohl nur die Gegenwart seines Herrn abhielt.
„Was giebt es denn?“ fragte Reinhold etwas befremdet.
„Eine Inquisitionssitzung,“ entgegnete Hugo ärgerlich. „Seit Jahren schon mühe ich mich vergebens ab mit diesem verstockten Sünder und unverbesserlichen Weiberfeind, aber da hilft weder Lehre noch Beispiel. – Jonas, Du gehst jetzt augenblicklich hinauf zur Padrona, bittest um Verzeihung und versprichst künftig manierlicher zu sein. Marsch, hinaus!“
„Ich werde ihn schließlich noch nach der Ellida zurückschicken müssen,“ fuhr er zu seinem Bruder gewandt fort, nachdem Jonas das Zimmer verlassen hatte. „Da ist die Schiffskatze das einzige weibliche Wesen, das er um sich hat, und mit dem wird er hoffentlich noch auskommen.“
Reinhold warf sich in einen Sessel. „Ich wollte, ich hätte Deinen unverwüstlichen Humor, Deine glückliche Gabe, das Leben leicht wie ein Spiel zu nehmen. Ich habe das nie vermocht.“
„Nein, der Grundton Deines Wesens war immer elegisch,“ meinte der Capitain. „Ich glaube, Du hast mich nie recht als ebenbürtig betrachtet, weil ich nicht so ideal-romantisch alle Höhen erfliegen und alle Tiefen durchdringen konnte und mochte, wie Ihr Künstlernaturen. Wir Seeleute sind nun einmal auf die Oberfläche angewiesen, und wenn auch hin und wieder der Sturm die Tiefe aufwühlt, uns macht das nichts; wir bleiben eben oben.“
„Ganz recht,“ sagte Reinhold düster. „Bleibe Du auf Deiner hellen sonnigen Oberfläche! Glaube mir, Hugo, es ist nur Schlamm in der Tiefe da unten, wo man nach Schätzen suchte, und es weht ein Eishauch auf den Höhen da oben, wo man nur goldenes Sonnenlicht geträumt – ich habe Beides durchgekostet.“
Hugo blickte forschend auf seinen Bruder, der in dem Sessel mehr lag als saß, das Haupt wie todtmüde zurückgelehnt, während die düstern Augen weit hinaus schweiften über die Gärten der Umgebung und zuletzt an dem noch matt erhellten Horizonte haften blieben, wo soeben das letzte Tageslicht verschwand.
„Höre Reinhold, Du gefällst mir ganz und gar nicht,“ brach er auf einmal los. „Ich komme nach Jahren, um meinen Bruder wiederzusehen, dessen Name alle Welt erfüllt, dem das Schicksal alles gegeben, was es einem Menschen nur geben kann; ich finde Dich auf der Höhe des Ruhmes und Glückes – und da glaubte ich Dich anders zu finden.“
„Und wie denn?“ fragte Reinhold, ohne den Kopf zu heben oder das Auge von dem dämmernden Abendhimmel abzuwenden.
„Ich weiß nicht,“ sagte der Capitän ernst, „aber das weiß ich, daß ich schon nach vierzehn Tagen dieses Leben nicht mehr aushalte, das Du jahrelang geführt hast. Dieses ruhelose Stürmen von Genuß zu Genuß ohne irgend eine Befriedigung, dieses fortwährende Schwanken zwischen wilder Aufregung und tödtlicher Ermattung sagt meiner Natur nicht zu. Du solltest der Deinigen Zügel anlegen.“
Reinhold machte eine halb ungeduldige Bewegung. „Thorheit! Ich bin längst daran gewöhnt, und dann – das verstehst Du nicht, Hugo.“
„Möglich! Wenigstens bedarf ich noch keiner Betäubung.“ Reinhold fuhr auf; ein Blick flammenden Zornes traf den Bruder, der es versuchte, ihm so tief in’s Innere zu sehen, und der ganz unbeirrt fortfuhr:
„Denn nur Betäubung ist es, nach der Du Tag für Tag ringst, die Du überall suchst, ohne sie je zu finden. Gieb dieses Leben auf – ich bitte Dich, Du richtest Dich damit geistig und körperlich zu Grunde; Du mußt ja schließlich unterliegen.“
„Seit wann ist der lebensfrohe Capitain der Ellida denn zum Moralprediger geworden?“ spottete Reinhold mit dem herbsten Ausdrucke, der ihm zu Gebote stand. „Wer hätte vor Zeiten gedacht, daß Du mir in dieser Weise den Text lesen würdest! Aber gieb Dir keine Mühe mit meiner Bekehrung, Hugo! Ich habe die frommen Jugendideen ein für alle Mal abgeschworen.“
Der Capitain schwieg. Das war wieder der Ton verletzenden Hohnes, mit dem sich Reinhold unnahbar zu machen wußte, sobald ähnliche Gegenstände berührt wurden; dieser Ton, der jeden Einfluß unmöglich machte, in jede Jugenderinnerung wie ein Mißlaut hineinklang und das einst so warme Verhältniß der Brüder fremd und erkältend berührte. Hugo versuchte auch heute nicht, das zu ändern; er wußte, daß es vergebens sein würde. Sich abwendend, ergriff er ein auf dem Tische liegendes Buch und begann darin zu blättern.
„Ich habe ja noch kein einziges Wort von Dir über meine Werke gehört,“ begann Reinhold nach einem minutenlangen Stillschweigen von Neuem. „Du hast ja hier Gelegenheit gehabt, meine Opern kennen zu lernen. Wie findest Du sie?“
„Ich bist kein Musikkenner,“ sagte Hugo ausweichend.
„Das weiß ich, und eben deshalb lege ich Werth auf Dein Urtheil, weil es das des unbefangenen, aber scharfblickenden Publicums ist. Wie findest Du meine Musik?“
Der Capitain warf das Buch auf den Tisch.
„Sie ist genial und –“ er hielt inne.
„Und?“
„Zügellos wie Du selber. Du und Deine Töne, Ihr geht über jedes Maß hinaus.“
„Eine vernichtende Kritik,“ sagte Reinhold halb spöttisch, halb betroffen. „Gut, daß nur ich sie höre; im Kreise meiner Bewunderer würdest Du übel damit ankommen. Also etwas Genialität gestehst Du mir doch wirklich noch zu?“
„Wo Du selbst sprichst, ja!“ erklärte Hugo mit voller Bestimmtheit, „aber das geschieht selten genug. Stets überwuchert dieses fremde Element, das Deinem Talente die Richtung gegeben hat und es noch jetzt beherrscht. Ich kann mir nicht helfen, Reinhold, aber dieser Einfluß, dem Du von Anfang an gefolgt bist, den alle Welt als so erhebend preist, er ist kein heilbringender gewesen, auch für den Künstler nicht. Ohne ihn wärst Du vielleicht noch nicht so berühmt, aber unbedingt größer.“
„Wahrhaftig, Beatrice hat Recht, wenn sie in Dir den unversöhnlichen Gegner fürchtet,“ bemerkte Reinhold mit unverstellter Bitterkeit. „Freilich, sie setzt nur ein persönliches Vorurtheil bei Dir voraus. Daß Du nicht einmal ihren künstlerischen Einfluß auf mich gelten lassen willst, das möchte ihr doch neu sein.“
Hugo zuckte die Achseln. „Sie hat Dich ganz und gar in die italienische Art hineingezogen. Du stürmst immer, wo die Anderen nur tändeln, aber gleichviel! Warum schreibst Du nicht deutsche Musik? Doch was rede ich? Du hast ja der Heimath und all ihren Beziehungen für immer den Rücken gekehrt.“
Reinhold stützte den Kopf in die Hand. „Ja wohl – für immer.“
„Das klang ja beinahe wie Sehnsucht,“ warf der Capitain hin, das Gesicht des Bruders scharf fixirend. Dieser sah finster auf.
„Was soll das? Denkst Du vielleicht, ich sehnte mich zurück nach den alten Ketten, weil ich in der Freiheit nicht das erträumte Glück gefunden? Wenn ich eine Annäherung versuchte, so –“
„Ah so, Du hast eine Annäherung versucht? An Deine Frau?“
„An Ella?“ fragte Reinhold, und es war wieder das alte Gemisch von Mitleid und Verachtung, das sich in seiner Stimme verrieth, sobald er von seiner Gattin sprach, „wozu hätte das wohl führen sollen? Du weißt doch, wie ich damals gegangen bin, es geschah im vollsten Bruche mit ihren Eltern, und da muß ein so beschränktes und abhängiges Wesen wie Ella natürlich in deren Verdammungsurtheil einstimmen, wenn sie sich überhaupt je bis zu einem eigenen Urtheil erhoben hat. War die Kluft zwischen uns früher weit, so ist sie jetzt, nach Allem was geschehen ist, endlos geworden. Nein, davon konnte keine Rede sein, aber ich wollte Nachricht von meinem Kinde haben. Ich ertrug es nicht länger, den Knaben fern zu wissen, ihn nicht sehen zu dürfen, nicht einmal ein Bild von ihm zu besitzen. Ich wollte Nachricht um jeden Preis, deshalb wählte ich den kürzesten Weg und schrieb an die Mutter.“
„Nun, und –?“ fragte Hugo gespannt.
Reinhold lachte bitter auf. „Nun, ich hätte mir die Demüthigung ersparen können. Es kam keine Antwort – das war freilich Antwort genug, aber ich wollte nun einmal wissen, wie es dem Kinde gehe; ich glaubte an die Möglichkeit eines Irrthums, eines Verlierens, an was glaubt man nicht in solchem Falle, und schrieb zum zweiten Male. Der Brief kam uneröffnet zurück“ – er ballte im wilden Zorne die Hand – „Uneröffnet! Mir das, mir! Es ist das Werk des Onkels, daran ist kein Zweifel. Ella hätte nie gewagt, mir das zu bieten.“
„Meinst Du? Da kennst Du Deine Frau nicht. Sie hat es allerdings ‚gewagt‘, und sie allein konnte es wagen; denn die Eltern sind todt, schon seit Jahren.“
Reinhold wandte sich rasch um. „Woher weißt Du das? Stehst Du noch in Verbindung mit H.?“
„Nein,“ sagte der Capitain ruhig. „Du kannst Dir wohl denken, daß die Stimmung, die in der Familie gegen Dich herrschte, zum Theil wenigstens auch auf mich übertragen wurde. Seit ich H. damals wenige Tage nach Dir verließ, habe ich es nicht wieder besucht, aber ich stehe noch in Correspondenz mit dem ehemaligen Buchhalter des Almbach’schen Hauses, der das Geschäft übernommen hat und es auf eigene Rechnung fortführt. Von ihm erfuhr ich Einiges.“
„Und das sagst Du mir jetzt erst, nach beinahe vierzehntägigem Zusammensein?“ rief Reinhold beinahe ungestüm.
„Ich habe selbstverständlich einen Punkt nicht berühren wollen, von dem es mir schien, daß Du ihn zu vermeiden wünschtest,“ entgegnete Hugo kühl.
Reinhold ging einige Male im Zimmer auf und nieder. „Die Eltern sind also todt? Und Ella und das Kind?“
„Ihretwillen brauchst Du nicht in Sorge zu sein. Der Onkel hat ein nicht unbedeutendes Vermögen hinterlassen, weit mehr, als man geglaubt.“
„Ich wußte, daß er viel reicher war, als er gelten wollte,“ sagte Reinhold rasch. „Und diese Gewißheit allein gab mir die volle Freiheit des Handelns bei meiner Entfernung. Ich war für Frau und Kind nicht nothwendig. Sie waren gesichert vor jedem Wechselfalle des Schicksals auch ohne meine Nähe. Aber wo sind sie jetzt? Noch in H.?“
„Consul Erlau wurde Vormund des Knaben,“ berichtete Hugo ziemlich kurz und gemessen. „Er scheint sich auch der jungen, wohl nun sehr vereinsamten Frau thätig angenommen zu haben, denn bereits nach Ablauf der Trauerzeit siedelte sie mit dem Kinde in sein Haus über. Dort lebten Beide noch vor einem halben Jahre; bis dahin reichen meine Nachrichten.“
„So?“ meinte Reinhold gedankenvoll. „Nun, da begreife ich nur nicht, wie Ella mit ihrer Erziehung und ihrer Persönlichkeit es möglich macht, in dem großartigen Erlau’schen Haushalte auch nur zu existiren. Freilich, sie wird sich ein paar Hinterzimmer eingerichtet haben, nie zum Vorschein kommen, oder trotz ihres Vermögens die Stelle einer Wirthschafterin übernehmen. Ueber dieses Niveau war sie ja nun einmal nicht hinaus zu bringen. Wäre das nicht gewesen, ich hätte viel, hätte Alles ertragen – um des Kindes willen.“
Er trat zum Fenster, stieß es auf und lehnte sich weit hinaus. Die Abendluft strömte kühl hinein in das schwüle Zimmer, wo jetzt ein längeres Stillschweigen eintrat, denn auch der Capitain schien keine Lust zu einer weiteren Fortsetzung des Gespräches zu haben; nach einer Weile erhob er sich.
„Unsere Abreise ist morgen sehr früh angesetzt; wir werden zeitig wach sein müssen. Gute Nacht, Reinhold!“
„Gute Nacht!“ antwortete Reinhold, ohne sich umzuwenden.
Hugo verließ das Gemach. „Ich wollte, diese Circe von Beatrice sähe ihn einmal in solchen Stunden,“ murmelte er, die Thür in’s Schloß werfend. „Sie haben gesiegt, Signora, und ihn an sich gerissen als Ihr unbestreitbares Eigenthum – glücklich haben Sie ihn nicht gemacht.“
Noch einige Minuten lang verharrte Reinhold unbeweglich an seinem Platze; dann richtete er sich empor und ging hinüber nach seinem Arbeitszimmer. Er mußte mehrere der Gemächer durchschreiten, um dorthin zu gelangen. Die Wohnung, die das ganze untere Stockwerk der geräumigen Villa einnahm, war nicht so glänzend wie die Signora Biancona’s und dennoch verschwenderischer eingerichtet; denn die Pracht, die dort vorherrschte, wurde hier zehnfach aufgewogen durch den künstlerischen Schmuck der Räume. Da hingen Gemälde an den Wänden, standen Statuen in den Fensternischen, deren Werth nur nach Tausenden berechnet werden konnte; da waren die herrlichsten Kunstschätze Italiens in meisterhaften Nachbildungen vorhanden. Wohin das Auge nur blickte, traf es auf Vasen, Büsten, Zeichnungen und Prachtwerke, die anderswo schon allein die Zierde eines Salons gebildet hätten und die hier, überall hin zerstreut nur als beiläufiger Schmuck dienten. Es war eine Fülle von Schönheit und Kunst, wie sie in dieser verschwenderischen Art eben nur ein Rinaldo um sich versammeln konnte, dem mit dem Ruhme auch das Gold in nie versiechender Fülle zuströmte und der gewohnt war, das letztere völlig achtlos wieder von sich zu werfen.
In der Mitte des Arbeitszimmers stand ein prachtvoller Flügel, das Geschenk eines begeisterten Verehrerkreises, der dem Meister ein sichtbares Zeichen seines Dankes hatte darbringen wollen; den Schreibtisch bedeckten Karten und Briefe, welche die ersten Namen im Reiche der Geburt und des Geistes trugen und die hier gleichgültig bei Seite geschoben waren, ohne daß der Empfänger den mindesten Werth darauf zu legen schien; von der Hauptwand aber blickte das lebensgroße Bild Beatrice Biancona’s herab, von berühmter Künstlerhand in genialster Auffassung und wahrhaft sprechender Aehnlichkeit gemalt. Sie trug das idealische Costüm einer ihrer Hauptrollen in den Opern Rinaldo’s, mit deren hinreißender Darstellung sie diese Werke erst zur vollen Höhe ihrer Berühmtheit emporgehoben hatte, mit der sie selbst erst zu einer Künstlerin ersten Ranges hinaufgestiegen war. Es war dem Maler gelungen, den ganzen berückenden Zauber, den glühenden Reiz des Originals in diesem Portrait zu verkörpern. Die schöne Gestalt schien sich in unnachahmlich graciöser Stellung halb dem Flügel zuzuwenden, und die dunklen Augen blickten mit täuschender Lebenswahrheit herab auf den Mann, den sie nun so lange schon in unlösbaren Banden hielten, als wollten sie ihn selbst hier, im Heiligthume seines Wirkens und Schaffens, nicht allein lassen.
Reinhold saß am Flügel und phantasirte. Das Gemach war nicht erhellt, nur das voll hereinströmende Mondlicht schwebte über dem Meere von Tönen, das hier aufbrauste, als ob der Sturm in seinen Wogen wühle, sie bald anschwellend zu Bergeshöhe, bald wieder eine Abgrundtiefe entschleiernd. Jetzt quollen die Melodien empor, leidenschaftlich, glühend, berauschend, und dann auf einmal zuckte es jäh dazwischen, wie schneidende Dissonanzen, wie grelle Mißlaute. Das waren die Töne, mit denen Rinaldo schon seit Jahren im Reiche der Musik herrschte, mit denen er die Menge zur Bewunderung fortriß, vielleicht weil sie jenem dämonischen Elemente eine Sprache liehen, das in der Brust eines Jeden schlummert, und dessen sich wohl schon Jeder einmal, halb mit Grauen und halb mit süßem Schauer, bewußt geworden ist. Es lag in diesen Melodien auch etwas von dem wilden Stürmen von Genuß zu Genuß, von dem jähen Wechsel zwischen fieberischer Aufregung und tödtlicher Ermattung, von dem Ringen nach Betäubung, die, ewig gesucht, nie gefunden wurde, und doch klang immer und immer wieder etwas Mächtiges, Ewiges hindurch, das nichts gemein hatte mit jenem Elemente, das mit ihm kämpfte, sich darüber erhob, um schließlich doch wieder darin unterzugehen. –
Aus den Gärten stiegen die Orangendüfte empor und flutheten herein durch die weit geöffneten Balconthüren und wehten berauschend hin durch das Gemach. Klar, voll unendlicher Schönheit und unendlichen Friedens lag der Mondesglanz über der ewigen Stadt, und im bläulichen Nebeldufte verschwand die dämmernde Ferne. Träumerisch rauschte die Fontaine dort unten inmitten der Blüthenbäume, und das Licht, das in den fallenden Tropfen glänzte, erhellte jetzt auch in vollster Klarheit die ganze Reihe der Gemächer mit ihren Kunst- und Marmorschätzen; es beleuchtete das Bild in dem reich vergoldeten Rahmen, so daß die dämonisch schöne Gestalt da oben zu leben schien, und fiel auf das Antlitz des Mannes, dessen Stirn inmitten all dieser Schönheit und all dieses Friedens so schwer umdüstert blieb.
Freilich, es lagen Jahre zwischen jenen langen nordischen Winternächten, in denen der junge Künstler seine ersten Compositionen schuf, und dieser duftigen Mondnacht des Südens, in welcher der hochgefeierte Rinaldo das Hauptthema seiner Oper in unendlichen Variationen wiederholte, und wohl noch vieles Andere, was schwerer wog, als die Jahre allein. Und doch versank das Alles in dieser Stunde. Leise kam die Erinnerung gezogen und ließ längstvergangene Tage wieder aufleben, längstvergessene Bilder wieder hervortreten, das kleine Gartenhaus mit seinen alterthümlichen Möbeln und der dürftigen Weinranke über dem Fenster, das armselige Stückchen Gartenland mit den wenigen Bäumen und Gesträuchen und den hohen gefängnißartigen Mauern ringsum, das enge, düstere Haus mit dem so tief gehaßten Geschäftszimmer. Matte farblose Bilder – und doch wollten sie nicht weichen, denn über ihnen schwebten lächelnd ein paar große tiefblaue Kinderaugen, die dem Vater nur dort geleuchtet hatten, und die er hier, in dieser Umgebung voll Poesie und Schönheit, vergebens suchte. Er hatte sie so oft gesehen in dem Antlitze seines Kindes, und dann auch einmal noch – anderswo. Die Erinnerung daran war freilich halb verweht, fast vergessen, hatten sie sich ihm doch nur auf einen Augenblick gezeigt, um sich dann wieder zu verschleiern, wie sie es jahrelang gethan, aber diese Augen waren es doch, die ihm allein vorschwebten, als sich jetzt aus dem Wogen und Wallen der Töne eine zauberisch süße Melodie emporrang. Es sprach ein unendliches Sehnen daraus, ein Weh, das die Lippen nicht aussprechen wollten, und es schlug die Brücke hinüber zu der fernen, fernen Vergangenheit. Jetzt hatte der Genius die Fesseln gesprengt, die ihn damals drückten und einengten; jetzt stand er oben auf der einst erträumten Höhe. Was Leben und Glück, was Ruhm und Liebe nur zu geben vermochten, das war ihm zu Theil geworden, und jetzt – wie ein Sturm brauste es wieder empor aus den Tasten, wild, leidenschaftlich, bacchantisch, und daraus hervor klagte immer wieder jene Melodie mit ihrem ergreifenden Weh, mit ihrem ruhelosen, nie gestillten Sehnen.