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Inhaltsverzeichnis

„Das ist jetzt ein Elend hier im Hause!“ sagte der alte Buchhalter im Comptoir, indem er die Feder hinter das Ohr steckte und das Rechnungsbuch zuklappte. „Der junge Herr seit drei Tagen fort, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben, ohne nach Frau und Kind zu fragen – der Herr Capitain setzt den Fuß nicht mehr über die Schwelle – der Principal geht in einer Wuth herum, daß man es kaum wagt, ihm nahe zu kommen, und die junge Frau Almbach sieht aus, daß Einem das Herz in der Brust weh thut, wenn man sie nur anschaut. Weiß der Himmel, was aus dieser unglückseligen Geschichte noch werden wird!“

„Aber wie ist denn der Bruch nur so plötzlich gekommen?“ fragte der erste Commis, der gleichfalls – es war der Schluß der Comptoirstunde – seine Schreibereien bei Seite legte und sein Pult verschloß.

Der Buchhalter zuckte die Achseln. „Plötzlich? Ich glaube kaum, daß er Einem von uns unerwartet kam. Das hat ja wochen- und monatelang gewühlt in der Familie; es fehlte nur noch der Funke in all dem Zündstoffe, und der ist schließlich auch gekommen. Frau Almbach brachte aus einer Damengesellschaft die Neuigkeit mit nach Hause und so erfuhr denn auch ihr Mann, was bereits die halbe Stadt weiß, und was nun freilich Keiner gern von seinem Schwiegersohne hört. Sie kennen ja den Principal und wissen, mit welchem Widerwillen er von jeher diese ganze Künstlergeschichte angesehen, wie er dagegen gekämpft hat, und nun noch diese Entdeckung! Er ließ den jungen Herrn rufen, und da gab es einen Auftritt – ich habe ihn theilweise im Nebenzimmer mit angehört. Hätte Herr Reinhold sich wenigstens noch vernünftig benommen und nachgegeben, hier, wo er doch wahrhaftig nicht schuldlos war, die Sache wäre vielleicht noch beigelegt worden, statt dessen aber setzte er seinen ärgsten Trotzkopf auf, sagte dem Schwiegervater in’s Gesicht, er wolle nicht länger Kaufmann bleiben, wolle nach Italien gehen, Musiker werden, er habe die Sclaverei hier lange genug ausgehalten, und was dergleichen Dinge mehr waren. Der Principal kannte sich nicht mehr vor Wuth; er verbot, drohte, beleidigte endlich, und da freilich war’s aus. Der junge Herr brach los mit einer Wildheit, daß ich glaubte, es würde ein Unglück geben. Wie wahnsinnig stampfte er mit dem Fuße und rief: ‚Und wenn die ganze Welt sich dagegen setzt, es geschieht doch. Ich lasse mich nicht länger knechten, lasse mir mein Denken und Fühlen nicht vorschreiben.‘ Und in dem Tone ging es fort; eine Stunde darauf stürmte er aus dem Hause und hat noch nichts wieder von sich hören lassen. Gott bewahre einen Jeden vor solchen Familienscenen!“

Der alte Herr legte die Feder bei Seite, verließ seinen Sitz und wünschte den übrigen Herren einen guten Abend, während er zugleich Anstalt machte, das Comptoir zu verlassen. Er hatte aber kaum einige Schritte in den Hausflur hinaus gethan, als er dort mit Hugo Almbach zusammentraf, der rasch von der Straße her einbog. Der Buchhalter schlug im freudigen Schreck die Hände zusammen.

„Gott sei Dank, daß wenigstens Sie sich wieder sehen lassen, Herr Capitain!“ rief er. „Es thut uns wahrlich Noth hier im Hause.“

„Steht das Thermometer immer noch auf Sturm?“ fragte Hugo, mit einem Blicke nach dem oberen Stock hinauf.

Der Buchhalter seufzte. „Auf Unwetter! Vielleicht bringen Sie uns Sonnenschein.“

„Schwerlich!“ sagte Hugo ernst. „Augenblicklich suche ich Frau Almbach. Sie ist doch zu Hause?“

„Ihre Frau Tante ist mit dem Herrn Principal ausgegangen,“ berichtete Jener.

„Nicht doch. Ich meine meine Schwägerin.“

„Die junge Frau? Du lieber Gott, die haben wir in den drei Tagen kaum zu Gesichte bekommen. Sie wird wohl oben im Kinderzimmer sein; sie geht jetzt kaum eine Minute mehr weg von dem Kleinen.“

„Ich werde sie aufsuchen,“ erklärte Hugo, mit flüchtigem Gruße die Treppe hinaufeilend. „Guten Abend!“

Der Buchhalter sah ihm kopfschüttelnd nach. Er war es so gar nicht gewohnt, daß der junge Capitain ohne irgend einen Scherz, ohne eine Neckerei an ihm vorüberging, und er hatte auch die Wolke bemerkt, die heute auf der sonst so hellen Stirn des jungen Mannes lag. Er schüttelte noch einmal den Kopf und wiederholte seinen Stoßseufzer von vorhin. „Weiß der Himmel, wie die Geschichte enden wird!“

Hugo hatte inzwischen die Wohnung seiner Schwägerin erreicht. „Ich bin’s, Ella,“ sagte er eintretend. „Habe ich Sie erschreckt?“

Die junge Frau war allein; sie saß am Bettchen ihres Knaben. Der jugendlich rasche Schritt draußen und das schnelle Oeffnen der Thür mochten sie wohl über den Kommenden getäuscht haben, sie hatte sicher einen Anderen erwartet. Das bewies ihr jähes Auffahren und die Gluth in ihrem Antlitz, die urplötzlich einer tiefen Blässe wich, als sie in dem Eintretenden ihren Schwager erkannte.

„Der Onkel treibt die Ungerechtigkeit so weit, auch mir sein Haus zu verbieten,“ fuhr dieser fort, indem er näher trat. „Er hält nun einmal fest an dem Gedanken, daß auch ich einen Antheil an dem unglückseligen Zerwürfniß habe. Ich hoffe, Ella, Sie sprechen mich frei davon.“

Die junge Frau hörte kaum auf die letzten Worte. „Sie bringen mir Nachricht von Reinhold?“ fragte sie rasch mit fliegendem Athem. „Wo ist er?“

„Sie haben doch wohl nicht erwartet, daß er selbst kommt,“ fragte der Capitain ausweichend. „Welche Schuld er auch bei der ganzen Sache tragen mag, die Behandlung von Seiten des Onkels war derart, daß sich ein Jeder dagegen erhoben hätte. In dem Punkte stehe ich ganz auf seiner Seite und begreife es vollkommen, daß er mit der Absicht ging, nicht zurückzukehren. Ich hätte es auch gethan.“

„Es war ein furchtbarer Auftritt,“ versetzte Ella, die hervorbrechenden Thränen niederkämpfend. „Die Eltern erfuhren von anderer Seite, was ich ihnen um jeden Preis verbergen wollte, und Reinhold war entsetzlich in seiner wilden Gereiztheit. Er verließ uns, aber ein Wort hätte er mir in den drei Tagen doch zukommen lassen können, wenigstens durch Sie. Er ist doch bei Ihnen?“

„Nein,“ erwiderte Hugo kurz, beinahe herb.

„Nicht?“ wiederholte Ella, „er ist nicht bei Ihnen? Ich nahm es als selbstverständlich an, daß er dort sei.“

Der Capitain sah zu Boden. „Er kam zu mir, und zwar in der Absicht, zu bleiben, aber es stellte sich eine Differenz zwischen uns heraus. Reinhold ist maßlos heftig, wenn ein gewisser Punkt berührt wird; ich konnte und mochte ihm meine Ansichten darüber nicht verhehlen, und wir geriethen zum ersten Male in unserem Leben ernstlich in Streit. Er verweigerte es daraufhin, mein Gast zu sein; ich habe ihn erst heute Mittag wiedergesehen.“

Ella erwiderte nichts. Sie fragte auch nicht, was den Anlaß zum Streite gegeben, fühlte sie doch nur zu gut, daß sie in dem für so leichtsinnig, übermüthig und herzlos gehaltenen Schwager den energischsten Schutz ihrer Rechte gehabt hatte.

„Ich habe noch einmal das Aeußerste versucht,“ sagte er dicht an ihre Seite tretend, „obgleich ich wußte, daß es umsonst sein werde. Aber Sie – Ella? Konnten Sie ihn nicht halten?“

„Nein,“ entgegnete die junge Frau. „Ich konnte nicht – und ich wollte auch nicht mehr.“

Statt aller Antwort wies Hugo nach dem schlafenden Kinde hinüber; sie schüttelte heftig den Kopf.

„Um seinetwillen habe ich mich überwunden und den Mann, der sich um jeden Preis von mir losreißen wollte, gebeten zu bleiben. Ich wurde zurückgewiesen; er ließ es mich fühlen, welch eine Fessel ich ihm bin – so mag er denn frei werden!“

Hugo’s Blick ruhte forschend auf ihrem Antlitz, das wieder jenen Ausdruck von Energie zeigte, der diesen Zügen einst so fremd gewesen war, langsam zog er ein Billet hervor.

„Wenn Sie denn vorbereitet sind – ich habe Ihnen einige Zeilen von Reinhold zu bringen. Er übergab sie mir vor einigen Stunden.“

Die junge Frau fuhr zusammen. Die eben noch gezeigte Festigkeit wollte nicht Stand halten, als sie auf dem Couvert die Handschrift ihres Gatten erblickte, nur seine Handschrift, wo sie sich mit Todesangst an die Hoffnung geklammert, er werde selbst kommen und wäre es auch nur, um Abschied zu nehmen. Mit bebender Hand nahm sie den Brief und erbrach ihn; er enthielt nur wenige Zeilen.

„Du bist Zeugin des Auftrittes zwischen Deinem Vater und mir gewesen und wirst es daher begreifen, daß ich sein Haus nicht wieder betrete. An meinem Entschlusse ändert jene Scene nichts; sie beschleunigt nur meine Abreise, denn die Tactlosigkeit Deiner Eltern hat der Sache eine Oeffentlichkeit gegeben, die es mir nicht wünschenswerth erscheinen läßt, auch nur eine Stunde länger in H. zu bleiben, als unbedingt nothwendig ist. Ich kann Dir und dem Kinde nicht persönlich Lebewohl sagen; denn ich setze nicht wieder den Fuß über die Schwelle, von der man mich in solcher Weise fortwies. Meine Schuld ist es nicht, wenn die zeitweise Trennung, die ich erzwingen wollte, jetzt zu einer dauernden wird und sich im gewaltsamen Bruche vollzieht. Du warst es, die mir die Bedingung stellte, entweder zu bleiben, oder für immer zu gehen. Nun denn, ich gehe! Vielleicht ist es das Beste für uns Beide. Lebe wohl!

Der Capitain mußte wohl wissen, was der Brief enthielt, denn er stand dicht an Ella’s Seite, augenscheinlich bereit, sie zu stützen, wie damals im Theater, aber diesmal verrieth die junge Frau keine Schwäche. Sie blickte stumm nieder auf die eisigen Abschiedsworte, mit denen ihr Gatte sich lossagte von Weib und Kind. Mit welcher Hast ergriff er den Vorwand, den die Härte ihres Vaters und ihre eigenen Worte ihm boten, mit welchem Aufathmen schüttelte er die belästigenden Bande ab! Unvorbereitet traf sie der Schlag freilich nicht mehr. Seit jener letzten Unterredung kannte sie ihr Schicksal.

„Er ist bereits abgereist?“ fragte sie, ohne das Auge von dem Briefe zu erheben, den sie noch immer in der Hand hielt.

„Vor einer Stunde.“

„Und – mit ihr?“

Hugo schwieg; er hatte kein ‚Nein‘ auf diese Frage. Ella erhob sich scheinbar ruhig, aber sie stützte sich doch schwer auf das Bettchen des Knaben.

„Ich wußte es. Und jetzt – lassen Sie mich allein! Ich bitte Sie.“

Der Capitain zauderte. „Ich kam gleichfalls, um Ihnen Lebewohl zu sagen,“ entgegnete er. „Meine Abreise war ohnedies bestimmt, und jetzt, nach der Entfernung meines Bruders, hält mich hier nichts mehr. Ich mache keinen Versuch, das erneute Vorurtheil des Onkels gegen mich zu brechen, aber von Ihnen, Ella, wollte ich ein Abschiedswort mit hinaus nehmen. Werden Sie es mir verweigern?“

Die junge Frau schlug langsam das Auge empor, es begegnete dem seinigen, und wie einer unwillkürliche Regung folgend, streckte sie ihm beide Hände hin.

„Ich danke Ihnen, Hugo. Leben Sie wohl!“

Er schloß mit einer raschen Bewegung die Hände in die seinigen. „Ich habe Ihnen immer nur Schmerz bringen können,“ sagte er leise. „Von mir kam die erste Nachricht, die Ihren Frieden rettungslos zerstörte; sie kam zu spät, und heute war es wieder meine Hand, die Ihnen die letzte brachte. Aber wenn ich Ihnen wehe that, Ella, wehe thun mußte – bei Gott! leicht ist es mir nicht geworden.“

Seine Lippen ruhten einen Moment lang auf ihrer Hand, dann ließ er sie fallen und verließ rasch das Zimmer; wenige Minuten darauf war er im Freien.

Es war ein rauher, echt nordischer Frühlingsabend. Einförmig plätscherte der Regen nieder; schwer und dicht hing der Nebel in den Straßen; selbst die Flammen der Laternen schimmerten nur röthlich trübe in dem grauen Dunste. In diesem Nebel trug der rollende Bahnzug Reinhold Almbach nach dem Süden, wo ihm Ruhm und Liebe, wo ihm sonnenhell die Zukunft winkte, und in derselben Stunde lag sein junges Weib daheim auf den Knieen, an der Wiege ihres Kindes und drückte das Haupt tief in die Kissen, um den Verzweiflungsschrei zu ersticken, der jetzt, wo sie sich allein wußte, doch endlich hervorbrach. Er war nicht einmal gekommen, ihr Lebewohl zu sagen; er hatte nicht ein letztes freundliches Wort für sie, nicht einmal einen Abschiedskuß für sein Kind. Sie waren Beide verlassen, aufgegeben – wahrscheinlich schon vergessen.

Herz-Sammelband: Elisabeth Bürstenbinder Liebesromane

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