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Die Prager Städte im Mittelalter
ОглавлениеPrag bietet das beste Beispiel für eine zunächst durch spontanes Wachstum längs der Uferwege zwischen der Burg Vyšehrad im Süden und der Furt über die Moldau zur Prager Burg entstandene Marktsiedlung, an die im Hoch- und Spätmittelalter mehrere planmäßig angelegte Städte angegliedert wurden. Durch die im Zusammenhang mit der Gründung der „Gallusstadt“ (1230) erfolgte Ummauerung entstand die „Prager Altstadt“ (Abb. 1.15).
Sie war flächenmäßig mit ca. 140 ha annähernd gleich groß wie Wien nach der großen Stadterweiterung unter Leopold VI. (1198–1230).
Interessanterweise fehlt in Prag ein Nachweis für die Verleihung eines eigenen Stadtrechts. Dagegen wurden einer Fernhandelssiedlung von deutschen Kaufleuten in Prag bereits 1174–1178 von Fürst Sobeslav II. ihre Vorrechte bestätigt. Noch wichtiger war ihre Verlegung auf den zentralen Standort des Altstädter Rings (Abb. 1.17), und zwar auf königliches Territorium im Verbund von Kirche (Teynkirche, Abb. 1.18), „Zollamt“ und Spital. Als Institution erinnert der Prager „Teyn“ an das „Haus der deutschen Kaufleute“ in Venedig (Fondaco dei Tedeschi, gegr. 1225) und an die für Gäste bestimmten Kaufmannshäuser in anderen europäischen Städten.
Abb. 1.14: Carcassonne, Frankreich
Schon früh siedelte sich dort jüdische Bevölkerung an. Im Unterschied zum Wiener Ghetto, das 1441 mit der Vertreibung der Juden aufgelöst wurde, bestand das Prager Ghetto (die spätere Josefstadt), trotz mehrerer Judenvertreibungen mehrfach erweitert und in der Spätgründerzeit umfassend staatlich saniert, als Wohngebiet jüdischer Bevölkerung bis zum Holocaust.
Früher als Wien, nämlich schon im Spätmittelalter, etablierte sich Prag als kaiserliche Residenz des Luxemburgers Karl IV. Euphorische Beschreibungen von Zeitgenossen haben Prag im 14. Jh. in eine Reihe mit Istanbul und Paris gestellt. Die Bezeichnung als mittelalterliche Metropole erscheint gerechtfertigt. Zu den Frühformen der Reichsverwaltung und der Verwaltung des großen und durch Silber- und Goldbergbau reichen Königreichs Böhmen kam die frühe Urbanisierung des Adels, d.h., auch der Adel hatte in Prag sein Zentrum. Hier wurden die Landtage abgehalten, die Landtafel als zentrale Evidenz alles allodialen Adelsbesitzes geführt, hier tagte das Landgericht als Gerichtshof für den Adel. Um die Erhöhung Prags zum Sitz eines Erzbischofs architektonisch zu symbolisieren, begann Karl IV. 1344 den Bau des Veitsdoms. 1348 erfolgte gleichzeitig mit der Errichtung der Universität, der ersten in Mitteleuropa, die Anlage der Neustadt von Prag. Damit wird die Reihe der Gründungen von Prager Städten, welche Ottokar II. durch die Gründung der Kleinseite 1257 begonnen hatte, auf die um 1320 die Erhebung des Hradschin zur Stadt gefolgt war, fortgesetzt (Abb. 1.16).
Abb. 1.15: Die Prager Altstadt um 1230
Kirchen: A = St. Anna, Ae = St. Aegidi, B = Bethlehemskirche, C=St. Castullus, G = St. Gallus, HG = Hl.-Geist-Kirche, J = St. Johannes (abgetragen im 18. Jh.), L = St. Linhart (abgetragen 1787), La = St. Laurentius, M = St. Martin an der Mauer, MG = Muttergotteskirche an der Lake (?), Mk = St. Martin die Kleinere (?), R = Hl. Kreuz (Rotunde), V = St. Valentin (in josefinischer Zeit zerstört) Klöster: K = Klarissinnenkloster, Kl = Klementinum, M = Minoritenkloster
Abb. 1.16: Die Prager Städte unter Karl IV.
Abb. 1.17: Prager Altstadt, Ring
Die Dimensionen der Neustadt, insbesondere die beiden großen Plätze, der Wenzelsplatz und der Karlsplatz, übertreffen alles, was sonst im Mittelalter an geplanter Stadtgestaltung nachweisbar ist. Der Wenzelsplatz, der einstige Roßmarkt, maß in der Breite 2 Seile (die damals übliche Meßeinheit, d.h. ca. 24,2 m) bei einer Länge von fast 800 m. Der Karlsplatz, der einstige Viehmarkt, war doppelt so breit und nahezu gleich lang. Mit Flächen von 3,87 ha bzw. 8,05 ha handelte es sich um die damals größten Plätze europäischer Städte.
Ein Mauerring von 3,5 km Länge mit insgesamt 13 Toren umschloß die Neustadt. In der Anlage des Straßennetzes, vor allem in der Breite der Straßen, ist eine Vorwegnahme des barocken Städtebaus erfolgt, breite Boulevards ersetzten die fußgängerbezogene Enge der Gassen der mittelalterlichen Altstadt in Prag. In der Neustadt beträgt damit das Verhältnis von Verkehrsfläche zu Baublockfläche 1:1 gegenüber 1: 3,5 in der Altstadt.
Abb. 1.18: Prag, Teynkirche
Abb. 1.19: Stadtzentrum von San Gimignano
Die vier Prager Städte hatten zur Zeit Karls IV. eine Fläche von rund 7,47 km2, davon war mehr als die Hälfte unverbaut und wurde von Gärten und Weingärten eingenommen. Diese enorme Baulandreserve konnte die Entwicklung der Stadt bis zum Beginn des 19. Jh.s auffangen. In diesem Stadtraum lebten zur Zeit Karls IV. schätzungsweise zwischen 35.000 und 40.000 Menschen, vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs über 200.000.
Über dem glanzvollen baulichen Erbe der Metropole Prag unter Karl IV. werden heute die Schattenseiten dieser Periode vergessen. Prag besaß im 14. Jh. den ausgeprägten Charakter einer Residenzstadt, gekennzeichnet durch das Vorhandensein einer breiten Schicht nichtproduktiver Bevölkerung mit hohen Ansprüchen hinsichtlich des Konsums von Waren und Dienstleistungen, in erster Linie Angehörige des Adels, des Klerus und des Hofstaates. Durch deren Nachfrage entstand eine „Konjunktur“, die nahezu völlig von eben dieser Residenzfunktion abhängig war. Konkret bedeutete das die Abhängigkeit von den Investitionen des Königshauses in die bauliche Ausgestaltung der Stadt und in die Hofhaltung. Mit der Residenzfunktion war andererseits eine starke Zunahme und breite Auffächerung nichtbürgerlicher unterer Schichten verbunden. Diese umfaßten Schreiber, Türsteher, Boten, Lastenträger usw. sowie das umfangreiche Hauspersonal ebenso wie Grenzexistenzen in Gestalt von Gelegenheitsarbeitern, Taglöhnern und schließlich Bettler, Dirnen und fahrendes Volk. Hier fand die sozialrevolutionäre Richtung der Hussiten eine zahlreiche Anhängerschaft.
Die politische Kontrolle des Herrschers über die Stadt hat ferner die weitgehende Eliminierung der sozialrechtlichen Unterschiede von Handelsherren und Handwerkern begünstigt. Schon unter Karl IV. wird vom Vordringen der Handwerker in die Selbstverwaltung berichtet. Nichtsdestoweniger bestand in Prag weiterhin eine reiche bürgerliche Oberschicht, der man rentenkapitalistische Züge zuschreiben kann.