Читать книгу Die List der Schildkröte - Elisabetta Fortunato - Страница 10
ОглавлениеSonny.
Giovanna hatte ihn am Vorabend in der Lounge des Main Towers kennengelernt. Sie kam von der Ausstellungseröffnung im Liebieghaus, zu der ihr Nachbar, Professor von Schacht, geladen hatte. Für einen Dienstag war das Lokal überraschend voll gewesen. So fand sie Tommaso und Joschka, ihre Chefs und besten Freunde, nicht wie üblich in den Sesseln vor der Fensterfront, sondern an der Theke. Seit sie den beiden einmal im Scherz gesagt hatte, dass sie zusammen wie Schneewittchen und zwei ihrer sieben Zwerge aussahen, setzte sich Joschka immer gleich hin. Zu dritt fielen sie tatsächlich auf: eine hochgewachsene Frau mit schweren braunen Locken und zwei gedrungene, leicht dickbäuchige Männer über sechzig. Der eine sogar mit Bart.
So standen sie diesmal eingequetscht zwischen zwei stark parfümierten Blondinen und einer Gruppe von jungen Bankern, stießen auf Tommasos Geburtstag an und aßen Antipasti, während sie ausgiebig über die Leute lästerten, die Giovanna bei der Vernissage zu der großen Ausstellung über die vorrömischen Dauner getroffen hatte. Vor allem Tommaso konnte sich nicht zurückhalten, sein Speckbauch hüpfte bei seinen Lachattacken fröhlich mit. Erst beim zweiten Glas Wein hatten sie alle durch und kamen auf die Ausstellung zu sprechen.
»Allora«, fragte Tommaso. »Hatte dein Professor recht?«
»Und wie!«, antwortete Giovanna. »Ich schäme mich nicht zuzugeben, dass mir beim Anblick die Tränen gekommen sind.«
»Bei seinem Anblick«, sagte Joschka, während er nach dem Barkeeper Ausschau hielt, »würde ich auch weinen.«
Tommaso rollte mit den Augen. »Sie meint das Hauptausstellungsstück, du Trottel, nicht den Professor.«
»Ganz so falsch …«
Giovanna schnitt Joschka das Wort ab. »Die gesamte Ausstellung über die Dauner ist toll. Ich glaube, es gibt keinen Gegenstand, der nicht für sich stehen könnte. Doch der bronzene Kultwagen«, sie suchte nach dem richtigen Ausdruck, »der Kultwagen ist eine Klasse für sich.«
»Dann beschreib ihn uns!« Tommaso hing förmlich an ihren Lippen.
Joschka hatte sich über den Tresen gelehnt und bestellte für sie neuen Wein.
Sie überlegte kurz. »Ich muss anders beginnen. In den ersten Räumen stehen die typischen daunischen Gegenstände wie Trichterrandgefäße und Krüge mit tönernen Tierfiguren und viele steinerne Grabstelen. Dazu in großen Sammelkästen Schmuck, Waffen und andere Dinge des täglichen Gebrauchs. An den Wänden hängen riesige Infotafeln, die die offiziellen Ausgrabungsarbeiten des Professors in Apulien dokumentieren. Leider auch die Schäden von späteren Raubgrabungen.«
»Ah, die illegalen Raubgrabungen! Das Lieblingsthema deines Nachbarn«, warf Joschka dazwischen.
Giovanna wollte ihm sofort widersprechen, doch Tommaso hob beschwichtigend die Hände. »Ignoriere ihn einfach, heute ist er besonders unausstehlich.«
Sie nickte ergeben.
»Wie gesagt, du läufst durch die Ausstellung und stehst plötzlich in einem dunklen Raum, in dem das Grab der Fürstin von Arpi nachgebaut worden ist.«
»Veramente?«
»Tommà, es ist alles da! Vom Frauenskelett im vollen Ornat, über die prächtigen Grabbeigaben bis hin zu der Originalverkleidung der Grabkammer. Genau so, wie es Karl-Friedrich vor vierzig Jahren in Apulien entdeckt hat.«
»Wie schade, dass der apulische Boden, dieser miese Verräter, den Kultwagen so viel später herausgespuckt hat«, sagte Joschka.
Giovanna lachte laut. »Wohl wahr! Nun, der Kultwagen steht in der Rotunde und dich trifft fast der Schlag, wenn du ihn im Schaukasten siehst. Die Bronze schimmert besonders satt vor den blutroten Wänden. Der Wagen selbst ist nur wenig größer als zwei nebeneinanderliegende Hände, trotzdem stehen zahlreiche Statuetten darauf. Es sind Frauen, Männer, berittene Krieger und Tiere. Aber das besondere ist eine schlanke, weibliche Figur, die sie alle überragt. Auf ihrem Kopf liegt eine reich verzierte Opferschale mit süditalischen wie keltischen Ornamenten. Zusammengefasst: Der Kultwagen ist absolut geheimnisvoll und schlichtweg grandios!«
Tommasos Augen glänzten im Licht der Bar. »Dann gehen wir gleich morgen Nachmittag …«
»Was für ein Glück also, dass die italienischen Tankstellenwärter den Streik beendet haben und das Stück noch rechtzeitig aus Apulien gekommen ist«, unterbrach ihn Joschka und an Giovanna gewandt: »Denn mit diesen Eindrücken kannst du übermorgen zusätzlich punkten, bei dem Vorstellungsgespräch, das du, ich wiederhole es immer wieder gerne, mir zu verdanken hast. Nicht wahr?«
Voller Euphorie schob er ihnen die vollen Weingläser zu.
Um nicht darauf antworten zu müssen, steckte sich Giovanna eine Scheibe Parmaschinken in den Mund. Das mit dem Glück war so eine Sache. Der Transporter mit dem Sensationsfund war nur knapp zwei Stunden vor der Vernissage aus Apulien eingetroffen. Genug Zeit, um den Bronzewagen noch an seinen vorgesehenen Platz zu stellen, aber zu wenig, als dass der Professor die vertiefenden Untersuchungen mit dem Elektronenmikroskop hätte machen können. Diese musste sie unbedingt abwarten, bevor sie das Konzept für ihre erste Publikation als deutsch-italienische Programmleiterin eines renommierten Kunstbuchverlags schrieb. Denn wenn sich unter der kleinen, unauffälligen Delle der Stempelabdruck befand, der sich auf allen Grabbeigaben der Fürstin von Arpi wiederholte, würde sich in der Geschichtsschreibung der süditalischen Völker alles ändern. Wirklich alles! Allerdings wollte sie ihren Chefs lieber nichts davon erzählen. Ihnen fehlte schlichtweg die Fantasie, sich vorzustellen, dass die verbleibenden eineinhalb Tage ausreichen würden – mussten, korrigierte sie sich gleich selber –, um vorbereitet ins wichtigste Vorstellungsgespräch ihres Lebens zu gehen. Außerdem wollte sie die fröhliche Stimmung nicht kaputt machen. Die Buchmesse in Leipzig stand an und zum ersten Mal hatten die beiden einen politischen Kracher im Gepäck, mit dem sie Geld verdienen konnten.
»Auf die süditalische Kunst!«, rief Joschka und rempelte, leicht weinselig, einen der Banker an. »Die wahre Heldin der italienischen Archäologie, die …«
»Auf Giovanna und ihre zukünftige Stelle«, unterbrach ihn Tommaso.
Auf die Entdeckung, dachte sie, hob das Glas und stieß mit beiden an.
Als wollte das Licht in der Bar mitfeiern, flackerte es einige Male kurz auf, bevor es erlosch. Im Raum war es pechschwarz.
»Schaut mal raus!«, kam es aus der Nähe der Fenster, noch bevor sich Panik unter den Bargästen ausbreiten konnte. Alle reckten die Hälse und … nichts. Sprichwörtlich. Frankfurt lag im Dunkeln. Giovanna glaubte zu ersticken, doch genauso schnell, wie sie gekommen war, verschwand die Dunkelheit wieder. Einem Dominospiel gleich, gingen die Lichter in den vor ihnen liegenden Quartieren nacheinander wieder an. Im Raum wurde es schlagartig so hell, dass es in den Augen schmerzte. Die Leute standen verunsichert herum, einige Frauen prüften ihr Make-up, während ein paar Männer versuchten, ihre Angst durch Prahlerei zu vertuschen.
Giovanna löste die Finger von Tommasos Jackett, an das sie sich festgekrallt hatte, und strich ihm den zerknüllten Ärmel glatt. Sofort holte er sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche.
»Kontrolliert lieber eure Wertsachen.«
Joschka schüttelte den Kopf.
»Er hat recht !«, sagte Giovanna.«In Neapel hättest du dich nach einem solchen Blackout in der Unterhose wiedergefunden«.
»Unsere Landsleute wissen halt noch, wo die moralische Grenze liegt. Andere hingegen«, voller Abscheu schaute Tommaso zu den Bankern hinüber, »lassen dir nicht einmal den Slip.«
»Ein Glück also, dass ich meinen heute Abend nicht angezogen habe«, antwortete Giovanna prompt.
Unter Gelächter stießen sie an. Die Männer neben ihnen packten ihre Sachen und flüchteten an die Fensterfront.
»Ahhh, endlich haben wir Platz«, sagte Joschka.
Ihre Freunde wechselten zu Grappa über und sprachen übers Geschäft. Giovanna unterdrückte ein Gähnen. Interessiert beäugte sie die Gesichter der zwei Blondinen. Botox ohne Ende, aber von kundiger Hand gespritzt. Ob sie nach dem Arzt fragen sollte?
Plötzlich machte sich eine unterschwellige Unruhe breit, während gleichzeitig der Geräuschpegel sank. Sämtliche Gäste drehten sich zu etwas um, was hinter ihrem Rücken passierte. Auch Tommaso verstummte und starrte mit großen Augen und leicht geöffnetem Mund über ihre Schulter. Giovanna stellte ihr Glas auf die Theke und tat es den anderen gleich.
Ein schlanker Schwarzafrikaner hatte soeben die Bar betreten. Die rechte Hand in der Hosentasche, schaute er sich zuerst um und kam dann mit ruhigen Schritten in ihre Richtung. Er schlängelte sich nicht zwischen den stehenden Gruppen hindurch, die Gäste machten ihm freiwillig Platz. Der Mann kam näher. Gerader Rücken, gestraffte Schultern, in den Bewegungen die trainierte Geschmeidigkeit der Muskeln erkennbar. Ein ehemaliger Athlet?
»Macht Platz für den Zuhälter«, flüsterte ihr Tommaso ins Ohr.
Der Unbekannte trat an die Theke und bestellte sich etwas zu trinken. Ein allgemeines Aufatmen ging durch die Bar, der Geräuschpegel normalisierte sich wieder.
Zwischen ihren Freunden entspann sich eine lebhafte Diskussion über die italienische Steuerpolitik, ihr Lieblingsthema. Versteckt hinter Tommasos massiger Gestalt beobachtete Giovanna den auffälligen Mann. Er hatte sich mit einem Perrier in der Hand zum Raum umgedreht, ein Unterarm lag lässig auf dem Tresen. Der Schwarze trug Diamantenohrstecker, drei Halsketten, die über dem V-Ausschnitt des Kaschmirpullovers hingen, an der linken Hand eine schwere Uhr und zahlreiche Ringe, an einzelnen Fingern sogar mehrere. Im Gegensatz dazu waren der anthrazitfarbene Maßanzug, die eleganten Schaftstiefel und der Gürtel mit kleiner Schnalle reines Understatement. Der Kontrast brachte den hochwertigen Schmuck noch mehr zur Geltung. Der Mann trug ihn mit Stolz wie ein Krieger seine Kriegsbemalung. Tommaso irrte sich. Dieser Mann sah nach vielem aus, nur nicht nach einem Zuhälter.
Sie gab dem Barkeeper ein Zeichen. Während sie auf ihren Wein wartete, aß sie die Reste in den Schälchen auf. Mit der Gabel pickte sie eine besonders dicke Olive auf und begann sie beherzt abzunagen. Tommaso und Joschka diskutierten nun über die Haushaltslage der südeuropäischen Staaten, ob sie noch wussten, dass sie da war? Der Mann schien sich hingegen für die zwei Blondinen zu interessieren. Nach seinem furiosen Auftritt eine Enttäuschung. Am liebsten hätte sie ihm den Olivenkern in den Kragen gespuckt. Schlagartig fühlte sie sich fehl am Platz.
Der Barkeeper stellte den Wein hin. Salute, prostete sie sich zu. Sie dachte an ihre leere Wohnung. Ihr Mann war in Hongkong, niemand wartete auf sie. Moment, da war ja noch der Professor. Vielleicht hatte er doch auf ihren Rat gehört und mit dem Museumsdirektor gesprochen, obwohl er sich im Liebieghaus noch kategorisch geweigert hatte. Oder die Londoner Expertin, auf die er so viel hielt, hatte es trotz des schlechten Wetters noch rechtzeitig zu der Vernissage geschafft. Da er mehr über den Anrufer erstaunt, als über die Nachricht selbst beunruhigt gewirkt hatte, hatte sie ihn zu nichts gedrängt. Sturköpfig wie er war, tat er eh, was er für richtig hielt.
Sie aß das letzte Mozzarellabällchen, leerte das Schälchen mit den getrockneten Tomaten und tupfte mit einem Stück Brot das aromatisierte Öl auf. Sie würde gleich nach Hause gehen und dort auf von Schachts Rückkehr warten, entschied sie. Sie musste sich die apulische Warnung selber anhören, sonst würde sie nicht schlafen können. Giovanna leerte ihr Glas und kramte ihre Sachen zusammen.
Da trat der Barmann an sie heran, in der Hand ein neues Glas Wein. »Mit den besten Empfehlungen vom Herrn an der Bar.«
Ohne große Erwartungen an den sogenannten Herrn an der Bar und ein bisschen belästigt, beugte sich Giovanna über die Theke und schaute geradewegs in das Gesicht des gut aussehenden Afrikaners, der ihr mit seinem Perrier zuprostete. Ein gelber Klunker blitzte bei der Handbewegung einladend auf.
Erschrocken federte sie zurück. Sofort reichte ihr der Keeper eine Visitenkarte nach. Auf der Vorderseite edel gedruckte Buchstaben, auf der Rückseite handgeschrieben auf Englisch: »Sie haben eine sinnliche Art zu essen. Das gefällt mir. Sonny Omowura.«
Langsam stellte sie die Tasche auf die Theke zurück.
Der Professor konnte noch einen Moment warten.