Читать книгу Die List der Schildkröte - Elisabetta Fortunato - Страница 8
ОглавлениеWenn es stimmte, dass der Verlauf eines Tages gleich nach dem Erwachen zu erkennen war, dann würde der heutige eine Katastrophe: Im Ehebett lag ein Mann, der nicht der ihre war, und draußen schneite es. Sie dachte nur noch an Flucht, und diese führte sie geradewegs in die Küche.
Die Wanduhr zeigte kurz vor halb acht. Automatisch rechnete Giovanna nach. In Hongkong war es halb zwei Uhr nachmittags und Julius auf dem Weg zu wichtigen Verhandlungen. Ihr Ehemann wusste von ihren Affären, das war nicht das Problem. Er selbst hatte sie dazu gedrängt. Doch war sie immer ins Hotel gegangen, aus Respekt und Diskretion. Warum also diesmal nicht? Noch dazu mit einem solchen Mann? Im Schlafzimmer lag nicht irgendwer, sondern Sonny, ein knackiger Diamantenhändler aus Nigeria, der am Abend so viel Schmuck getragen hatte, dass dieser sich jetzt auf ihrer Kommode türmte wie die Schwester des Vesuvs. Mit anderen Worten: Wenn die Nachbarn ihn zu sehen bekamen, war ihr Ruf ruiniert. Und der ihres Ehemannes gleich mit.
Ja, sie hatte einen Fehler gemacht, und ja, sie musste ihn geradebiegen. Das war sie ihrem Mann schuldig. Aber deswegen ihre gute Erziehung vergessen? Nein ! Giovanna holte die Moka aus der Anrichte, die jeder Italiener besaß, der etwas auf sich hielt, und begann sie zu füllen. Zum Abschied würde sie ihrem Lover einen ordentlichen Espresso mit auf den Weg geben.
Die Kaffeekanne stand auf dem Herd und, eingelullt vom Zischen der Gasflammen, wartete Giovanna darauf, dass das Wasser im Tank zu brodeln begann. Da blieb ihr Blick am corno hängen, das genau vor ihr an einem Nagel hing. Das knallrote Plastikhorn konnte jedes Unglück abwenden, zumindest in Neapel. Heute hatte sie keine Zeit für geografische Befindlichkeiten; sie brauchte Hilfe, und zwar sofort. Mit einer einzigen Bewegung zog sie das Horn von der Wand, schloss die Augen und rief nach Padre Pio. Der familiären Legende nach hatte der Schutzheilige es persönlich mit seinen blutenden Händen gesegnet. Doch spätestens seit dem Ableben ihrer Oma wusste sie, dass sie nicht alles glauben durfte, was ihr einst erzählt worden war.
»Beweise dich, oder ich schmeiß dich weg«, beschwor Giovanna das Horn.
Dann sprach sie die zwei Wünsche aus, die ihre Probleme beseitigen sollten: Es musste aufhören zu schneien und ihre Nacht mit Sonny ohne Zeugen bleiben.
Zum Glück sah niemand sie in diesem Zustand. Sie, die Texte von Rosa Luxemburg, Antonio Gramsci und Karl Marx verkaufte. Aber wo waren die gescheiten Ideen, wenn sie gebraucht wurden? Dann lieber das Horn und der kampanische Aberglaube. In der Not war alles erlaubt.
Ob sie mit ihrer Beschwörung zu früh aufgehört oder etwas falsch gemacht hatte, konnte sie im Nachhinein nicht sagen. Tatsache war, dass, als sie die Augen wieder aufschlug, der Schnee noch da war, sogar dichter als zuvor. Den zweiten Wunsch konnte sie sich also wohl auch gleich abschminken. Sie warf das Horn in den Mülleimer und trat fröstelnd ans Fenster.
Es war nicht nur die Kälte, die ihr auf die Nerven ging, sondern es waren vor allem die Schneeflocken. Deutsch wie sie waren, fielen sie sauber und geordnet herunter. Nicht wie in Kampanien, wo man sich immer fragen musste, ob es die schwächlichen Flocken überhaupt bis zum Boden schaffen würden, um sich dort mit dem Unrat der Nacht zu einem gräulichen Matsch zu vermischen. So oder so, sie mochte den Winter nicht, nicht dessen Kälte und schon gar nicht dessen Trübheit. Und davon gab es in Frankfurt mehr als genug.
Die Maschine begann zu fauchen und der Kaffee floss in dunklen Strömen die Düse hinab. Dann brodelte er ein letztes Mal auf. Giovanna drehte den Gashahn zu und wandte sich zum Küchentisch, wo sie ein Tablett mit Tasse und Zuckerbehälter bereitgestellt hatte.
Es war nur eine Bewegung, die sie aus den Augenwinkeln wahrnahm. Sie schaute zur Tür, schrie auf und wich einen Schritt zurück. Etwas fiel scheppernd zu Boden. Vor ihr stand Maria D’Onofrio, die Putzfrau der Kronberger Straße 28c, eine hagere 62-jährige Neapolitanerin.
»Madonna mia!«, rief Maria erschrocken und legte demonstrativ die Hand auf die Brust. Eine automatische Geste, seit bei der Frau eine leichte Herzrhythmusstörung festgestellt worden war. Vor ihren Füßen lag eine grellfarbene Tüte ihres Stammdiscounters.
Trotz allem fasste sich die Ältere als Erste. Ächzend griff die Putzfrau nach der zerknitterten Plastiktüte, trat wie selbstverständlich in die Küche und legte sie auf den Tisch.
»Was machst du hier?« Giovannas Stimme überschlug sich vor Aufregung. »Um diese Zeit?«
»Sie brauchen nicht so zu schreien, Signora Greifenstaina. Auch wenn ich alt bin, höre ich noch sehr gut.«
»Du hast mich erschreckt!«
»Vor acht stehen Sie doch nie auf, und ich dachte, Sie freuen sich, wenn Sie frische biscotti zum Frühstück haben.«
Marias biscotti – die besten Mandelkekse der Welt – die ihre Putzfrau nur für sie buk. Einfach, weil sie beide aus Kampanien waren.
Giovannas Blick wurde weich und ein warmes Gefühl machte sich in ihrer Brust breit. Sie nahm ihrer Landsfrau die schwere Dose ab und wollte sie, aus einem Überschwang heraus, zu einem Kaffee einladen.
Da knarrte das Bett im Schlafzimmer. Gleich darauf ein zweites Mal. Es war deutlich zu hören. Auf Giovannas Haut legte sich ein klebriger Schweißfilm. Maria sah sie fragend an, dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Ihr Mann ist aus Honcongo zurück. Jetzt verstehe ich.«
Der Seidenkimono, den sie trug, brannte sich regelrecht in Giovannas Rücken ein. Sie musste sich räuspern, um weiterreden zu können. »Jetzt sei so gut und geh. Heute muss ich früh raus.«
»Sie sind nicht die Einzige.« Neben dem Rascheln der Plastiktüte, die sie auf dem Tisch zusammenlegte, war die Putzfrau kaum zu hören. »Auch der professore ist schon weg. Ich habe lange an seine Tür geklopft und …«
Bei Giovanna machte es klick. Karl-Friedrich! Sie hatte vergessen, bei Karl-Friedrich vorbeizuschauen! Obwohl sie …
Weiter kam sie nicht, abgelenkt von Marias Reaktion. Diese starrte mit aufgerissenen Augen auf etwas hinter ihr. War Sonny etwa aufgestanden?
Doch die Neapolitanerin zeigte anklagend auf den Nagel an der Wand. »Wo ist das Horn?« Ihre Stimme zitterte noch mehr als der arthritische Finger.
»Das alte Plastikding?«, antwortete Giovanna, ohne zu überlegen. »Das habe ich weggeworfen.«
»Oddio!« Die Putzfrau bekreuzigte sich mehrmals hintereinander. »Das bringt doch Unglück!«
»Was glaubst du nur an diesen altmodischen Humbug«, versuchte sie, die Frau zu beruhigen.
Es wäre besser gewesen, sie hätte geschwiegen. Denn in dem Moment wurde die Schlafzimmertür geöffnet und Sonny tapste nackt Richtung Badezimmer. Giovanna wollte auf der Stelle sterben.
Maria, die zwar alt, aber mit allen neapolitanischen Wassern gewaschen war, musste es in ihrem Gesicht gesehen haben. Rasch wandte sie sich um, doch erhaschte sie nur noch den Schatten einer dunklen Hand, bevor die Badezimmertür sich schloss.
Als würde sie ihren altersschwachen Augen nicht trauen, drehte sie sich verwirrt zu Giovanna und bat stumm um eine Bestätigung dafür, dass sie nicht das gesehen hatte, was sie glaubte, gesehen zu haben.
Giovanna konnte ihr darauf keine Antwort geben. Sie tat das einzig Vernünftige und hielt den Mund.
Wie von einer schweren Last niedergedrückt, ließ sich Maria auf einen Küchenstuhl fallen. »Heute ist ein merkwürdiger Tag, Frau Greifenstaina. Hängen Sie das Horn auf, bevor er schlimmer wird.«
»Weißt du was? Du hast mich überzeugt.« Giovanna holte den Mülleimer hervor und suchte nach dem Plastikteil.
In der Zwischenzeit ging die Badezimmertür auf und Schritte entfernten sich Richtung Schlafzimmer. Die Ältere hielt den Blick starr ins Leere gerichtet und er belebte sich erst wieder, als das Horn an seinem alten Platz hing.
»Dann will ich die Herrschaften nicht mehr stören.«
»Maria«, sagte Giovanna versöhnlich. »Morgen komme ich früher nach Hause und wir trinken einen Kaffee zusammen. Va bene?«
Die Neapolitanerin nickte schwach, griff nach der gefalteten Tüte und stand auf. Giovanna begleitete sie zur Tür. Aber Maria wäre nicht die gewesen, die sie war, wenn sie nicht das letzte Wort gehabt hätte. Schon mit einem Fuß auf der Treppe, drehte sich die Putzfrau noch einmal herum und sagte: »Grüßen Sie Herrn Greifenstaina von mir.« Und leiser: »Oder wen auch immer.«
Giovanna hatte es genau gehört. Sie warf die Tür zu und fasste einen unwiderruflichen Entschluss: Sie würde das Horn verbrennen.
Nur langsam setzte sich das Gefühl der Erleichterung durch, dass das Aufeinandertreffen trotz allem glimpflich verlaufen war. Umso mehr musste sie jetzt dafür sorgen, dass Sonny ging. Der Professor befand sich offensichtlich schon auf dem Weg ins Museum. Es würde sicher nicht lange dauern, bis er sie wegen der Untersuchungsergebnisse anrief.
Giovanna kehrte in die Küche zurück. Auf einem Stuhl entdeckte sie ihre Clutch. Wenn schon eine Verabschiedung mit guter Erziehung, dachte sie, dann auch richtig. Aus dem Täschchen holte sie ein paar Geldscheine hervor, die Eintrittskarte zur Vernissage vom Vorabend und einen Fotostreifen, der sie schmunzeln ließ, als sie die vier Schnappschüsse von sich und Sonny überflog. Schließlich zog sie den Reißverschluss des Nebenfachs auf und fand seine Visitenkarte.
So heißt du also mit vollem Namen.
Plötzlich war sie hellwach, und ihr kamen gleichzeitig ein frivoler und ein mathematischer Gedanke. Der frivole ließ sie Sonnys Hände auf ihrer Haut spüren, der mathematische rechnen: Minus mal Minus ergibt immer Plus. Was ängstigte sie sich vor Sprichwörtern, Aberglaube und dem sonstigen kampanischen Blödsinn, wenn es die exakte Wissenschaft gab? Sie würde den Tag neutralisieren, auf ihre eigene Art.
Giovanna füllte Kaffee in die Tasse, holte einen besonders knusprig aussehenden Keks aus der Dose und lief, mit dem Tablett in der Hand, zum Schlafzimmer.
»Buongiorno, signor Omowura«, flüsterte sie.
Es hatte einen vielversprechenden Klang.