Читать книгу Die List der Schildkröte - Elisabetta Fortunato - Страница 19
ОглавлениеRatten waren gefährliche Tiere, hatte Giovanna schon als Kind gelernt. Sie brachten Krankheit und Verderben. Die neapolitanischen, von ihrer Oma auch zoccole genannt, waren die schlimmsten ihrer Sorte; Ungeheuer von der Größe einer Katze, die nachts aus der Kanalisation herauskrochen und in den heruntergekommenen Krankenhäusern der Stadt ihr Unwesen trieben. Wem am Morgen nur eine Zehe fehlte, der hatte Glück.
Die deutschen Ratten waren anders. Wählerischer. Bei ihnen musste es gleich der Stromverteiler des Frankfurter Hauptbahnhofs sein. Eine gewisse Dramatik in der Wirkung war den Vierbeinern nicht abzusprechen, aber am Ende erwiesen sie sich als dumm.
»Zwei haben sich selber gegrillt«, erklärte eine käsig aussehende Frau allen, die wegen der defekten Schließfächer am Schalter für Gepäcksicherheit anstanden. »Um den Rest kümmern sich die Kammerjäger.«
Endlich verstand Giovanna, was sie soeben erlebt hatte.
Sie war keine fünf Schritte aus der Tiefgarage des Hauptbahnhofs gekommen, als sie in den Sog einer Menschengruppe gezogen wurde, die sich, mit Fahnen und Plakaten gewappnet, gerade in Bewegung setzte und Richtung Rolltreppe marschierte. Eine Frau gab den Lauftakt vor.
»Recht auf Leben, Recht auf Leben!«, schrie sie kraftvoll ins Megafon und alle aus der Gruppe schrien mit.
Giovanna konnte nicht sagen, wie viele Menschen protestierten, aber mehr als genug, denn sie war in der Menge eingekeilt und musste mitlaufen.
Das ungemütliche Untergeschoss war noch schummriger als sonst, und erst als sie die Treppe in die Haupthalle hochstiegen, sah sie die Fahnen genauer: vom Tierschutzverein, vom Tierschutzbund, vom WWF und eine einzelne vom DGB Frankfurt.
Free Rats hatten die Demonstranten auf Pappkartons geschrieben. Giovanna verstand nichts mehr. Was hatte die Gewerkschaft mit den ekligen Viechern zu tun? Sie wagte nicht, danach zu fragen, aber wenigstens war sie nicht unter Nazis geraten.
Irgendetwas stimmt hier nicht, hatte sie noch Zeit zu denken, da erreichten sie schon die Bahnhofshalle. Außer dem Lärm der Gruppe war nichts zu hören. Keine Zugbremsen, keine Ansagen, keine Gespräche von den Reisenden, die dicht gedrängt herumstanden. Die hohe Halle vervielfältigte den Schlachtruf der Protestler und es schien, als würde eine Armee einmarschieren. Giovanna hielt sich die Ohren zu. Die Stimme aus dem Megafon brach ab, die Gruppe blieb stehen. Sie wurden angestarrt, als kämen sie direkt aus dem Zoo.
Eine unangenehme Unruhe breitete sich aus.
Plötzlich stürmten von den Seitenarmen Polizisten in voller Montur in die Halle und kämpften sich zu den verstummten Demonstranten vor. Diese wollten ausweichen, aber wohin? Genau in dem Moment knackste es in den Lautsprechern und eine modulierte Stimme kündigte die Einfahrt des ICE 101 aus Berlin an. Der Zug hatte zwei Stunden Verspätung.
Die gereizte Stimmung, die schon die ganze Zeit über allem gewabert hatte, entlud sich in Chaos und Tumult: Fahrgäste griffen nach ihrem Gepäck und rannten auf den einzigen Zug los, der es in den Bahnhof geschafft hatte. Sie drängelten und schubsten, stießen Koffer um und benutzten das Handgepäck als Rammbock, ungeachtet dessen, ob sie andere Reisende oder die Polizisten erwischten, die ihrerseits versuchten, die unübersichtliche Gruppe von Demonstranten einzukesseln. Instinktiv wollten die Staatsdiener die unkontrollierte Masse bändigen, während die Tierschützer die Gunst des Moments nutzten, um in den Untergrund abzutauchen. Nur Giovanna schlüpfte durch eine Menschenlücke und begab sich endlich auf die Suche nach dem Schließfach, das zum gefundenen Schlüssel passte.
Der Schalter der Gepäcksicherung glich einer belagerten Burg. Von den Wartenden erfuhr sie, dass es im gesamten Bahnhof ein Blackout gegeben hatte. Die Ticketautomaten, die Rolltreppen, die Tafeln mit den Fahrgastinformationen und die Schließfächer waren noch immer tot.
»Mausetot«, sagte ein Junge mit Bommelmütze, der sich aus der langen Warteschlange verabschiedet und auf einen Rucksack gesetzt hatte. Der Junge und ein kleiner, aufgepumpter Mann in einer altmodischen Lederjacke, der entspannt am Schaufenster des nebenan liegenden Blumenladens lehnte, schienen die Einzigen zu sein, die sich nicht vom Chaos mitreißen ließen. Giovanna beneidete sie darum. Sie selber fror und schwitzte im Wechsel, ein unangenehmer Druck hatte sich auf ihre Schädeldecke gelegt.
Als sie endlich an der Reihe war, gab sie zuerst den Schlüssel ab und folgte dann einem gestresst wirkenden Mitarbeiter, der das Schließfach mit einem Spezialgerät öffnen musste. Je mehr sie sich ihm näherten, desto schlechter fühlte sie sich. Die Prozedur dauerte keine fünf Sekunden, dann war das Fach offen. Der Mann trat diskret zur Seite.
Giovanna traute ihren Augen nicht. Es war noch schlimmer als befürchtet. Nicht nur wegen der Kiste, die groß genug war, um darin vieles, auch einen daunischen Kultwagen zu lagern, sondern vor allem wegen dem, was auf dem Deckel geschrieben stand: »Im Notfall Giovanna Greifenstein benachrichtigen.« Sie atmete tief ein und zog die Kiste heraus.
Sie war leichter als erwartet. Aber nicht so leicht, als dass sie hätte hoffen können, sie sei leer. Im Gegenteil. Das, was darin war, schien ihr eine hohe energetische Dichte zu haben, ja, radioaktiv zu sein, denn sie hatte das Gefühl, als würde sich das Holz in ihre Hände einbrennen, so heiß fühlte es sich an. Matt verabschiedete sie sich von dem Mann und lief in die Haupthalle zurück. Plötzlich kamen fünf Polizisten um die Ecke geschossen und rannten direkt auf sie zu. Sie erschrak und wollte schon die Hände hochreißen und sich ergeben, doch die Beamten liefen an ihr vorbei. Erst jetzt bemerkte sie den Lärm der Tierschützer, die vor dem Hauptbahnhof zu neuer Stärke gefunden hatten.
Auch wenn man dachte, auf das Schlimmste vorbereitet zu sein, war die Situation, wenn sie eintraf, trotzdem unerträglich. Die Machtlosigkeit vor dem Unerklärbaren, wie sie sie als junge Frau beim Tod ihrer Großmutter verspürt hatte, war wieder da. Giovanna hatte die verräterische Kiste in den Kofferraum des Fiats gelegt und den Deckel geöffnet. Der Kultwagen war zwar dick verpackt, doch erkannte sie ihn an seinen Konturen. Kurz wurde ihr schwarz vor Augen, so brutal waren die Fakten: In ihrem Auto lag das Diebesgut, nach dem halb Europa suchte, und ein Mensch, dem sie vertraut hatte, hatte sie ohne ihr Wissen in eine schlimme Geschichte hineingezogen. Tommaso hatte recht, sie hatte von Schacht zu wenig gekannt.
An der Parkschranke steckte sie das Ticket in den Schlitz. Die Karte wurde eingezogen und gleich wieder ausgespuckt. Sie versuchte es noch einmal. Und noch einmal. In Giovanna zerbarst etwas und sie begann, mit der Faust auf das Lenkrad zu schlagen. Bis sie die Hupe traf. Der kahle Kassenwart, der gerade seine Zigarettenpause machte, zuckte zusammen und kam mit grimmigem Gesicht zu ihr ans Auto.
»Was werden Sie gleich hysterisch?«
Ohne zu antworten, hielt sie ihm mit zittrigen Fingern das Ticket hin. Der Mann steckte es in den Schlitz und die Schranke öffnete sich.
Giovanna legte den ersten Gang ein, löste die Kupplung und drückte das Gaspedal. Der Wagen röhrte nur ins Leere. Sie zog den Schaltknüppel zurück und drückte ihn wieder in den ersten Gang, dann betätigte sie die Fußpedale. Der Cinquecento stotterte kränklich.
In ihrem Rücken hatte sich eine Autokolonne gebildet und der Parkwächter wartete mit verschränkten Armen. Giovanna war so heiß, dass sie glaubte zu ersticken. Sie wollte die Heizung herunterfahren, aber sie wusste nicht mehr, wie das ging. Die eigene Verwirrung versetzte sie in Panik, sie atmete immer schneller. Da berührte ihre Hand die angezogene Handbremse, und gerade als der Wächter sich wieder näherte, löste sie sie. Wie eine Rakete schoss das Auto auf die Ausfahrtsrampe zu. Bevor sie im Tunnel verschwand, erhaschte sie im Rückspiegel noch einen letzten Blick auf den Mann, der, von ihren Abgasen eingenebelt, so stark hustete, dass er sich krümmen musste.
Direkt zur Polizei? Oder lieber zuerst Tommaso abholen und dann zur Polizei? Beide Möglichkeiten ließen sie zögern. Statt sofort in den Abendverkehr einzufädeln, hielt sie am Ende der Rampe an, fischte ihr Handy aus der Tasche und nahm eine Nachricht auf. »Tommaso, ich komme nicht. Professor von Schacht hat … Er ist … Ich melde mich später von zu Hause aus.«
Giovanna hatte sich entschieden. Sie würde nach Hause fahren und in Ruhe nachdenken. Nicht erst seit sie den Kultwagen gefunden hatte, ging die Geschichte nicht auf.
In der Kronberger Straße war der Kastenwagen endlich weg. Giovanna parkte direkt vor der Einfahrt und holte die Kiste aus dem Kofferraum. Ächzend stemmte sie die Haustür auf, die noch immer nicht einschnappte, drückte den Lichtschalter und drehte sich um. Fast traf sie der Schlag. Auf der Treppe saß ein afrikanischer Gott, der bei ihrem Anblick strahlte, als würden tausend Sonnen aufgehen.
»Hi«, sagte Sonny.
Hinter Giovanna knallte die Tür zu.
»Was machst du hier?«
Sonny antwortete nicht gleich, sondern musterte sie interessiert.
»Nice look.«
Was meinte er damit? Sie war doch bis auf die Knochen durchgeweicht und …
Ihre Hand fuhr zum Kopf hoch. Sie war die ganze Zeit mit einem tierischen Turban herumgelaufen! Schnell löste sie den Leopardenschal und legte ihn sich über die Schultern.
»Dein Ring …«, begann sie.
»I know«, antwortete er und schaute sie weiter an.
Giovanna fuhr sich mit der Hand durch die feuchten Haare.
Sonny stand auf und kam auf sie zu.
»You are so crazy«, sagte er, während er ihren Schal an beiden Enden packte und über seine Hände aufzurollen begann. Dann, mit rauerer Stimme, »and so fuckin’ hot.«
Mit dem Schal zog er sie zu sich und küsste sie.