Читать книгу Die List der Schildkröte - Elisabetta Fortunato - Страница 22
ОглавлениеDer Kultwagen hatte sich in der Nacht nicht in Luft aufgelöst. Leider. Dick verpackt lag er in der Kiste, die sie hoffnungsvoll geöffnet hatte, kaum dass sie die Hotelgarage betreten und ihren Wagen aufgesperrt hatte. Giovanna verschloss den Holzdeckel und schlug den Kofferraum so fest zu, dass der Fiat erzitterte. Sie setzte sich ins Auto, parkte aus, fuhr aus der Garage und schlängelte sich im morgendlichen Verkehr Richtung Polizeipräsidium. Schon nach wenigen Metern war Schluss. In der Stephanstraße hatte es einen Auffahrunfall gegeben. Seufzend nahm sie den Gang raus und zog sich die Ärmel des Pullovers über die Hände. Die italienische Heizung kam gegen die deutsche Kälte nicht an.
Selten war sie so früh in der Innenstadt unterwegs. Durch die beschlagene Scheibe beobachtete sie die Passanten. Ein kräftiger Wind zerrte wie ein quengelndes Kind an deren Kleidern und es war eher ein wackeliges Gleiten, denn ein Laufen, das sie auf die andere Straßenseite brachte. Seit fünf Jahren hatten sie keinen solchen Winter mehr in Frankfurt erlebt und Giovanna konnte sich noch lebhaft an das Gelächter ihres Mannes erinnern, als sie ihm gesagt hatte, dass, wenn wirklich etwas ihre Ehe gerettet hatte, es die Erderwärmung gewesen war.
Das Gefühl kam unerwartet und überraschte sie. Sie hatte Lust, seine Stimme zu hören, ihm von der Kiste zu erzählen. Wenn es jemanden gab, der auch in der vertracktesten Situation Ruhe bewahren und nach einer eingehenden Analyse die richtigen Vorschläge machen konnte, dann Julius. Es war seine Art gewesen, in die sie sich verliebt hatte. In Bologna, während sie in der brütenden Nachmittagshitze zusammen Italienisch lernten, sie als Lehrerin, er als Schüler. Die Klarheit seiner Gedanken, die Ordnung in seinen Gesprächen, seine wohltuend sachliche Weltanschauung gepaart mit einem reichen Schatz an Lebenserfahrung; mit anderen Worten, Julius hatte das, was ihr fehlte und sie war von ihm angezogen worden wie die Motte vom Licht.
Sie würde ihrem Mann alles erzählen und er würde ihr den richtigen Rat geben, so wie damals, als sie ihm nach einem Jahr Ehe wild gestikulierend und überhitzt erklärt hatte, dass sie sich in Frankfurt lebendig begraben fühle und noch am selben Tag ihre Koffer packen und nach Italien fliegen wolle.
Per sempre, für immer.
Julius hatte sie reden lassen, um ihr dann ruhig zu antworten, dass er das hatte kommen sehen. Sein Vorschlag, sie solle sich in seiner Abwesenheit mit anderen Männern treffen und sich die Hörner abstoßen – schließlich sei sie mit sechsunddreißig Jahren wahrhaftig zu jung fürs Grab – brachte ihm zuerst eine neapolitanische Ohrfeige ein, erwies sich aber im Nachhinein als die wahre Rettung ihrer Ehe.
Würde sie ihren Mann um diese Zeit in Hongkong erreichen? Einen Versuch war es wert. Mit der Rechten suchte sie in ihrer Tasche nach dem Handy, dann sah sie, dass der Akku leer war. Was würde ich jetzt für einen Espresso geben, dachte sie noch, als ihr Blick auf die Zeitungsaushänge eines Kiosks fiel.
Die Fahrt nach Hause war schlimmer als die Via Dolorosa, jeder Kiosk eine Kreuzwegstation mit Zeitungsaushängen, die dazu aufforderten, niederzuknien und die Andacht für die Sünden des Professors zu beten. »Spektakuläre Wende in Museumskrimi«, »Ein Toter und der verschwundene Kultwagen«, »Spur führt nach Osteuropa« und ihr emotionaler Tiefpunkt: »Hauptverdächtiger im Streit von Komplizen getötet.« Giovanna hätte schwören können, dass nicht einmal Jesus Christus auf seinem Kreuzweg so viel gelitten hatte, wie sie jetzt.
Zunächst fuhr sie tapfer weiter. Als sie aber auf der Bockenheimer Anlage eine Fahrradfahrerin mit Kind übersah und die beiden nur nicht überfuhr, weil sie in letzter Sekunde in die Blumenbeete am Straßenrand auswich, musste sie sich eingestehen, dass es ihr schlechter ging, als sie zugeben wollte. Was war sie naiv gewesen, im Hotelzimmer zu denken, sie würde es alleine schaffen, sich vor der Polizei freizusprechen. Was sie brauchte, war ein Anwalt, nicht irgendeinen, sondern den Besten der Stadt, und dazu musste sie ihren Mann unter allen Umständen sprechen. Also musste sie zuerst nach Hause und ihn anrufen, alles andere ergab keinen Sinn.
Nur zu gerne hatte sie sich in der Nacht von Sonnys Küssen betäuben lassen. Umso heftiger brachen jetzt die Fragen hervor, die sie sich seit dem Erwachen unablässig stellte: Warum der Professor den Kultwagen aus dem Museum gebracht und sie in diese Geschichte mit hineingezogen hatte. Und, was am schlimmsten war, ob sie jetzt dafür bezahlte, nicht früher auf andere gehört zu haben.
Viele hatten sie davor gewarnt, sie würde sich ihre Chancen auf eine Arbeit im Museum verbauen, wenn sie mit von Schacht verkehrte. Der Professor war mit seiner radikalen Haltung in Bezug auf illegal ausgegrabene Stücke in der Szene umstritten und hatte schon für einige Skandale gesorgt. Wie in dem Fall eines unschätzbar wertvollen Goldgefäßes aus einem geplünderten Königsgrab im Südirak, das er im Museumstresor versteckt und sogar vor dem Zoll zurückgehalten hatte, damit es nicht in den Kunsthandel zurückgelangen konnte.
Damals hatte sie seine Haltung bewundert, diese Kompromisslosigkeit, die ans Fanatische grenzte, das Brennen für eine Sache. Und heute? Heute wusste sie nicht, was sie denken sollte. Sie verwünschte ihre eigene Naivität bis sie vor der Kronberger Straße 28c den Blinker setzte, in den Innenhof fuhr und den Wagen abstellte. Endlich war sie zu Hause.
Was Maria, ihre Putzfrau, auszeichnete, fehlte deren Mann gänzlich. Pietro war als Hausmeister so wortkarg wie faul. Der Schnee in der seit Tagen ungeräumten Einfahrt war am Vorabend unter dem Regen aufgetaut und in der Nacht wieder zugefroren. Jetzt hatte er sich in eine bizarre Eislandschaft verwandelt, auf der man ausrutschen und sich den Hals brechen konnte. Giovanna tastete sich vorsichtig an der Hausmauer entlang.
Im Treppenhaus war es fast so kalt wie draußen und fröstelnd öffnete sie ihren Briefkasten. Dieser quoll über vor Werbung und Sendungen für ihren Mann. Sie leerte den Kasten und zupfte auch die Post ihres Nachbarn aus dem Briefkastenschlitz. Wer würde ab nun für alles zuständig sein? Für die Todesanzeige, die Beerdigung, die Auflösung der Wohnung? Mühevoll erklomm sie die Stufen. Sie fror immer mehr, obwohl sie innerlich brannte. Hoffentlich werde ich nicht krank, dachte sie, und glaubte zu spüren, wie die Schwäche in ihre Beine kroch. Sie sehnte sich nach einer heißen Dusche, ihrem Pyjama und jemandem, der ihr Kaffee und Kekse ans Bett brachte.
»Nonna«, sprach sie leise aus, während sie den Schlüssel in das Schloss der Wohnungstür steckte.
Die Tür ging von alleine auf, sie war nicht abgeschlossen.
Eh no, diesmal war es kein Versehen wie am Mittwochabend. Sie wusste genau, dass sie abgeschlossen hatte.
Mit vor Angst klappernden Zähnen stieß sie die Holztür auf und steckte vorsichtig den Kopf in die Wohnung. Die Diele schien in Ordnung. Von der Konsole blinkte ihr der Anrufbeantworter entgegen, so wie immer. Unschlüssig blieb sie auf der Schwelle stehen und hielt den Atem an. Außer ihrem eigenen Herzklopfen hörte sie keine anderen Geräusche. Sie streckte den Arm zum Schalter und machte Licht. Alles schien an seinem Platz zu sein. Doch etwas störte.
Die Kälte, dachte sie.
»Sei still«, antwortete ihr Verstand. »Wegen dir kommen wir heute ins Gefängnis.«
Giovanna reckte sich Richtung Küche. »Maria?«
Niemand antwortete, aber ihre eigene Stimme zu hören, beruhigte sie. Sie überlegte und kam zu dem Schluss, dass sie sich doch nicht genau daran erinnern konnte, ob sie abgeschlossen hatte oder nicht. Nach dem Radiointerview hatte sie nur noch den Museumsdirektor im Kopf gehabt und die Wohnung überstürzt verlassen. Warum nahm sie Tommasos Geschwätz über osteuropäische Einbrecherbanden ernst und bekam wegen nichts Angst?
Ohne die Tür hinter sich zu schließen, betrat Giovanna die Diele. Sie legte die Schlüssel auf die Konsole und lief zum Schlafzimmer, woher die Kälte zu kommen schien. Sie trat ins Zimmer und unterdrückte einen Schrei. Ein offenes Fenster schwang im Rhythmus der Windstöße hin und her. Und auf dem Bett lag ein toter Vogel.
Die Post, die sie sich unter dem Arm geklemmt hatte, fiel auf den Boden, als sie in die Diele zurückstolperte, hastig nach dem kabellosen Telefon griff und hinausrannte.
In der Einfahrt rief sie die Polizei an. Dann ihren Mann. Diesmal nahm er sofort ab.
»Komm zurück, hier geschehen so viele Dinge, bitte, bitte, bitte, komm zurück, ich habe Angst!« Ihre Stimme überschlug sich, während ihre zitternden Hände kaum den Hörer halten konnten.
»Was ist passiert? Warte …« Er sprach mit jemandem auf Chinesisch. »Giovanna? Bist du noch dran?«
»Die Mafia ist hinter mir her!«
»Jetzt beruhige dich, du bist kaum zu verstehen. Ist es wegen des Professors? Eine schlimme Geschichte, hatte ich dich nicht vor ihm gewarnt?«
»Ich brauche dich, ich stecke in großen …«
»Giovanna«, unterbrach sie ihr Mann, »du bist durcheinander und in diesem Zustand neigst du zur Übertreibung.«
Diesmal nicht, dachte sie. »Julius, bitte!«
Wieder wurden sie unterbrochen, im Hintergrund hektische Stimmen.
Während sie auf die Antwort ihres Mannes wartete, verstand sie erst, was er ihr gesagt hatte. Die Erkenntnis legte sich wie eine Eisschicht auf ihr überhitztes Gemüt: Sie war mit ihrem Problem allein.
Ein Rascheln aus dem fernen Hongkong: »Hör zu, sei vernünftig, ich kann nicht einfach weg. Hier ist es kompliziert, sie vertrauen nur mir … Der Deal ist zu groß.«
»Ich hatte vergessen, dass die Welt ohne Julius Greifenstein stehenbleibt«, sagte sie leise.
»Was ist in dich gefahren? Ich fliege zurück, wenn du darauf bestehst. Aber denk daran, dass von diesen Verhandlungen Tausende Arbeitsplätze abhängen.«
Giovanna kaute auf der Innenseite ihrer Wangen, was konnte sie darauf schon antworten?
»Soll ich kommen, ja oder nein?«
Über ihr flog lärmend ein Krähenschwarm vorbei und nahm auf dem Dach des Nachbarhauses Platz.
Ein Seufzer, dann leise und zärtlich: »Ricciola, wenn du willst, fliege ich zurück. Heute noch.«
Ricciola – Krauskopf, den Kosenamen hatte sie lange nicht mehr zu hören bekommen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Julius …«
»Nun, soll ich kommen? Entscheide dich bitte.«
»Ja. Ich meine nein, ich kriege das hin.«
»Davon war ich überzeugt.« Die Erleichterung in seiner Stimme war unüberhörbar. »Du kannst sicher ein paar Tage bei deinen Freunden … Warte, Frau Wittler sagt, dass dir das Büro die Rede für die Benefizveranstaltung geschickt hat. Du wirst sehen, das lenkt dich ab«.
»Nein, Julius, das schaffe ich …«
»Wir müssen hinein.«
»… nicht.«
Aber er hatte schon aufgelegt.
Sie passte nicht auf und rutschte aus. Es tat höllisch weh. Am frühen Morgen und mitten in der Einfahrt sitzend, weinte sie. Sie heulte wie eine Wölfin, laut und verzweifelt.
Ich schaffe das nicht alleine.
Eine Hand legte sich auf Giovannas Schulter.
»Sind Sie Frau Greifenstein?«
Durch den Tränenschleier blickte sie in zwei besorgt schauende Augen. Dunkelblaue Augen. Sie ignorierte die hingehaltene Hand und stand auf.
Misstrauisch musterte sie den jungen Mann. »Und wenn?«
»Kriminalhauptkommissar Ben Köhler. Ich suche Sie seit gestern.«
Giovanna nickte nur. Gestern war weit weg.