Читать книгу Die List der Schildkröte - Elisabetta Fortunato - Страница 18

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Tommaso war der Erste, der anrief. »Ich warte seit zwei Stunden auf dich.«

Giovanna hatte soeben Frau Henkel an der Hauptwache verabschiedet und lief raschen Schrittes durch die Freßgass. Sie wollte nach Hause, in die Wärme. »Tommà, hör auf, meine Mutter zu spielen. Im Museum passieren merkwürdige Dinge.«

»Und in den Medien erst! Es scheint, als hätte dein Liebling mit seinem Interview die Büchse der Pandora geöffnet.«

»Che stronzo – Was für ein Mistkerl! Weißt du, dass er sogar seinen Mitarbeitern verboten hat, mit mir zu reden?«

»Jetzt übertreibst du.«

»Doch! Heute Nachmittag hat er alle Mitarbeiter zusammengerufen und gesagt, dass sie ihre Stelle verlieren, wenn sie mit der Presse oder der Bekannten von Karl-Friedrich reden. Schließlich sei davon auszugehen, dass er für die Tat über Komplizen außerhalb des Museums verfügt haben muss. Und da ich die einzige Person bin, mit der der Professor befreundet war …«

»Auch die Medien sind davon überzeugt, dass von Schacht den Kultwagen gestohlen hat.«

»Die Medien, die Medien. Ich sag dir jetzt ein paar Sachen aus dem Museum, die die Medien zurückhalten. Unzensierte Infos, sozusagen.«

»Joschka hat es schon immer geahnt: Berlusconi hat Deutschland erobert und keiner hat es gemerkt.«

Oh mamma …

Giovanna erzählte Tommaso, wie sie Frau Henkel, die Museumsmitarbeiterin, geknackt hatte. Diese war härter als eine Mandelschale gewesen. Nur als sie sie daran erinnerte, wie von Schacht geschwiegen hatte, als ihr einmal während des Aufsichtsdienstes Beruhigungspillen aus der Arbeitsuniform gefallen waren, hatte die Frau ihren Widerstand aufgegeben und über die Ereignisse im Museum zu sprechen begonnen.

»Ich bin immer noch nicht überzeugt«, meinte Tommaso. »Das wäre doch bewusste Täuschung.«

»Nein, Rufmord. Unser lieber Direktor hat gute Arbeit geleistet.«

»Und du bist sicher, dass die Überwachungskameras nichts hergeben?«

»Der Blackout von Dienstagabend hat offiziell alle Aufnahmen gelöscht.«

»Ist das technisch überhaupt möglich?«

»Keine Ahnung! Tatsache ist, dass seit den drastischen Kürzungen des Museumsbudgets in den letzten Jahren das Überwachungssystem nicht mehr regelmäßig gewartet wurde.«

»Was ist also das Problem?«

»Es gibt mehrere Probleme: Frau Henkel hat gesehen, wie der Direktor persönlich nach dem Blackout das Überwachungssystem auf seine Funktionsfähigkeit kontrolliert und Entwarnung gegeben hat und alle Museumsmitarbeiter, wie der Professor nach der Veranstaltung den Bronzewagen von seinem Sockel entfernt und …«

»… in den Tresorraum gebracht hat?«

»Das ist ja das Rätsel!«, antwortete Giovanna. »Logischerweise haben die gestern Morgen als Erstes da gesucht. Aber der Bronzewagen war weg und nirgendwo gab es Zeichen von Einbruchsspuren. Hier kommt Karl-Friedrich wieder ins Spiel. Natürlich wusste niemand außer mir, dass er den Kultwagen genauer untersuchen wollte. Doch auch er hätte das Exponat nie verrückt, wenn er es nicht gleich untersuchen wollte. So etwas tut man nicht. Es ist nicht professionell. Jetzt hoffen sie, dass ihn jemand beim Verlassen des Museums gesehen hat.«

»Wieso das denn?«

»Damit sie verstehen, wie er den Kultwagen hinausgeschmuggelt hat.«

»Die Sache wird ja immer undurchsichtiger. Warten wir ab, was die Polizei dir morgen sagen wird.« Ihr Freund machte eine Pause, dann räusperte er sich. »Giovà, bevor ich die Sache vergesse …«

So wie er anfing, wusste sie, dass er die Sache nie vergessen hätte.

»Der Steuerberater hat angerufen. Er braucht unsere Unterlagen früher als verabredet. Wenn er sie nicht bis Montag hat, schafft er es nicht, sie vor seinem Urlaub fertig zu machen. Du tust uns noch diesen Gefallen, nicht wahr?«

»Habe ich euch Holzköpfe je in Stich gelassen? Aber ich muss zuerst nachdenken, mir platzt sonst der Kopf vor lauter Unklarheiten. Weißt du, dass Barni zwei große Prellungen hatte?«

»Ich mache dir einen Vorschlag: Komm zu uns in die Leipziger Straße. Joschka trifft sich mit ein paar Verlegerfreunden und ich gehe gleich runter zum circolo. Außerdem«, er legte eine verheißungsvolle Pause ein, »wartet im Ofen ein Teller mit baccalà e patate auf dich.«

Stockfisch mit Kartoffeln und Tomaten geschmort, so wie die Neapolitaner ihn aßen. Er hatte recht, was sollte sie alleine zu Hause?

Das Schrillen der Klingel unterbrach ihr Gespräch, die kommunistischen Veteranen vom Circolo Di Vittorio waren da. Tommaso sagte noch, dass sie später weiterreden würden, dann hängte er auf.

Giovanna quälte sich über den zugigen Opernplatz. Sie spürte ihre Füße nicht mehr und hatte Angst, zusammenzubrechen und auf der Stelle zu erfrieren. Als sie in die Kronberger Straße einbog, sah sie, dass wieder einmal ein unbeschrifteter Kastenwagen mitten auf dem Gehweg stand. Diese Wagen waren eine echte Plage, seit die wohlhabenden Bewohner des Westends die teuren Sanierungsarbeiten von Billigfirmen aus Polen ausführen ließen. Voller Frust gab sie einer dicken Eisscholle einen Fußtritt, die krachend in die Seitentür des Fahrzeugs flog. Bevor sie sich über ihre Treffsicherheit freuen konnte, bemerkte sie eine Bewegung in der Fahrerkabine. Sie erschrak. Schnell vergrub sie ihr Gesicht im Jackenkragen und wechselte die Straßenseite.

Schon am Ende der Kronberger angelangt, erkannte sie unter einer Schneeschicht ihren Fiat 500. Erleichtert stieg sie ein. Auf dem Beifahrersitz lag ihr Lieblingsschal mit dem Leopardenfellmuster, den sie überall in der Wohnung gesucht hatte. Sie griff danach und schlang ihn sich wie einen Turban um den kalten Kopf. Karl-Friedrich hatte ihren Wagen am Dienstag benutzt, wie jedes Mal, wenn er Material ins Museum bringen wollte. Seit er aber einmal im schlecht ausgeleuchteten Innenhof den Nissan der Burkhardts gestreift und sich lange mit deren Anwalt hatte herumschlagen müssen, parkte er ihn lieber auf der Straße. Sie ließ den Motor an und stellte die Heizung auf die höchste Stufe. Hoffentlich waren ihre Finger noch zu retten.

Mit der Wärme schmolz auch ihre innere Erstarrung und ein ungutes Gefühl breitete sich aus. Das, was Frau Henkel sonst noch über den Eröffnungsabend erzählt hatte, war wirklich merkwürdig. Außer vielleicht der Streit zwischen den ewigen Konkurrenten, über den sich niemand im Museum gewundert hatte. Nach diesem Vorfall war der Professor aufgebracht, ja hysterisch, in die Ausstellungsräume gestürmt und hatte die Haustechniker regelrecht angetrieben, ihm beim Abheben der Schutzvitrine zu helfen. Danach war er mit dem Kultwagen in die Katakomben verschwunden, wo der Tresorraum für besonders wertvolle Objekte stand. Was war nur passiert, dass er so heftig, ja regelrecht unprofessionell, reagiert hatte?

Wieder klingelte das Handy und unterbrach ihre Gedanken. Diesmal war es Joschka.

»Hör zu«, sagte ihr Freund. »Dein zukünftiger Chef bei Durond hat mir unter der Hand gesagt, dass die Dauner-Geschichte keine Chance mehr hat. Das zieht nicht ohne den Professor, verstehst du?«

Nein.

»Du hast doch auch andere Ideen, nicht wahr?«

Nein!

»Gut, denn er will dich am Montag sehen.«

So ein Mist.

Was sie schon seit Mittwochnacht geahnt hatte, war jetzt Gewissheit. Mit dem unerwarteten Tod des Professors fiel auch ihr erstes Buchprojekt für das deutsch-italienische Programm in sich zusammen. Sie hatte keine andere Idee, sie hatte gar nicht daran gedacht. Zu erfolgversprechend war ihr das gemeinsame Konzept erschienen, das im selben Moment geboren worden war, in dem der Professor auf den Bildern des Bronzewagens diese eine verdächtige Delle entdeckt hatte.

Wäre seine Vermutung richtig gewesen, hätte ihre erste gemeinsame Publikation ein wissenschaftliches Erdbeben ausgelöst und wäre gleichzeitig ein Verkaufsschlager geworden. Damit hätte sie ihre neue Stelle bei Durond mit Zement gefestigt, von Schacht seinen berechtigten Platz zwischen Heinrich Schliemann und Howard Carter eingenommen und der Museumsdirektor seine Rückreise angetreten. Nach London, das er nie hätte verlassen dürfen.

Aber jetzt? Ohne Konzept keine Präsentation, ohne Präsentation keine Stelle, ohne Stelle …

So ein Mist!

Auf der Windschutzscheibe hatte sich endlich ein Halbkreis gebildet, durch den sie nach draußen sehen konnte. Es schneite wieder. Der Wind wirbelte Flocken durch die Luft, die aufplatzten, sobald sie die Fensterscheibe berührten. Giovanna betätigte den Scheibenwischer, aber er klebte fest, gehalten von den Resten eines Strafzettels. Sie suchte nach dem Eiskratzer und stieg aus.

Der dritte Anruf war von ihrem Mann. Er hatte ihr auf die Mailbox gesprochen, während sie draußen das krümelige Papier abkratzte. Diesmal hörte sie keine Hintergrundgeräusche, in Hongkong war es mitten in der Nacht. Julius lispelte leicht, wie immer, wenn er sehr müde war. Aber in der Sache war er bestimmt, fast monolithisch. Dass er am Freitag nicht zurückkäme und sie, als seine Ehefrau, die Rede bei der traditionellen Benefizveranstaltung der Wirtschaftskanzlei Greifenstein halten müsse. So wie in den letzten Jahren auch schon. Zum Wohle der Firma.

Diesmal würde sie es nicht schaffen. Nicht nach dem, was passiert war. Giovanna wollte ihn zurückrufen, dann dachte sie, dass er vielleicht schon schlief. Sie warf das Handy auf den Beifahrersitz, gurtete sich an und fuhr vorsichtig aus der Parklücke.

So viele Anrufe. Doch derjenige, nach dem sie sich am meisten sehnte, hatte sich nicht gemeldet.

Auf der Bockenheimer Landstraße staute sich der Feierabendverkehr und nur mit nervenzerreißender Langsamkeit näherte sie sich der großen Kreuzung an der Bockenheimer Warte. Giovanna hatte das Radio eingeschaltet, aber es wäre besser gewesen, sie hätte es nicht getan. Tommaso hatte nicht gelogen. Die Jagd auf den Professor war eröffnet. Sie konzentrierte sich wieder auf die Straße. Wenn sie die falsche Fahrspur erwischte, kam sie auf die Zeppelinallee und konnte lange nicht mehr wenden.

Die Ampel sprang auf Grün und alle fuhren los. Auch der Bus, der ihr zuerst die Sicht auf das Straßenschild versperrt hatte und jetzt die Vorfahrt nahm. Giovanna hupte, um nicht gerammt zu werden. Die Ampel schaltete auf Rot. Ihr Fiat hatte sich keinen Zentimeter bewegt. Da fiel ihr auf, dass die Bockenheimer auf beiden Seiten mit neuen Plakaten gesäumt war, in einer Menge, wie sie sie noch nie gesehen hatte. THE WAITING IS DONE, stand in grellen Buchstaben auf schwarzem Hintergrund. Und darunter Lady G.

Auch wenn Giovanna nicht wusste, wofür so viel Werbung gemacht wurde, die Warterei im Auto war sicher nicht damit gemeint. Aus Langeweile begann sie aufzuräumen. Die Parkscheibe steckte sie in die Türablage, ein Bonbonpapier und eine Parkquittung fanden ihren Platz im Aschenbecher. Hinter der Sonnenblende lugte die Ecke des Fahrzeugscheins heraus. Jetzt, wo der Professor ihren Wagen nie mehr benutzen würde, konnte sie das Dokument direkt in ihrem Portemonnaie verstauen. Bei dem Gedanken schluckte sie schwer. Was war sie froh, die Einladung von Tommaso angenommen zu haben.

Die Ampel sprang erneut auf Grün, doch der Verkehrsstrom, der vom Palmengarten kam, verhinderte ihre Weiterfahrt. Jemand hupte entnervt. Sie wollte den Fahrzeugschein weglegen, da stutzte sie. Das Plastikmäppchen war unerwartet dick und hart und ließ sich nicht biegen. Giovanna drehte es um und schüttelte es über ihrer offenen Handfläche aus. Ein klobiger, nummerierter Schlüssel rutschte langsam heraus. Sie hatte ihn noch nie gesehen.

Endlich tat sich vor ihr eine Lücke auf. Sofort drückte sie auf das Gaspedal und schaffte zwei Meter, bevor sie wieder zum Stehen kam. Doch jetzt hatte sie wenigstens das Straßenschild vor Augen, das ihr anzeigte, dass es Zeit war, den Blinker zu setzen. Wie gebannt starrte sie darauf. Bockenheim, stand da, der Pfeil zeigte geradeaus. Daneben stand Bahnhof, der Pfeil zeigte nach links. Bahnhof?

Sie zog die zerknitterte Parkquittung aus dem Aschenbecher und studierte sie im schummrigen Licht der Innenbeleuchtung. Was, verdammt noch mal, hatte der Professor Dienstagnacht zweiundvierzig Minuten am Hauptbahnhof gemacht, fast zeitgleich mit ihr um kurz nach Mitternacht? Als sie aus Spaß mit Sonny gemeinsame Passfotos gemacht hatte?

Zwei und zwei ergaben immer vier, hatte schon ihre Oma gesagt.

Giovanna wurde abwechselnd heiß und kalt, und je mehr sie sich der Kreuzung näherte, desto stärker wuchs die innere Beklemmung. Am liebsten hätte sie das Fenster heruntergekurbelt, um Schlüssel und Quittung in die Büsche zu werfen, aus Angst, Dinge über einen Mann zu erfahren, den sie zu kennen geglaubt hatte. Und dem sie vertraut hatte, was noch viel schlimmer war. Den Gedanken, zum Bahnhof zu fahren, verwarf sie augenblicklich. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie diesen Schritt bitter bereuen würde. Somit blieb ihr nur die vernünftige Lösung, nämlich Tommaso abzuholen und mit ihm zur Polizei zu fahren. Schon suchte sie nach ihrem Handy, um ihren Freund vorzuwarnen.

Die Ampel wechselte wieder die Farbe. Giovanna blieb in ihrer Spur und folgte dem Autokorso. Sie hatte fast das andere Ende der Kreuzung erreicht, da riss sie abrupt das Lenkrad herum. Mit einem waghalsigen Manöver und leicht durchdrehenden Rädern bog sie nach links, zum Bahnhof. Das Protestgehupe war ohrenbetäubend. Im Rückspiegel sah sie, dass sowohl ein Kastenwagen als auch ein Alfa Romeo ihrem Beispiel folgten. Der Verkehr an der Kreuzung brach endgültig zusammen.

Mit dem Hupkonzert im Ohr und den zwei Gesinnungsgenossen im Schlepptau bretterte sie Richtung Bahnhof. Es ging nicht anders. Sie musste wissen, was im Schließfach war, auch wenn sie vor Angst fast starb.

Die List der Schildkröte

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