Читать книгу Die schwarze Macht - Elise Lambert - Страница 10

Оглавление

Kapitel 7

D

rei Tage nach Dr. Robert McIntires rätselhaften Tod wurde auch der Hausmeister des Instituts, der alte Tyrell Hawthorne, von einer Nachbarin, die für den eingefleischten Junggesellen einmal wöchentlich die Einkäufe erledigte und sich mit der Zeit mit ihm angefreundet hatte, ebenfalls tot aufgefunden. Auch sein mysteriöser Tod, brachte mehr Fragen als Antworten mit sich.

Prof. Lamondt war inzwischen mit seinen beiden Assistenten aus Athen nach Edinburgh zurückgekehrt. Sie waren tief erschüttert über den Tod ihres Kollegen, und besorgt über Lauren Pritchards Zustand, die sie im Krankenhaus besuchten, ohne ihr jedoch etwas von dem plötzlichen Ableben McIntires zu erzählen. Für die Ärzte war es von großer Bedeutung, ihrer Patientin jede Aufregung zu ersparen.

Die junge, sonst vor Lebenslust sprühende Frau war noch sehr schwach und erschien ihnen auf eine sonderbare Weise verstört. Als Lamondt mit dem behandelnden Arzt das Gespräch suchte, erntete er auf seine Fragen nur ein resigniertes Schulterzucken.

»Wie ich schon Mrs. Pritchard sagte, stehen wir ärztlicherseits vor einem Rätsel. Als Ihre Mitarbeiterin eingeliefert wurde, hatte sie bereits die Hälfte ihres Blutvolumens verloren. Nur wenige Minuten später und sie wäre verstorben. Was uns verwundert, und wofür wir keinerlei Erklärung haben, ist der Umstand, dass weder äußere noch innere Verletzungen vorlagen.« Ratlos schüttelte der Mediziner den Kopf.


Nachdem die Leiche ihres Kollegen endlich freigegeben worden war, wurde er auf dem ›Craigmillar Castle Park Cemetery‹ beigesetzt. Die Familie hatte Prof. Lamondt gebeten, die Trauerrede zu halten. Schweren Herzens hatte er diese Aufgabe übernommen.

»Meine werten Damen und Herren«, Lamondt sah von seinem Pult aus in die Runde, »wir sind heute an diesem Ort und zu dieser Zeit zusammengekommen, um von Dr. Robert McIntire endgültig Abschied zu nehmen. Vor wenigen Tagen ist er im Alter von 36 Jahren, unter seltsamen, mysteriösen Umständen, von uns gegangen.

Es heißt, du sollst dir kein Bildnis machen. Dies gilt nicht nur für Gott. Ist es nicht bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, als Kollegen und Freund schätzen, am wenigsten darüber aussagen können, wie er ist?

Wir lieben und schätzen ihn einfach. Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe der Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen, in allen seinen möglichen Entfaltungen.

Wir wissen, dass jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandt fühlt, wie entfaltet, und dass auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das lange Bekannte. Vieles sieht er auch zum ersten Male. Die Liebe befreit es aus jedem Bildnis. Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertig werden, weil wir sie lieben, solange sie leben.« Seine Stimme stockte ein wenig, als er wieder von seinem Blatt, vor sich auf dem Pult, aufsah. »Sehr verehrte, liebe Familie McIntire, liebe Trauergemeinde! Das Unfassbare erfassen zu wollen, das Unbegreifliche, jetzt begreifen zu müssen, verlangt, den Tod Roberts anzusagen. Ja, er ist tot. Er lebt nicht mehr. Eine uns unbegreifliche Krankheit hat ihn uns allen genommen. Unerwartet ist sie eingetroffen und hat in seinem Dahinscheiden ein endgültiges Ende gefunden.

Ich muss das aussprechen, auch wenn es in dieser Nüchternheit rücksichtslos erscheint, denn es ist doch notwendig … Die Not wendend! … Für uns alle kommt es darauf an, seinen Tod zu realisieren. Seinen Tod nicht nur hinzunehmen, sondern schließlich auch anzunehmen. Ihn zu akzeptieren, zu ihm ja sagen zu lernen. Das zu lernen, das tun zu können, beansprucht Raum. Dazu bedarf es der Zeit. Das wird dauern.« Er machte eine kurze rhetorische Pause, und man merkte ihm an, wie schwer es ihm fiel diese Rede zu halten. »Da Ja zu sagen zu seinem Leben, schließt nun einmal auch das Ja zu seinem Sterben, zu seinem Tod ein. Der Tod, den ich Ihnen ansage, dessenthalben Sie an diesem Ort und zu dieser Stunde zusammengekommen sind, erscheint Ihnen am Ende doch erträglicher, sinnvoller und versöhnlicher, als die Ausweglosigkeit eines langen Leidens, welches ihm sicher zuteilgeworden wäre.

Wohl bemerkt, … das Ende erscheint so, weil wir nur die eine Alternative zum Tod kennen: Das Leben! Auf Roberts Leben zurückzuschauen, auf den, dessen Gestalt und Stimme Ihnen allen noch so gegenwärtig ist, geschieht zu früh, viel zu früh, muss aber geschehen, ist ebenfalls notwendig.

Dieses Lebens erinnern, sich dieses Mannes zu erinnern, ist ein schmerzhafter Prozess. Denn hier ist jetzt so viel Leben in der ganzen Fülle der Zeit gegenwärtig, auch plötzliche Krankheit und Sterben, und schon heißt es: Abschied nehmen müssen. Der Dichter Paul Celan hat einmal gesagt: Lege dem Toten die Worte ins Grab, die er sprach um zu leben. Die Traurigkeit, die über uns kommt, die Trauer, die uns lähmt, das revoltierende Nein zu diesem Lebensausgang werden laut.

Die Erinnerungen, die aufsteigen, die Gefühle und Empfindungen, die uns alle gefangen nehmen, sind stark. Erinnern dieses gelebte und am Ende gelittene Leben, bedeutet: Wiederholen! Heraufholen! Es heißt: Noch einmal!

Das soll nicht wertend und Bilder machend geschehen, als hätten wir das Leben wie einen in sich abgeschlossenen Gegenstand vor uns, so als hätten wir Überlebenden über ein gelebtes Leben zu urteilen, gar Prädikate zu erteilen. Wir sind mit ihm nicht fertig. Roberts Leben ist zu Ende, doch noch nicht fertig geworden, dass wir sagen könnten und sagen dürften, so oder so sei er, sei es gewesen.« Er blickte die Anwesenden an. »Ich möchte es anders herum versuchen. Das Leben ihres Mannes, liebe Mrs. McIntire, das sich Ihnen in den nahezu dreizehn Jahren Ihrer Ehe füreinander und miteinander erschloss, dem Sie in den eigenen und gemeinsamen Interessen Gestalt gegeben haben, ist von jener Hoffnung getragen gewesen, die auch in der Todesanzeige ihren Ausdruck fand: Gern miteinander alt zu werden.

Von Roberts Leben zu reden heißt: von ihrem Leben reden. Von den Stationen seines Weges, von Orten und den Menschen … und unterschiedlich im jeweiligen Erleben. Für Sie, liebe Mrs. McIntire, sind es die ...« Professor Lamondt sprach noch eine weitere Viertelstunde, ehe mit den Worten endete: »Das macht sein Gedächtnis aus, vor Gott und uns Menschen. Es mag uns als ein unabgeschlossenes Leben, ein Lebensfragment, erscheinen, das unser Gedenken beansprucht … und das sich allein Gott, dem Schöpfer und Richter, vollenden wird: seiner Gnade empfohlen. So hält sich im Abschiednehmen das Vergehende gegenwärtig und zugleich wird das Zukünftige am Vergehenden präsent.«

Er hielt inne, faltete seine Rede zusammen und steckte sie in das Jackett, ehe er vom Pult zurücktrat und dem Pfarrer Platz machte.

»Liebe Trauergemeinde«, begann der Geistliche, nachdem er dem Professor dankend die Hand geschüttelt hatte, »lassen Sie uns beten: Herr, unser Gott, Du gibst uns Menschen das Leben und dann nimmst Du es wieder. Du verbirgst es eine Zeit im Geheimnis des Todes, um es dereinst gereinigt ans Licht zu bringen als unser ewiges Leben. Sieh Du uns heute an und höre uns an diesem Ort, an dem wir jetzt versammelt sind, weil Robert McIntire von uns gegangen ist. Nimm Du unser Erschrecken, unsere Trauer auf in Deinen Frieden. Nimm alle unsere Gedanken über den, dessen Sterben und Tod wir beklagen und über uns selbst, hinein in die Erkenntnis Deines guten Willens mit ihm und uns. Herr, unser Gott, lehre uns bedenken, dass auch wir sterben müssen.« Er gab den Trauernden ein Handzeichen aufzustehen, und begann das Vater Unser, in welches alle einstimmten. Das Amen war gerade verklungen, als er die Anwesenden segnete: »Der Herr segne und behüte uns. Er erhelle unser Dunkel. Er lasse uns seinen Weg erkennen. Er habe mit uns Erbarmen und bleibe uns zugewandt.«

Nach Abschluss der Andacht folgten die Trauernden dem Sarg hinaus zum Gottesacker, warfen Blumen ins Grab, gefolgt vom einem Schäufelchen Erde und drückten der Witwe McIntires und den Eltern ihr Mitgefühl aus. Nach und nach löste sich die Gruppe der Trauernden auf. Einige von ihnen trafen sich noch zu einem gemeinsamen Essen in einem nahe gelegenen Restaurant. Auch Professor Lamondt war eingeladen, doch er hatte beschlossen sich, nach dem Abschluss des traurigen Ereignisses, auf den Heimweg zu machen, und entschuldigte sich entsprechend.


Lamondts Weg führte ihn am Institut vorbei. Aus einem ihm unerklärlichen Grund änderte er seine Entscheidung, lenkte seinen Wagen auf den für ihn vorgesehenen Parkplatz und stieg aus. Irgendetwas trieb ihn förmlich in das Gebäude hinein, eine Gefühlsregung, die er sich selbst nicht erklären konnte. Auf dem Weg über den Campus zur Tür bemerkte er das alte, schon leicht vom Rost angefressene Fahrrad von Shelly Wright.

Die junge Frau musste ein schweres Schicksal ertragen. Ihr Mann war seit zwei Jahren aufgrund eines schweren Unfalls querschnittsgelähmt und bezog nur eine kleine Rente. Lamondt wusste, dass sie deshalb gleich mehrere Putzstellen angenommen hatte, um den winzigen Etat etwas aufzubessern. Sie imponierte ihm, denn trotz dieser widrigen Lebensumstände hatte Shelly ihr freundliches Wesen nicht verloren.

In einer Ecke des Flurs sah er den Putzwagen stehen, den sie immer hinter sich herzog. Es machte auf ihn den Eindruck, als ob sie gerade erst gekommen wäre. Seltsam war nur, dass man so gar nichts von ihr hörte. Das hatte er noch nie erlebt, denn Shelly liebte es sehr, bei der Arbeit zu singen.

Ihn beschlich ein unheimliches, dunkles Gefühl, als er durch den Korridor ging.

»Shelly!?«, rief er mit lauter Stimme.

Er bekam keine Antwort. Schnell lief er von Zimmer zu Zimmer, aber sie war nirgends zu entdecken. Er wollte schon aufgeben, als ihm die Bibliothek einfiel. Zu seiner Verwunderung sah er den Schlüssel in der Tür stecken. Als er die Hand auf den Türdrücke legte, um zu öffnen, zögerte er aus einem ihm unklaren Grund …

Sein 6. Sinn warnte ihn.

Er befreite sich von dem Gedanken, öffnete und ging hinein. Im selben Augenblick fiel sein Blick auf den Shellys Rücken. Sie saß in einer seltsam verkrümmten Haltung an einem der Leseplätze. Ihr Oberkörper lag auf der Tischplatte, und ihr rechter Arm hing so weit herunter, dass er fast den Boden berührte.

Lamondt spürte, wie ein würgendes Gefühl in ihm hochstieg, als er mit einigen hastigen Schritten näher herantrat.

»Shelly!«, sprach er sie laut an und rüttelte ein wenig an ihren Schultern. »Was ist los mit dir?«

Als sie sich nicht bewegte, hob er behutsam ihren Kopf ein wenig an, sah ihr Gesicht und erschrak. Es hatte die Farbe von weißem Carrara-Marmor, und es lag ein Ausdruck darin, der ihn unwillkürlich schaudern ließ. Er griff nach ihrem Handgelenk und fühlte den Puls. Nichts. In ihr steckte kein noch so kleines Lebenszeichen mehr, jede Hilfe kam zu spät. Müde lehnte er sich gegen den Tisch und holte sein Handy heraus.


Die schwarze Macht

Подняться наверх