Читать книгу Vampire essen keine Pasta - Elke Bulenda - Страница 10

Aus feinem Tuch werden auch Deckmäntel gemacht.

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(Deutsches Sprichwort)

Während in Florenz noch tiefe Nacht herrschte, ging im Osten bereits die Sonne auf. Mit einem zufriedenen Blick betrachtete Gungnir sein befremdlich wirkendes Spiegelbild im Badezimmerspiegel. Er zeigte seinem Gegenüber die Zähne, die weiß aus dem dunkel getönten Gesicht hervor schienen. Selbst seine Augenbrauen und der Bart besaßen eine neue Farbe. Das Waschbecken, vor dem er gerade stand, sah aus, als hätte darin zuvor eine besonders haarsträubende Schlacht getobt. Schwarze Haarfarbe ist eine wirklich hartnäckige Angelegenheit und hinterlässt auf weißem Porzellan eine ziemliche Sauerei.

Er machte innerlich drei Kreuze, in weiser Voraussicht die Gummihandschuhe übergestreift zu haben. Ansonsten sähen seine Hände jetzt ziemlich übel aus, speziell die Fingernägel. Er trocknete seine schwarzen Locken, um sie anschließend mit grimmig-konzentrierter Miene zu kämmen. Wie jedes Mal, gaben sie sich äußerst störrisch und schienen ein seltsames Eigenleben zu führen, weil er immer wieder fluchend den Kamm freikämpfen musste. Gerade nach der Haarwäsche, schimpfte Gungnir stets über die dämonischen Gene, die ihm seine Mutter vererbt hatte. Obwohl er damals seine Mutter abgöttisch verehrte, bekam er selbst heutzutage immer wieder eine Gänsehaut, wenn er an ihre Haare dachte. Seine Mutter war eine strebsame und fleißige Frau, die sogar mit ihren Haaren Schweres heben konnte. Sie war womöglich die Einzige, deren Haare Muskeln besaßen. Jedenfalls erzählte ihm sein Vater, dass sie bei ihrem ersten Rendezvous versucht hätte, ihn mit ihrem Haar zu erwürgen. Gungnir schüttelte sich, weil sein Vater ihm des Öfteren vorschwärmte, dass er, Gungnir, überhaupt keine Ahnung hätte, was seine Mutter alles mit ihren Haaren anstellen konnte. Und wieder lief es ihm bei diesem Gedanken, eiskalt den Rücken hinunter. Als er noch ein kleiner Bub war, ertappte er seine Eltern dabei, wie sie aufeinander lagen und grunzten. Neugierig fragte er, was sie da trieben. Sein Vater antwortete schroff, sie würden »Krötenwanderung« spielen. Diese Antwort ließ sich der kleine Steppke durch den Kopf gehen, wälzte einschlägige Literatur und musste feststellen, dass die Erwachsenen nicht immer die Wahrheit sagten. Daraufhin keimte in ihm die Idee, seine Eltern dafür zu bestrafen und sie umzubringen. Leider schlugen alle seine Attentatsversuche fehlt. Überhaupt grauste es Gungnir bei dem Gedanken, seine Eltern könnte jemals miteinander Sex gehabt haben. Aber so ergeht es wahrscheinlich allen Kindern.

Normalerweise züchtigte er seinen eigensinnigen Schopf brachial mit einem Haargel, das nach dem Auftragen hart wie Zement wurde. Ansonsten musste er davon ausgehen, wenn er sich einen Kugelschreiber hinter das Ohr steckte, dass er ihn entweder gar nicht, oder erst nach Tagen wieder fand, oder, was auch schon mal vorkam, dieser wie ein Speer auf umstehende Personen abgefeuert wurde. Das passierte ihm neulich bei einem Meeting, wobei ein Mitarbeiter beinahe ein Auge verlor. Doch diesmal musste er auf Haar bändigende Mittel verzichten, wenn er nicht einen klebrigen Klumpen unter dem Turban tragen wollte.

Gerade als er mit dem Wickeln seiner aufwändigen Kopfbedeckung fertig war, wurde diese, wie das Geschoss eines Katapults, von seinen Haaren wieder abgestoßen. Gungnir schnaubte verärgert. Seitdem es völlig aus der Mode gekommen war, Hüte zu tragen, gestaltete sich sein Leben wesentlich angenehmer. Damals verschliss er Dreispitze, Zylinder, Bowler und Fedoras, wie andere Servietten, oder Klopapier.

- Dumm formuliert, dieser Vergleich hinkt, bzw. stinkt. -

Selbst an windstillen Tagen sahen Passanten des Öfteren, einen hochgewachsenen Rotschopf hinter seinem Hut herjagen. Und das betraf nur die Friedenszeiten. Mit einem Helm auf dem Kopf, durfte er niemals bei den Spähern ganz vorn mit dabei sein, weil das Klappern des Helmes ihren Standort verraten hätte. Und wenn er einen Helm bei einer Schlacht trug, musste er zusätzlich mit einem auf und zu klappenden Visier kämpfen. Nein, er hatte es von jeher nicht leicht gehabt. Schon damals, als er noch ein Halbvampir war, wurde er von den Leuten geschnitten, weil weder seine Mutter, noch sein Vater in der Beliebtheitsskala des Volkes ganz oben standen. Und sich mit Lord Seraphims Familie einzulassen, befanden die meisten als ungesund und zu gefährlich. Somit fiel es dem gutmütigen Gungnir schwer, Freunde zu finden. Er beneidete andere, die wie selbstverständlich, eine Handvoll Spielgefährten ihr Eigen nennen konnten. Sein Vater behauptete, keine Freunde zu haben sei besser, als falsche, die einem ein Messer in den Rücken rammen. Zum Glück war Gungnir kein Einzelkind. Er hatte seinen Zwillingsbruder, mit dem er sich nicht nur von Anfang an das Fruchtwasser und den Mutterkuchen teilen musste, sondern auch die Eltern. Der Zwillingsbruder war zugleich sein bester Freund und Kumpel. Ihr Vater Ragnor rätselte oft, wer von beiden wohl der böse Zwilling sei, kam aber letztendlich zur Einsicht, dass beide böse und ungezogen waren.

Gungnir musste sich schon recht früh eingestehen, seinen Bruder Mjølnir (den alle seltsamerweise Wally nannten) heimlich zu beneiden. Dieser war hübscher und sehr viel talentierte als er selbst. Mjølnir war ein wahres Genie, was das Zeichnen, Malen und die Bildhauerkunst betraf. Weniger genial war dagegen dessen schlechtes Timing, vor allem dann, wenn sie etwas Schlimmes ausgefressen hatten. Während sich Gungnir schon auf der Flucht und hinter den sieben Bergen befand, bummelte sein Bruder noch immer als Corpus Delicti am Tatort herum. Malen oder Zeichnen konnte Gungnir leider nicht, doch damit punkten, alles zähmen und reiten zu können, was vier Beine besaß. Erst im mittel- bis spätpubertären Alter, kamen bei ihm weibliche Zweibeiner hinzu. Schon früh kristallisierte sich sein Talent als Pferdeflüsterer heraus. Ganz im Gegenteil zu seinem Vater, der eigentlich dafür bekannt war, gerne mal Pferde anzubrüllen und den Begriff »Pferdeboxen« als Tätigkeitswort zu verstehen.

Wer mit seinem Kampfross nicht zurechtkam, oder gar Wurst daraus zu machen beabsichtigte, trat gern an Gungnir heran. Die Anwesenden lachten zwar, wenn er mit dem Pferd ein Zwiegespräch begann und dem Zossen sogar einen guten Branntwein einflößte, jedoch verflogen ihre Zweifel, wenn sie anschließend den Destrier lammfromm am Zügel wieder in den Stall führen konnten. Nebenbei bemerkt, kostete damals ein gut ausgebildetes Streitross so viel, wie heutzutage ein Haus mit gehobener Ausstattung. Und es ist klar, dass diese wilden Kampf-Hengste nicht leicht zu handhaben waren. Deshalb machte Gungnir schon früh mit seinem Pferdeverstand gutes Geld. Nicht nur durchs Pferdeflüstern besserte er seine Finanzen auf. Er witterte auch fette Gewinne bei selbst arrangierten Pferderennen. Mit seinem Hengst Gunnar, stampfte er die Konkurrenz in Grund und Boden. Das imponierte natürlich auch dem weiblichen Geschlecht. Und Gungnir konnte sich damit brüsten, dass das Glück ihm stets hold blieb, was die Betthasenjagd betraf. Nicht nur in der Ernährung spielt Abwechslung eine große Rolle. Was die Frauen betraf, war er Jäger und Sammler in Personalunion. Er war zwar nicht so gutaussehend wie sein Zwillingsbruder, dafür besaß er aber eine äußerst virile Ausstrahlung, und mit seiner eloquent-charmanten Art, waren die Damen wie Wachs in seinen Händen. Bald kam er dahinter, dass edle und vornehme Kleidung wie ein Frauenmagnet funktionierte. Und nachdem er den Beruf des Schmiedes erlernt hatte, konnte er mit seiner Kraft und Ausdauer bei den Damen zusätzlich mächtig Eindruck schinden. Als kleines Kind ähnelte er mit seinem langen Gesicht eher einem Pferd; erst später glich er von seinem Erscheinungsbild seinem Vater.

Allerdings strebte er nicht wie sein Erzeuger danach, eine eigene Familie zu gründen. Deshalb kam es für ihn beinahe einem Todesurteil gleich, als er ein Mädchen aus Høy Øya schwängerte und anschließend von seinem Vater dazu verdonnert wurde, diese Nordfrau auch noch zu freien. Er, der gerne Betthasen jagte, musste plötzlich wie ein vernünftiger Mann handeln. Er fühlte sich vom Leben betrogen; zwar wusste er inzwischen wie die schönste Sache der Welt ging, jedoch blieb ihm der eigentliche Zweck dessen, wieso es die Natur so eingerichtet hatte, völlig schleierhaft. Er ging davon aus, dass Vampire mit Platzpatronen schossen, musste aber schockiert feststellen, dass dies nicht für Halbvampire galt.

Und als wäre das nicht schon schlimm genug, stand eines morgens ein Körbchen mit einem Kleinkind vor seiner Tür. Der Junge konnte zwar nicht sagen, wer seine Mutter war, jedoch verriet ein Brief, dass dieses Kind das Ergebnis einer wilden Liaison mit einer angesehenen Adelstochter war. Leider konnte Gungnir das Kind nicht mehr zurückgeben, denn die junge Mutter wurde gezwungen den Schleier zu nehmen, um Zuflucht in einem Kloster zu finden. Deren Eltern suchten gleichfalls ihr Heil in der Flucht, weil sie nicht das Schicksal erleiden wollten, das jeden ereilte, der auch nur einen Hauch an Einfluss auf Lord Seraphim oder dessen Familie nehmen wollte.

Und überhaupt brachte es das Wort »Liaison« nicht unbedingt auf den richtigen Nenner. Eigentlich kannte er die Kindsmutter nur flüchtig. Wobei das Wort »flüchtig« genau das beschreibt, was er am nächsten Morgen nach dieser denkwürdigen Nacht war. Eigentlich fing alles recht harmlos an. Sein Bruder und er, trieben mal wieder Schabernack auf Kosten anderer. So wurden sie auf Anraten ihres Großvaters, Lord Seraphim, und um den Anschein zu wahren, sie seien fromme Christen, in den Ministranten-Chor der Burgkapelle gesteckt. Wahrscheinlich um das Gerücht zu zerstreuen, welches besagte, sie seien zwei wahre Teufel. Und zum Erstaunen aller, sangen die Zwillinge wie Engel. Bei den Proben selbst, gaben sie sich umgänglich. Als jedoch die neu renovierte Burgkapelle eingeweiht werden sollte, wollten die Zwillinge, wenn sie schon die Stars der Aufführung waren, zumindest hinterher eine ordentlich Backstage-Party mit Groupies feiern. Wie die aphrodisierenden Drogen in den Messwein gelangten, daran konnte sich Gungnir nicht mehr ganz so genau erinnern. Nur daran, dass er den Kräuter-Dealer seines Vertrauens damit beauftragt hatte, eine ganz besonders gute Mischung zusammenzustellen. So gesehen war eigentlich der Geistliche schuld. Denn im Normalfall genehmigte er sich beim Abendmahl einen Schluck und ließ die Gemeinde darben. Wieso hinterher alles so schrecklich aus dem Ruder lief, konnte sich wohl niemand mehr ganz genau erklären. Vor allem nicht, als die Orgie am nächsten Morgen ernüchternd endete, jeder verschämt seine Sachen zusammensuchte und Hals über Kopf aus dem Gotteshaus floh.

So musste Gungnir das kleine Körbchen-Kind, dem er den Namen Rahan gab, als seinen legitimen Sohn anerkennen. Und da Rahan der Erstgeborene war, als seinen Erben einsetzen. Dieser Umstand gefiel niemanden in seiner Familie besonders gut, und seiner Ehefrau erst recht nicht. Als wäre das alles nicht schon schlimm genug für den Hallodri, erwies sich seine Gemahlin als äußerst fruchtbar und gebar ihm obendrein Drillinge. Gungnir wäre am liebsten ausgewandert, weil ihm klar wurde, dass er weder treu bleiben konnte, noch wirklich wollte. Dafür gab es seiner Meinung nach, einfach zu viele bezaubernde, weibliche Wesen. Zumindest war er inzwischen in einen vollwertigen Vampir verwandelt worden, sodass er wenigstens nicht mehr mit unliebsamen Nachwuchs konfrontiert werden konnte. Dieser Umstand kam in seinen Augen einem Freibrief für ungezügeltes Treiben gleich. So verpatzte er es, ein pflichtbewusster Vater und Ehemann zu sein, und fiel, nachdem sein dominanter Vater plötzlich das Zeitliche segnete, wieder in sein altes Verhaltensmuster zurück. Seine Ehefrau war nicht länger gewillt, seine Eskapaden weiterhin zu ignorieren und verließ ihn. Nur sein erstgeborener Sohn Rahan blieb bei ihm zurück. Doch diese Beziehung erwies sich als äußerst schwierig. Ihm blieb nicht verborgen, wie sehr sein eigener Sohn ihn verachtete. Irgendwann - Rahan war inzwischen ebenfalls ein Vampir und erwachsen - trennten sich ihre Wege im Zorn. So gingen sie sich nicht nur aus dem Weg, sondern verloren sich zusätzlich aus den Augen. Nur durch einen seltsamen Zufall, liefen sich Gungnir, Ragnor und Rahan in Paris über den Weg, wobei es anschließend zu einem Treffen mit Aussöhnung kam. Obwohl Rahan ihm versprach, den Kontakt zu halten, meldete er sich nur ab und zu, rein sporadisch. So gesehen, blieb ihr Verhältnis zueinander weitestgehend lieblos und distanziert. Trotzdem wollte Gungnir seinen Filius grob im Auge behalten. Da er über genügend Mittel und Wege verfügte, setzte er sie auch ein. Wahrscheinlich, um sein Gewissen zu beruhigen.

»Warum kratzt mich das überhaupt?«, fragte er sein Spiegelbild und seufzte. »Ich lebe doch im Hier und Jetzt, wieso muss es mich noch heute belasten, was vor über sechshundert Jahren geschah?«

»Wieso sechshundert Jahre? Denk an deinen Bruder, den du gegen dich aufbrachtest, nur weil du wieder einmal deine Triebe nicht im Zaum halten konntest!«, antwortete sein Spiegelbild.

»Äh, Moment mal! Dazu gehören immerhin zwei! Dyna ist ebenso schuld daran wie ich. Außerdem habe ich mich bei ihm entschuldigt. Wenn er mir verziehen hat, wird er sich bestimmt wieder melden. Schließlich sagte er, ich solle ihm aus den Augen gehen!«, gab er als Rechtfertigung zurück. Nebenbei fragte er sich, seit wann er mit seinem Spiegelbild sprach. Vermutlich war es aufgrund nervliche Anspannung.

Fakt ist, dass sein Unterbewusstsein ihm damit vor Augen führen wollte, wie unfähig er war, sich zu binden. Es zeigte ihm, wie schnell man eine Sache durch Egoismus, Zügellosigkeit und Bindungsängste vermasseln konnte. Obendrein fehlte ihm sein Bruder sehr, ohne ihn fühlte er sich wie halbiert.

Da der Turban auf seinem Kopf verblieb, putzte er das Waschbecken ordentlich mit Scheuerpulver sauber. Anschließend vergewisserte er sich, ob alle Farbspuren beseitigt worden waren. Nochmal sah er den fremdartigen Kerl im Spiegel an, wusch dessen Hände und setzte zuletzt die braunen Kontaktlinsen ein. Kurz danach verließ er das Bad und trat vor die Tür des Gemischtwarenladens. Obwohl noch früh am Morgen, pulsierte in Jodhpurs Straßen schon wieder das geschäftige Treiben.

»Na? Wie ich sehe, ist mein gesamter Vorrat an Express-Selbstbräuner-Spray hinfällig geworden«, stellte Ganesh Singh lächelnd fest.

»Tja, wäre ich kleiner, könntest du mit dem übriggebliebenen Rest, hier in Indien, ein echtes Vermögen machen!«, konterte Gungnir schlagfertig.

»Auch wieder wahr. Und? Hast du dir schon Gedanken über deinen neuen Namen gemacht?«, fragte Ganesh, der auf der Veranda seines Ladens saß, um vor Beginn der Ladenöffnung noch gemütlich eine Zigarette rauchen zu können. Diese Frage war nicht allein rhetorisch gemeint, sondern bei ihm Programm, da Ganesh Gungnir die neuen Papiere besorgte. »Willkommen bei den Sikhs, jetzt bist du auch ein Löwe.«

Die männlichen Sikhs heißen alle mit Nachnamen Singh, was eben »Löwe« bedeutet.

»Eigentlich bin ich vom Sternzeichen ein Zwilling. Ich dachte da an Gobinda Singh«, gab Gungnir zurück.

»Gobind Singh war der zehnte und letzte menschliche Guru des Sikhismus. Da hast du dir einen großen Namen ausgesucht. Halte ihn in Ehren«, meinte Ganesh feierlich.

»Äh, eigentlich dachte ich da eher an Gobinda aus dem James-Bond-Film ›Octopussy‹. Das war der Kerl, der die Backgammonwürfel mit bloßen Händen zu Pulver zermalmte«, grinste Gungnir und zündete sich eine Zigarre an.

Ganesh holte einen Jutebeutel hervor. »Hauptsache du wählst nicht Singh Singh, das klingt nämlich wie dieser amerikanische Knast. Egal, wenn du einen echten Sikh darstellen willst, brauchst du die fünf berühmten K´s. Hier sind deine ersten vier Utensilien: Einen hölzernen Kamm, den sogenannten Kangha. Der wird in den Haaren getragen und zur Haarpflege benutzt. Er gilt als Zeichen der Sauberkeit«, händigte er den Kamm aus. »Und dies ist eine Kachera-Hose aus Baumwolle. Sie soll zur sexuellen Mäßigung beitragen. Ob das allerdings bei dir irgendetwas nützt, ist fraglich«, kicherte Ganesh wissend.

»Hm, das Ding sieht wie eine normale, etwas längere Boxer-Shorts aus, und nicht gerade wie ein Liebestöter. Erinnert mich ein wenig an Turnvater Jahn«, stellte Gungnir verblüfft fest.

»Tja, wenn sie vorne gelb und hinten braun ist, kann sie schon abschreckend wirken!«, lachte Ganesh und verschluckte sich beinahe am Zigarettenrauch. »Weiter im Konzept: Dieser Stahlreif, der Kara, wird am Handgelenk getragen und ermahnt zur Verpflichtung an die Wahrheit. Ursprünglich diente er dazu, um die Schwerthiebe unserer Feinde abzuwehren. Nun zum Kirpan. Dieser Dolch wird Tag und Nacht getragen und ist das Werkzeug, um Arme, Schwache und Unschuldige zu verteidigen. Ich hoffe, du wirst dich wenigstens ansatzweise an unseren Ehrenkodex halten?«, mahnte er feierlich.

»Ich werde mir alle Mühe geben. Aber was ist das fünfte K?«, fragte Gungnir neugierig.

»Das trägst du bereits unter deinem Turban, dem Dastar. Kes, das ungeschnittene, jedoch gepflegte Haar. Es ist ebenso ein Symbol unseres Glaubens. Es bekundet, dass wir nicht gegen Gottes Willen aufbegehren, sondern die Natur seiner Gesetze akzeptieren«, erläuterte Ganesh.

»Na, da habe ich aber Glück, dass der Turban jetzt hält, ansonsten hätte ich es nämlich abrasiert!«, gluckste Gungnir belustigt.

Beide Männer schwiegen, rauchten und sahen dem geschäftigen Treiben auf der Straße zu. Gungnir brach zuerst das Schweigen. »Hast du dich eigentlich gar nicht gefragt, wieso ich für die Welt gestorben bin und nun deine Hilfe benötige?«

»Nein, in meinem Job komme ich weiter, wenn ich keine Fragen stelle. Wenn du mir etwas erzählen willst, dann tu es freiwillig. Ich selbst stelle keine Fragen. Manchmal ist es besser, wenn man nichts weiß«, meinte Ganesh und stieß einen Rauchkringel aus.

»Es klingt zwar ein wenig lahm, aber ich bin nicht freiwillig in dieses Dilemma geraten. Jemand hat mich reingelegt. Und dazu noch jemanden, der mir sehr viel bedeutet. Du kennst doch den Kerl, der letztes Jahr mit dem Dunkelhaarigen bei dir war, um ein paar nützliche Dinge zu kaufen?«

»Oh, du meinst deinen Bruder, den Maler?«, fragte Ganesh.

»Was?«, fragte Gungnir entsetzt. »Hat er gesagt, er wäre mein Bruder?«

»Ja, ich weiß noch, wie ich für euch eine Turbine besorgen musste, nachdem ihr eine auf dem Flughafen demoliert habt«, erinnerte er sich lebhaft.

»Ja, genau. Er wurde ebenfalls hereingelegt und befindet sich, genauso wie ich, auf der Flucht.«

»Was gedenkst du zu tun?«, wollte Ganesh wissen.

»Ich werde dir ein Bündel Dollarnoten in die Hand drücken und deinen Münzfernsprecher benutzen, um jemanden anzurufen, der mir eventuell behilflich sein kann«, erklärte Gungnir.

»Mit meiner Hilfe kannst du jederzeit rechnen. Auch mit der meiner Brüder. Ich habe übrigens erzählt, du seist aus England, wo deine Familie schon seit Generationen lebt. Deshalb könntest du weder unsere Sprache sprechen, noch unsere Schrift lesen. Ist doch besser, sie wissen gleich Bescheid, dass du nicht mit unseren Sitten und Gebräuchen vertraut bist, oder?«

»Danke, Ganesh. Äh, was machst du eigentlich mit der ganzen Kohle, die du mit deinen ›Geschäften‹ verdienst?«, erkundigte sich Gungnir. »Du lebst nach wie vor völlig bescheiden. Wenn ich das mal so fragen darf...«

»In meiner Religion wird Reichtum nicht verpönt, sondern es gilt, dass man der fleißigste Bauer, der cleverste Geschäftsmann und der gelehrigste Beamte sein kann. Ich habe zwei Söhne, die sollen es mal besser als ich haben. Der Älteste, Naresh, studiert in Jaipur Rechtswissenschaften. Du weißt schon, damit mich jemand davor bewahrt, in den Knast zu wandern«, grinste Ganesh. »Und mein jüngerer Sohn Harish, der dort hinten irgendwo im Laden herumstrolcht, und mit seinem Smartphone herum daddelt, anstatt sich zu sputen, um rechtzeitig zum Unterricht zu erscheinen, der soll mal Betriebswirtschaftslehre studieren und meine Geschäfte übernehmen. Tja, Bildung ist teuer. Und ich muss etliche Beamten hier im Staate Rajasthan schmieren, damit sie weiterhin weggucken.«

»Hm, du rauchst. Aber verbietet es deine Religion nicht, Tabak zu rauchen?«, hakte Gungnir nach.

»Ertappt, aber das bleibt unter uns. Natürlich sollte ich auch ein ehrlicher Geschäftsmann sein. Aber das Leben ist reizlos, so gänzlich ohne kleine Laster.«

»Töchter hast du keine?«, fragte Gungnir neugierig.

»Nein, und wenn ich dein lüsternes Gesicht so sehe, bin ich wirklich froh, keine zu haben. In meiner Familie werden seit Generationen nur männliche Nachkommen geboren. Außerdem, wir leben in Indien. In diesem Land als Frau geboren zu sein, kommt einer Strafe gleich. Du hast sicherlich des Öfteren die Stimmen der Auslandspresse vernommen, oder?«

»Sicherlich, aber es scheint die inländische Presse wenig zu jucken, wenn junge Frauen von mehreren Männern vergewaltigt, und anschließend ermordet werden, oder?«

»Nein, hier werden immer noch gerne die Augen vor drängenden Problemen verschlossen. Früher oder später müssen wir Frauen von außerhalb importieren, denn hier gibt es zu wenige davon. Wenn eine Familie eine Tochter bekommt, wird diese mancherorts wie eine ungewollte Katze ertränkt, weil die armen Familien es sich nicht leisten können, ihre Tochter mit einer gebührenden Mitgift auszustatten. Überwiegend von solchen, die ohnehin an das Kastensystem glauben«, meinte der Sikh, der sich glücklich schätzen konnte, nicht diesem Wahnsinn anheimgefallen zu sein. In seiner Religionsgemeinschaft wurden Frauen mit Nachnamen »Kaur« angesprochen, was so viel wie »Prinzessin« heißt, aber grammatikalisch korrekt »Prinz« bedeutet. Sie werden gleichrangig wie Männer behandelt. Die Sikhs sind Monotheisten, glauben an einen Gott, der weder männlich, noch weiblich ist. Sie lehnen dabei das Kastensystem strikt ab, weil sie der Meinung sind, jeder Mensch habe ein Recht auf freie Entfaltung. Doch gänzlich fernhalten können sie sich davon nicht, weil ihr Alltag damit durchtränkt ist, eben mit solchen Menschen an einem Ort zu leben, die dem hinduistischen Glauben angehören.

Gungnir blickte nachdenklich in den morgendlichen Himmel. »Ich wollte dir für deine Hilfe und Gastfreundschaft danken. Es ist schwierig, Menschen zu finden, die so tolerant sind wie du und deine Glaubensgemeinschaft. Und es soll auch nicht zu deinem Schaden sein. Du weißt, ich reise immer mit einem Koffer voller Dollarnoten.«

»Kein Thema. Wir kennen uns nun schon eine ganze Weile, nicht wahr? Wie wäre es mit einem Frühstück?«, wechselte Ganesh das Thema.

»Nein, danke. Ich frühstücke nie«, blockte Gungnir ab.

»Und zu Mittag isst du auch nie, ebenfalls gilt das für das Abendessen... Ich habe dich nie jemals irgendetwas essen sehen. Wenn wir dich einluden, lehntest du immer ab«, bemerkte Ganesh nachdenklich. »Aber ich werde nicht auf diesem Thema herumreiten. Ich bin lediglich ein guter Beobachter. Möchtest du Tee?«, fragte er grinsend und zeigte dabei seine weißen Zähne.

Gungnir wischte sich mit den Händen müde über das Gesicht. »Ja, Tee klingt gut. Hör mal, ich will nicht, dass du etwas Übles über mich denkst, aber ich bin nicht so wie andere Menschen, und da ich dich als meinen persönlichen Freund betrachte, werde ich dir jetzt die Wahrheit sagen. Du kannst mich gerne für verrückt halten, aber ich bin ein Vampir. Ein sehr alter Vampir. Du und deine Familie, ihr habt nichts zu befürchten, okay?«

»Hm«, machte Ganesh. »Okay, ist gebongt. Und solange du Gast in meinem Haus bist, wird dir niemand auch nur ein Haar krümmen, mein Freund. Und dein Geheimnis ist bei mir gut aufbewahrt. Ich fühle mich geschmeichelt, dass du so ehrlich zu mir bist. Sardar.«

»Sardar?«, fragte Gungnir verblüfft.

»Ja, das heißt Bruder. Komm jetzt, der Tee ist fertig!«

Beide Männer gingen wieder zurück in den Laden, während in den Straßen Jodhpurs der Lärm des Straßenverkehrs zunahm und beinahe undurchdringlich wurde.

*

Vampire essen keine Pasta

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