Читать книгу Der dämliche Dämon - Elke Bulenda - Страница 4
Realität ist der Zustand, der aus Mangel an Alkohol entsteht.
Оглавление(Aus Irland)
Für ihn waren Studentenpartys immer noch die schönsten Partys. Aus zwei bedeutenden Gründen. Erstens: Niemand fragte, wer denn wohl der Kerl mit dem dicken, schwarzen Wust aus Rasta-Locken war. Zweitens: Die zweite Frage blieb aus, was er überhaupt auf dieser Party als Fremder zu suchen hatte. Studenten gab es viele, also dachte jeder, er sei der Freund eines Bekannten, oder von dessen Bekannten der Bekannte. Wichtiger für ihn war, dass der Alkohol dabei niemals versiegte. Wenn er dann auch noch die Ukulele zur Hand nahm und ein fröhliches Liedchen trällerte, stimmte jeder mit ein, und sein Glas wurde von den Feierwilligen wie automatisch wieder aufgefüllt. Niemand scherte sich um seinem Namen. Und wenn jemand fragte, vergaß er ihn, sobald er dem Sänger den Rücken zu drehte. Keiner nahm Anstoß daran, dass er nicht sonderlich gut aussah, oder zwei verschiedenfarbige Augen besaß. Hätte man ihm nähere Aufmerksamkeit geschenkt, wäre der Beobachter vielleicht sogar ein wenig verwirrt darüber gewesen. Denn wer ihn sich genauer ansah, wusste nicht, ob er ins grüne, rechte Auge, oder doch lieber ins braune, linke sehen sollte. Zudem konnte man sich sowieso nicht einig darüber werden, in welches Auge man überhaupt sehen sollte. Der Barde besaß einen ausgesprochen heftigen Silberblick. Obwohl er ohne Zweifel menschlich zu sein schien, erinnerten seine Gesichtszüge ein bisschen an einen leicht verschlagenen Fuchs…
Zwar wurde er stets gesehen, wobei auch jeder meinte, ihn schon mal irgendwo gesehen zu haben. Doch spätestens am nächsten Morgen konnte sich niemand mehr genau an ihn erinnern. Das war sein Trick, weil er nur in diesem einen Moment der Trunkenheit für alle anderen existierte. Die Wahrnehmung Betrunkener kann schon mal Streichen erliegen, oder etwa nicht?
Er hingegen konnte sich sogar noch sehr gut an den Tag seiner eigenen Geburt erinnern. Es war genau die Stunde, als die erste vergorene Marula-Frucht irgendwo in Ostafrika von ihrem Baum fiel - und rein zufällig ein Australopithecus afarensis vorbeischlenderte, sie aufhob, verspeiste und anschließend das seltsamste Erlebnis seines Lebens zuteil wurde. Seltsam war es vor allem für den Urmenschen, die volle Kontrolle über seinen Körper zu verlieren und statt zu laufen, nur noch ein Taumeln zustanden zu bringen. Trotzdem war es ein berauschendes Gefühl und das grunzte er an seine Clan-Angehörigen weiter, die diesen Zustand ebenfalls einmal ausprobieren wollten - und wen wundert´s - gefallen daran fanden. Vielleicht war einst im Garten Eden die verbotene Frucht gar nicht die Frucht der Erkenntnis, sondern die Frucht des Rausches?
Ach ja, das waren noch Zeiten… Unglaublich lange her war das. Lag ungefähr 3,8 Millionen Jahre weit zurück. Seitdem besaß er viele Namen und Bezeichnungen. Früher hatte er schöne, wohlklingende Namen. Heute würde er höchstwahrscheinlich Flatrate heißen. Und seltsamerweise sind bis heute seine Anhänger nicht müde geworden, ihn um seinetwillen zu feiern. Gründe braucht man zum Feiern eigentlich recht wenig, um sich mal ordentlich einen hinter die Binde zu gießen. Denn Feiern und Trinken verbindet, es erzeugt das Gefühl, als gäbe es kein Morgen mehr. Und wenn, dann war es egal. Wogegen jeder, am leider dann doch eintretenden Morgen, an seinem Katzenjammer gänzlich allein herum laborieren musste. Aber dafür fühlte sich der Barde nicht verantwortlich. Für ihn zählten nur Wein, Weib und Gesang.
Damals, während der amerikanischen Prohibition, das waren für ihn die schwierigsten aller Zeiten gewesen. Beinahe hätte er deshalb eine Krise bekommen. Allerdings wich er lieber nach Europa und Asien aus. Lange dauerte sein Exil jedoch nicht, weil das Schwarzbrennen die Sache dann doch wieder interessant für ihn machte. Da geistige Getränke offiziell von der Regierung verboten waren, tranken selbst solche Leute den verbotenen Stoff, die ansonsten niemals welchen getrunken hätten. Das nennt man dann wohl »Reiz des Verbotenen«. Schließlich sah die amerikanische Regierung ein, dass die Mobster durch das Alkoholverbot reich wurden, die meisten vom Holzalkohol (Methanol) blind, und ansonsten der Großteil der amerikanischen Bevölkerung aus Trunkenbolden bestand. Leider musste der Geist des Rausches rein zufällig erfahren, dass man zu St. Valentin keinesfalls zu den Glückspilzen zählte, wenn einem statt Rosen, todbringende Kugeln aus einer Tommy-Gun um die Ohren flogen, wenn man sich am falschen Ort aufhielt. So erklärte die Regierung das Experiment der Enthaltsamkeit für gehörig gescheitert. Zum Glück für ihn. The Roaring Twenties waren zwar aufregende Zeiten – aber Aufregung war definitiv nichts für ihn.
Irgendwann ist auch einmal das prächtigste Fest vorüber. Am frühen Morgen fand auch diese wunderbare Studentenfeier ein Ende. Eigentlich schon, als der letzte Betrunkene hintenüber kippte, um vom Alkohol schwer angeschlagen, seinen Rausch zufrieden wie ein Baby auszuschlafen. Vorsichtig stieg er über die Schlafenden hinweg. Er wollte fort sein, ehe der Erste wieder erwachte. Für den Kater und die obligatorischen Kopfschmerzen fühlte er sich nicht zuständig. Das gehörte nicht zu seinen Aufgaben. Er war derjenige, der anderen die Sorgen vertrieb, von mehr war hier nicht die Rede.
Er trat ins helle Licht des frühen Tages. Für ihn war der Morgen wunderschön. Schließlich bekam er selbst nach der wildesten Zechtour niemals deren Nachwirkungen zu spüren.
An der frischen Luft, atmete er tief durch. Was für ein herrlicher Tag! Der Winter löste langsam seine eisigen Klauen und zog sich aus der Erde zurück, damit die Frühblüher ihre Köpfe jungfräulich schüchtern empor recken konnten. Die Meisen stimmten schon wieder ihre Hochzeitslieder an. Der Tag war klar und kühl, dennoch sonnig. Ja, so liebte er es. Frohgemut marschierte er aus dem Villenviertel und bemerkte kaum, wie die Anzahl der Häuser weiter stetig abnahm, während er nach Herzenslust wandelte. Schließlich durchschritt er ein Waldstück. Fröhlich klimperte er dabei auf seiner Ukulele herum und sang dazu:
»Trink, trink, Brüderlein trink, lass doch die Sorgen zu Haus. Trink, trink, Brüderlein trink, zieh doch die Stirn nicht so kraus. Meide den Kummer und meide den Schmerz,
dann ist das Leben ein Scherz.«
Ein Reh, ein grimmig wirkender Dachs und ein recht verschlafen dreinblickender Igel begleiteten den musikalischen Umzug ein kleines Weilchen, bis sie plötzlich von ungeahnter Panik ergriffen, zurück ins Dickicht flohen.
»Nanu? Was ist denn los? War das etwa das falsche Lied? Ich kann noch etliche andere, wie wäre es?«, fragte der Sänger verblüfft und sah sich genauer um. Ganz in der Nähe befand sich ein abgelegenes Haus mit blinden, schmutzigen Fensterscheiben. Beinahe machte es den Eindruck, wie es da so versteckt zwischen den alten Bäumen lag, als würde es arglosen Fußgänger auflauern, um sie zu erschrecken. Irgendetwas wirkte daran unheimlich, ja sogar verhängnisvoll, obwohl so eine reetgedeckte Kate mitten im Wald eigentlich nichts Ungewöhnliches bedeutet. Doch war ihm so, als höre er leises Flehen und Wehklagen. Ihn wunderte es nicht, wieso ihm unmittelbar die Haare zu Berge standen.
»Nein, das war nichts!«, sprach er zu sich selbst und winkte ab. »Das habe ich mir nur eingebildet. Und wenn schon. Es geht mich nichts an. Ich sollte meine Nase nicht in Angelegenheiten stecken, die mich nichts angehen. Das gibt nur Ärger - und ich will keinen Ärger!«, sprach er zu sich selbst und suchte trotzdem hinter einer dicken Eiche Deckung. Und während seine Ignoranz mit der Neugier rang, riss jemand urplötzlich von innen die Tür der Kate auf. Daraufhin machte sich der Beobachter noch ein wenig schmaler. Vorsichtig schielte er am Baumstamm entlang.
In der Tür erschien ein kleines blondes Mädchen, vielleicht sieben oder acht Jahre alt. Es schrie zutiefst verzweifelt: »Hilfe! Nein! Ich will zu meiner Mami!« Und so schnell wie es auftauchte, verschwand es auch wieder. Irgendjemand zog es mit einem heftigen Ruck wieder zurück ins Haus. Ein entsetztes Quieken entrang sich der verängstigten Kehle.
Dann ertönte ein Krächzen: »Das hast du dir wohl so gedacht, du kleine Kröte! Hiergeblieben! Schrei soviel du willst, hier hört dich sowieso keine Sterbensseele.«
Eindeutig war das die Stimme eines alten Weibes. Die Tür fiel mit Schmackes zurück ins Schloss.
Der Barde verharrte und beratschlagte sich offenkundig mit seiner Ukulele. »Hm, die Alte wird ihre Enkeltochter doch nicht mit dem Wort ›Kröte‹ titulieren... Oder? Und wieso sollte das Kind bei seiner Oma so verzweifelt um Hilfe rufen? Das gefällt mir nicht! Mir gefällt aber auch nicht, ein Held zu sein. Helden leben gefährlich oder müssen verdammt schnell laufen können, und darauf habe ich kein Bock! Also gehe ich jetzt weiter. Ja, genau, ich gehe einfach weg von hier, ganz so, als wäre rein gar nichts passiert!«, beschloss er. Doch jeder Schritt schien ihn zu peinigen. Er blieb stehen: »Also gut. Dann eben doch die Superheldennummer. Kann ja nicht schaden, mal nach dem Rechten zu sehen, was es mit diesem Geschrei auf sich hat.«
Vorsichtig pirschte er ans Haus heran, machte dann und wann einen Hechtsprung ins Gebüsch, wo er mit einem Purzelbaum auf der anderen Seite - mit viel Laub im Haar - wieder herausrollte. Währenddessen kam er sich ziemlich albern vor. Dennoch hielt er seine Handlungsweise für rechtmäßig - schließlich machten es die Helden in den Filmen ganz genauso. Wogegen rein zufällig vorbeikommende Spaziergänger ihn höchstwahrscheinlich für eine schlecht gemachte Mister-Bean-Imitation halten könnten. Zum Glück waren keine in Sichtweite, sonst wäre seine ganze Aktion umsonst gewesen, wenn er mit einem neugierigen Publikum Aufmerksamkeit erregt hätte. Endlich beim Fenster der Kate angekommen, brauchte er sich um eine gute Tarnung keine Sorgen mehr zu machen. Durch sein wildes Herumkugeln sah er mittlerweile wie eine Topfpflanze auf Beinen aus. Aus seinem sich auftürmenden Rasta-Wust ragten etliche Zweige und welkes Laub der letzten Saison. Vorsichtig schielte er durch die Fensterscheibe, sah jedoch nichts, was ihn letztendlich dazu bewog, einen kleinen Sichtkreis in die verdreckte Scheibe hinein zu wischen. Was er dann erblickte, verschlug ihm glatt den Atem.
Die Alte, die übrigens auch nicht viel besser auf dem Kopf aussah als er selbst - ihr Kopfbewuchs ähnelte einem verfilzten Flokati -, hatte das kleine, blonde Mädchen wie einen Hund in einen Zwinger gesperrt.
Neugierig spitzte er die Ohren, denn die alte Schachtel redete unablässig auf das kleine Mädchen ein. »Ja, du wirst dich noch ein wenig gedulden, und mir noch weiterhin Gesellschaft leisten müssen. So lange, bis ich von dir habe, was ich will. Danach kann deine Mutter dich wiederhaben!« Allerdings erwähnte sie nicht, in welchem Zustand. Dem Barden schwante Böses.
»Aber ehe es soweit ist, muss ich noch eine kleine Besorgung erledigen. Ein bisschen Liebstöckel besorgen. Bin gleich wieder da, mein kleines Vöglein! Und iss deine Suppe, hörst du?«, säuselte sie mit falscher Fürsorge. Dann wandte sie sich an einen Raben. Ein ausgesprochen hässliche Exemplar. Er wirkte, als befände er sich gerade in der Mauser, oder sei mit knapper Not einer gefräßigen Katze entkommen. »Edgar, pass gut auf die Kleine auf, ja? Du leihst mir in der Zwischenzeit deine Augen und Ohren. Deine liebe Mama kommt gleich wieder«, tätschelte sie dem Raben das struppige Kopfgefieder. Benannter Edgar ging bei jedem Tätschler in die Knie, als bekäme er jedes Mal einen Schlag auf den Kopf verpasst.
»Nimmermehr!«, krähte der Rabe, was der Alten ein wahrhaft schauriges Gegacker entlockte.
»Ja, ja… Etwas anderes kannst du sowieso nicht sagen! Bin gleich wieder da!«, sprach sie jetzt gutgelaunt.
Als sie mit krummen Rücken zur Tür humpelte, war der Barde längst weg vom Fenster. In Windeseile huschte er um die Hausecke, umrundete von hinten die Kate und kam neben der Haustür wieder zum Vorschein. Sein unsteter Blick folgte der Alten, die mit sich im Selbstgespräch vertieft, in Richtung Stadt humpelte. Wahrscheinlich wohnte sie noch nicht mal in der Kate, sondern nahm das abgelegene Haus dafür, ihren dunklen Machenschaften nachzugehen. Womöglich folgte sie einer bösen Logik, dass man nie da morden sollte, wo man wohnt...
Lautlos schlüpfte er aus seiner Jacke. Nicht etwa, weil ihm heiß wäre. Nein, damit hatte er etwas ganz Spezielles vor. Vorsichtig schielte er ins Türschloss. Zum Glück kein komplizierter Schließmechanismus. In der Innentasche seiner Jacke befand sich ein Dietrich. Diesen nahm er zur Hand und öffnete beinahe lautlos das Schloss. Eigentlich hätte er als körperloser Geist durch die geschlossene Tür gehen können, um dahinter wieder zu materialisieren. Nur musste er das Mädchen ebenfalls durch diese Tür nach draußen und in Sicherheit bringen. Nachdem er eine Weile sein Ohr gegen die Tür presste und keine verdächtigen Geräusche wahrnahm, entmaterialisierte er und steckte seinen Kopf durch die Tür. Der Rabe saß auf dem Käfig des Mädchens und funkelte es mit hungrigem Blick hochkonzentriert an.
Es müsste anders herum sein!, dachte der Barde. Der Vogel gehört in den Käfig und das Mädchen in Freiheit. Äh, natürlich ohne das hungrige Funkeln!, korrigierte er sich daraufhin im Gedanken. Dann zog er den Kopf wieder zurück und rematerialiserte seine Gestalt.
Bevor er allerdings zur Tat schritt, sammelte er sich noch ein wenig, schloss für einen Moment die Augen, straffte die Gestalt und ging in Startposition. Es kam vor allem darauf an, dass es schnell und möglichst lautlos vonstatten ging. Das dämmrige Zwielicht machte es ihm dabei wesentlich leichter. Vögel sehen nicht allzu gut in der Dämmerung. Zum Glück hielt die alte Vettel nicht allzu viel vom Fensterputzen.
Na dann mal los!, feuerte er sich gedanklich an, öffnete die Augen, dematerialisierte wieder und stürzte im Affenzahn durch die noch immer geschlossene Tür. Falls der Rabe etwas mitbekam, so war es nur der Schemen einer Jacke, die durch die Luft schwebte und sich auf ihn stürzte. Dunkelheit umhüllte das Federvieh, welches überrascht »Nimmermehr!«, krächzte und danach verstummte. Wer kennt das nicht? Selbst der lauteste Vogel wird ruhig, wenn man ihn mit einer Decke umhüllt.
Kurze Zeit darauf ertönte unter der Jacke ein leises Schnarchen.
Er sah in den Käfig. Das Mädchen schien zu schlafen. »He da! Mach mir nicht schlapp! Ich bin gekommen, um dich zu retten.« Keine Reaktion. »Hallo? Kleines Mädchen? Wie ist dein Name?«
Die Kleine bekam mit Mühe die Augen auf und blinzelte ihn müde an. »Ich will nach Hause!«, stammelte sie verschlafen und rieb sich die Augen. »Mein Name ist Lena«, sprach´s und nickte auf der Stelle wieder ein. Der Suppenschüssel entströmte ein leicht chemischer Geruch. Wahrscheinlich gehörte es zum Plan der Alten, die Kleine mit Medikamenten ruhigzustellen.
»Verdammt! Nun lasse ich mich schon mal zu einer Heldentat hinreißen und dann so was!«, rüttelte er am Käfig. Ein dickes Vorhängeschloss hinderte ihn daran, dem Mädchen die Freiheit zu schenken. »Verflixt noch eins... Okay, ehe ich zur Tat schreite, muss ich erst mal das Terrain sondieren«, redete er sich weiterhin Mut zu. Das Mädchen würde ihm nicht weglaufen. Sie konnte nirgendwo hinlaufen, jedenfalls nicht ohne ihn. Um nicht womöglich durch einen weiteren Mittäter in flagranti ertappt zu werden, schlich er zur Tür des Nebenzimmers. Behutsam und nahezu lautlos drückte er die Klinke herunter. Das Glück war ihm hold. Der Raum war nicht verschlossen. Zögerlich öffnete er die Tür. Schon bevor er ins Zimmer schielte, befiel ihn ein ungutes Gefühl. Dieser Geruch… Und dann dieses seltsame Summen! Die Finsternis, die in diesem Raum vorherrschte, war wesentlich dichter als die, des vorherigen Zimmers. Er blieb unter den Türsturz stehen, bis sich seine Augen an die Düsternis gewöhnten. Die Fensterscheiben dieses Raumes waren von innen mit schwarzem Tonpapier beklebt, welches das Tageslicht und neugierige Blicke aussperrte. Natürlich wäre es einfacher für ihn gewesen, das Licht einzuschalten. Vorausgesetzt, es gab hier überhaupt Elektrizität. Jedoch hinderte ihn seine innere Stimme daran, den Lichtschalter zu berühren. In diesem widerlichen Haus wollte er so wenig wie möglich anfassen. Im Raum befand sich keine lebende, menschliche Gestalt, so viel war schon mal sicher. Schließlich stand er mit dem Rücken zum Gegenlicht. Wäre ein Komplize im Zimmer gewesen, hätte er sich sofort auf ihn gestürzt.
Endlich konnte er erkennen, was sich in diesem Zimmer befand. Vom Kopf abwärts, ergriff ihn die blanke Panik. Seine Füße sprangen automatisch mit ihm in den vorherigen Raum zurück. Schnell schloss er von außen, wie vom Teufel verfolgt, diese verhängnisvolle Tür und würgte anschließend ausgiebig.
»Oh mein Gott!«, stammelte er einer Ohnmacht nahe. Alles in ihm schrie danach, einen ordentlichen Schluck aus der Pulle zu nehmen, um dieses schreckliche Zimmer mit seinem unaussprechlichen Grauen aus seiner Erinnerung zu löschen. Leider musste er nüchtern bleiben. Nimm dich zusammen! Lauf jetzt nicht weg, sondern tue einmal das Richtige! Rette das Mädchen – und zwar schnell!, rief er sich in Gedanken zur Ordnung. Jetzt kam es darauf an, hier so schnell wie möglich zu verschwinden, und zwar mit der Entführten, der kleinen Lena, wenn er nicht wollte, dass ihr das zustieß, was ihr aus dem Raum nebenan dräute. Hurtig trat er an Lenas Zwinger. Die Gitterstäbe lagen glücklicherweise so weit auseinander, dass er mit Daumen und Zeigefinger hindurch langen konnte. Er entwendete Lena eine Haarklemme - eine hübsche mit Blume -, bog daran herum und fummelte konzentriert damit im Schließmechanismus des Vorhängeschlosses herum. Endlich klickte es und der Bügel sprang nach oben. Er ließ sich frei bewegen. Der Barde zog das Schloss aus den Ösen des Käfigs und öffnete das Gefängnis. Verächtlich wollte er das Schloss zu Boden fallen lassen, stattdessen kam ihm in den Sinn, es nochmals in Gebrauch zu nehmen. Aber das erst ein wenig später.
Mit Vorsicht berührte er die Schulter des Kindes: »Hör zu, Lena. Ich bringe dich jetzt weg von hier, in Sicherheit. Es wäre wirklich schön, wenn du nicht um dich schlägst und mir dabei die Nase zu Brei haust!«, hob er die Kleine aus dem Käfig. »Verdammt! Wie viel wiegst du? Nicht zu fassen. Wie ist das möglich, dass kleine, dürre Mädchen eine halbe Tonne wiegen?«, beschwerte er sich.
Sachtemang setzte er Lena auf einem Stuhl ab, bemüht, dass sie nicht davon herunterglitt. Als er sicher war, dass das nicht passierte, schnappte er den Raben, beförderte das garstige Vieh in den Käfig und sicherte die Tür mit dem Vorhängeschloss.
Schleunigst zog er wieder seine Jacke an. Von Eile getrieben, hob er Lena hoch und legte sie über seine Schulter. So schnell es ihm seine Beine ermöglichten, rannte er den Waldweg entlang, immer in Richtung Landstraße. Nichts wäre schlimmer, als ausgerechnet der alten Hexe zu begegnen. Tief besorgt über den Zustand der kleinen Lena, versuchte er ein Gespräch mit ihr zu führen. »Lena, nicht wieder einschlafen!«, mahnte er. »Du musst mir ein paar Fragen beantworten. Wie hat dich die alte Hexe überhaupt in die Finger bekommen?«
»Sie holte mich von der Schule ab. Sie erzählte, meine Mama habe einen schrecklichen Unfall gehabt. Sie sagte, sie wäre eine Bekannte meiner Oma. Die Hexe wollte mich zu meiner Mama bringen. Hat sie aber nicht gemacht...«
»Wie hat sie sich vorgestellt? Erwähnte sie einen Namen?«
»Sie sagte, sie heißt Roxana«, murmelte Lena.
»Hat dir deine Mama eigentlich nicht beigebracht, dass man nicht mit fremden Leuten geht?«
»Du bist doch auch ein Fremder!«, nuschelte das Mädchen.
»Ja, schon… Aber ich rette dich doch - und will dir nichts Böses! Das ist etwas ganz anderes!«, gab er zurück und ärgerte sich über das Misstrauen an falscher Stelle.
Endlich erreichten sie die Landstraße. Dort hielt er nach Autos Ausschau. Ein dunkler Wagen brauste heran.
»Anhalten!«, rief der Barde. Leider fuhr der schwarze Sportwagen viel zu schnell an ihm vorbei. »Idiot! Beim Autofahren mit dem Handy zu telefonieren, das ist strafbar!«, keifte er dem rücksichtslosen Rowdy hinterher und fluchte wie ein Kutscher.
Endlich kam ein weiterer Wagen. Wagemutig stellte er sich ihm mitten auf der Landstraße entgegen. Die Fahrerin des Kleinwagens riss panisch die Augen auf und bremste. Knapp vor seinen Kniescheiben brachte sie das Gefährt zum Stehen.
Schleunigst bewegte er sich um das Auto herum und öffnete die Beifahrertür. »Hallo, junge Frau. Wir haben einen Notfall! Dieses Kind wurde entführt. Ich konnte es seinen Entführern entreißen. Das Mädchen ist kaum bei sich. Sein Name ist Lena. Schnell! Bringen Sie das Kind sofort in ein Krankenhaus!«, bat er dringlich.
»Warten Sie, wir legen die Kleine auf den Rücksitz!«, antwortete die junge Frau. Ohne lange zu fackeln, stieg sie aus dem Wagen und machte sich leicht umständlich am Beifahrersitz zu schaffen. Endlich bekam sie das störrische Ding in den Griff und klappte den Sitz nach vorn. Womöglich bereute sie es in diesem Augenblick, beim Wagenkauf keinen Viertürer genommen zu haben. Sachte betteten sie Lena auf den Rücksitz. Sogar eine Decke holte die Frau, die offenbar nicht einmal zwanzig Jahre zu sein schien, aus dem Kofferraum. Sie deckte das Mädchen damit zu und nahm von der Hutablage einen Plüschteddy, der das matte Kind ein wenig trösten sollte.
»Steigen Sie ein!«, drängte die junge Frau.
»Nein, fahren Sie allein! Ich habe etwas noch viel Dringlicheres zu erledigen!«, sprach er fest entschlossen. »Los, los! Fahren Sie schon endlich los! Ich weiß nicht, was der Kleinen verabreicht wurde! Jede Minute ist eine zu viel, die wir hier vergeuden!«
Die junge Frau sprang wieder in den Wagen, startete den Motor und fuhr davon wie der Teufel. Erleichtert atmete er aus und straffte die Gestalt.
»So, und jetzt mache ich diesem heillosen Horror ein Ende!«, sprach er zu sich selbst und lief schnellen Schrittes zurück zur Kate. Dort angekommen, holte er einen kleinen Flachmann mit Achat-Intarsien aus der Jackeninnentasche. Mit einem »Plopp« öffnete er ihn und verteilte den Inhalt über Möbel und Fußboden. Das Gleiche tat er im Raum mit den vielen Fliegen. Das Seltsame an dieser Sache war allerdings, dass der beschriebene Flachmann nie leer zu werden schien. Tja, der eine besaß die Fähigkeit Brot und Fisch zu vermehren, dem anderen hingegen, mangelte es eben niemals an hochgeistigen Getränken. Schnell trank er selbst noch einen Mundvoll vom Gesöff, ehe er das Streichholz entzündete. Einen Moment wartete er noch, bis die immer größer werdenden Flamme es zu verschlingen drohte. Kurz bevor die Flamme in seine Finger biss, ließ er das Zündholz zu Boden fallen.
Im Nu fraßen sich die Flammen durch das Haus. Die Hitze wurde unerträglich und drohte ihm die Augenbrauen und Haare zu entflammen. Selbst das Reet auf dem Dach fiel den gierig fressenden Flammen zum Opfer.
Panisch krächzte der Rabe in seinem Käfig: »Nimmermehr!« Jedoch beschloss der Barde, dass dieses Tier durch und durch böse war. Es ist sogar wissenschaftlich bewiesen, dass Raben äußerst intelligente Lebewesen sind. Seiner Meinung nach, hätte sich der Rabe für das Gute entscheiden können, statt mit der Hexe gemeinsame Sache zu machen.
Fasziniert von den Flammen und ihrem zerstörerischen Werk, schritt er rückwärts in Richtung der Ausgangstür. Sehr zu seinem Entsetzen wurde seinem Rückzug ein abruptes Ende gesetzt. Ungewollt touchierte er etwas mit seinem Hintern und fühlte damit einen Widerstand. Sein Nackenhaar stand zu Berge. Unsicher warf er einen Blick über die Schulter. Dabei entwich ihm ein: »Oh, oh!«
Im Türsturz stand niemand anderes als die Hexe. Sie war zurückgekehrt...
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