Читать книгу Der Aushilfsvindicator - Elke Bulenda - Страница 7

Das Unglück ist meistens Strafe für Torheit – Und für die Teilnehmer ist keine Krankheit ansteckender.

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(Baltasar Gracián y Morales)

Selbstredend hätte ich die Strecke in gut zehn Minuten bewältigen können. Dennoch ist es besser, schon vorher den Ort des konspirativen Treffens ausgiebig auszuspähen.

Und wieder folgte mir unterwegs diese dunkle Limousine.

Um mir einen Überblick zu verschaffen, wer mir da so hartnäckig an den Fersen klebte, klinkte ich mich in den Server von Salomons Ring, und gab das Kennzeichen des Lincoln durch. Der Halter stellte sich als ein gewisser Pater Lawrence Goodweather heraus, ein katholischer Priester der St. Michael Gemeinde in Louisville.

Shit! Wollte mich etwa wieder jemand zum Christenglauben bekehren? Zuletzt unternahm vor ungefähr sechshundert Jahren ein Einfaltspinsel diesen aussichtslosen Versuch der Nötigung. Mit fatalen Folgen für ihn, wohlgemerkt.

Um meinen Verfolger zu stellen, wandte ich meinen alten Trick mit dem abgewürgten Motor an der nächsten Ampel an, so dass der Pater hinter mir ebenfalls zum Verharren genötigt wurde. Hurtig stieg ich aus. »Hey, Mann! Was ist dein Problem? Warum verfolgst du mich?!«, fauchte ich barsch.

Der Geistliche wollte kein offenes Gespräch. Er überholte schleunigst von rechts, gab Gas und ward nicht mehr gesehen.

...Wie dumm von mir, ständig zu vergessen, dass ich die Telekinese beherrsche. Diese fortwährende Anpasserei an das menschliche Verhalten, und das Verheimlichen meiner Andersartigkeit, endet immer häufiger im totalen Versagen. Wenn das so weitergeht, würde ich in Betracht ziehen, mich ebenfalls den wilden Safe-Knackern anzuschließen, nur, um mal wieder ein richtiger Vampir zu sein!...

»Verdammte Scheiße!«, fluchte ich laut über die West River Road. Erfreulicherweise befanden sich zu dieser späten Stunde nicht mehr allzu viele Passanten auf der Straße. Das KFC Yum! Center hatte bereits seine Pforten geschlossen.

In der Nähe des Piers stellte ich meinen Wagen ab und sondierte das Gebiet. Wenig später begab ich mich gut sichtbar zum Louisville Riverwalk, um mich der pompösen Dame mit dem ausladenden Hinterteil zu nähern. Warum sie diesen hässlichen, völlig verschnuckelten Raddampfer Belle of Louisville genannt haben, bleibt mir ein Rätsel. Schön ist für mich etwas völlig anderes. Für mich muss ein Schiff rank und schlank, und vor allem schnell sein. Meine damaligen Mitstreiter, die trinkfesten Wikinger, hätten sich beim Anblick dieses grauenvollen Pottes vor Lachen auf die Schenkel geklopft - und es anschließend ausgeraubt.

Gemütlich schlenderte ich am träge dahinfließenden Ohio River entlang, auf dem sich die Lichter der Nacht spiegelten, geradewegs auf das beliebte Meeresfrüchte-Restaurant Joe´s Crab Shack zu.

Der leicht angegraute Mitvierziger namens Richard Parks erwartete mich bereits. Mit einer halblangen Lederjacke bekleidet, trat er nervös von einem Bein aufs andere. Er fror, was um diese Jahreszeit durchaus nichts Ungewöhnliches ist.

Eher wie nebensächlich gesellte ich mich zu ihm und betrachtete den Raddampfer, dessen Aufbauten mit den weißen Schnörkeln ein wenig an Zuckerguss erinnerten. »N´Abend.«

»Zigarette?«, bot er mir eine an. »Wollte mir den Scheiß eigentlich längst abgewöhnen. Tja, sieht man ja, was daraus geworden ist.«

»Nein, danke. Mir macht es jedoch nichts aus, wenn du deinen Krebs füttern willst. Übrigens, sag Ragnor zu mir.«

Kurzzeitig erhellte der zitternde Lichtschein des Feuerzeugs seine Gesichtszüge. Parks sah abgespannt und besorgt aus, inhalierte gierig den Tabakrauch. »In Ordnung, Ragnor. Kannst mich Dick nennen.«

Unauffällig sah ich mich um. »Okay, Dick. Wir sind sicherlich nicht hier, um Louisvilles nächtliche Sehenswürdigkeit zu würdigen. Wenn du mir etwas mitteilen möchtest, bin ich ganz Ohr.«

Parks nickte: »Möglicherweise habe ich eine große Dummheit begangen. Nicht nur meiner Frau gegenüber, sondern ebenfalls meinem Arbeitgeber. Du musst mir versprechen, mich anonym zu lassen. Ich weiß, dass du ein neutraler Beobachter bist. Allerdings ist das auch schon alles, was ich über dich weiß. Da du jedoch nicht der amerikanischen Administration angehörst, vertraue ich dir weitaus mehr als dem FBI, Homeland Security, oder CIA. Da ich es nicht absichtlich tat, sehe ich nicht ein, dafür im Knast zu landen, und alles was ich mir aufgebaut habe, zu verlieren. Das, was den Soldaten zustieß, tut mir unendlich leid«, sprach er mit zittriger Stimme.

Dass er unter Verlustängsten litt, konnte ich ihm nicht verdenken. Als Harvard-Absolvent schlug er schon recht früh erfolgreich die höhere Beamtenlaufbahn ein, heiratete in eine wohlhabende, seit langem hier ansässige Familie ein, und war stolzer Vater von zwei vielversprechenden Söhnen, die offenbar die gleiche Karriere anpeilten.

»Mir geht es lediglich um die Fakten, Dick. Ich will dir helfen, das Gold wiederzufinden und die Täter dingfest zu machen. Du hast mein Wort, dich in meinem Bericht namentlich nicht zu erwähnen, sondern als einen vertraulichen Informanten anonym zu lassen. Alles andere ist mir egal. Mir steht nicht zu, über dich oder andere, ein Urteil zu fällen. Wenn es darum geht, habe ich selbst schon eine Menge auf dem Kerbholz, Mann, das kann ich dir verraten. Nun, denn? Wie wäre es mit einer Beichte? Ich kann gut zuhören«, meinte ich daraufhin und zückte Notizblock und Kugelschreiber.

… Natürlich hätte ich ihm tief in die Augen blicken, in sein Unterbewusstsein eindringen und damit zum Reden bringen können. Nur warum? Er rief mich an, um mir etwas Wichtiges mitzuteilen. Deshalb zeigte ich mich geduldig, bis er selbst bereit dazu war, seine Schandtaten zu beichten…

»Willy, Joe, Stan und ich, wir treffen uns manchmal zum Pokern. Nun, wir haben uns im Viertel Phoenix Hill ein gemeinsames Apartment unter falschem Namen gemietet, wo wir unseren eigenen Interessen nachgehen können, wenn du verstehst, was ich meine? Der Vermieter ist diskret, die Mietzahlungen gehen bar über den Tisch.«

»Verstehe, mit diesem Gedanken spielte ich selbst bereits. Meine Schwiegermutter wohnt bei uns im Haus.«

»Ernsthaft? Mein Beileid. Dann kann ich deine Erwägungen durchaus gut verstehen«, tröstete er mich. »Zur Sache... Am letzten Mittwoch, tauchten an unserem Poker-Abend diese vier Mädchen auf… Äh, nein, keine Mädchen im eigentlichen Sinne, eher so etwas in Richtung Damen mit Niveau. Sie besaßen wirklich Klasse. Tja, was soll ich sagen? Plötzlich ging die Party richtig los. Seltsamerweise dachte jeder von uns, der andere hätte sie von einem Escort-Service gebucht. Am nächsten Morgen wachten wir völlig platt auf, hatten einen totalen Filmriss. Wir vermuten sogar, die Girls hatten uns K.O-Tropfen in die Getränke gemischt. Zum Glück wurden wir nicht bestohlen. Von den Damen fehlte jegliche Spur. Nach diesem bösen Erwachen kam ans Licht, dass niemand unserer Runde diese Hu… ähäm… Damen bestellt hatte. Was meinst du? Könnten diese Ladies fragwürdiger Herkunft etwas mit der Kenntnis über den Sicherheitscode zu tun haben? Herrgott, wir waren völlig weggetreten und könnten alles Mögliche getan und gesagt haben, ohne dass wir daran die geringste Erinnerung haben! Verstehst du jetzt, in welcher Zwickmühle wir uns befinden?«, fragte Parks völlig von der Rolle.

Eins war mir vollkommen klar: In seiner, oder in der Haut der anderen, wollte ich garantiert nicht stecken. Ehe die feinen Herren ihre Orgie feierten, hätten sie sich über die Herkunft der Gespielinnen Gewissheit verschaffen sollen. Früher oder später würde die Administrative das diskrete Liebesnest der hohen Herren ausheben – und dann: Prost Mahlzeit!

»Dass sie euch die Zahlencodes auf diesem Wege entlocken konnten, liegt durchaus im Bereich des Möglichen. Kannst du mir die Damen etwas genauer beschreiben? Irgendwelche äußerlichen Auffälligkeiten?«

Parks überlegte: »Keine Ahnung. Da war eine Blondine, eine Rothaarige, eine Brünette und eine Schwarzhaarige. Sie waren unglaublich schön, beinahe wie griechische Göttinnen. Deshalb konnten wir unser Glück gar nicht fassen.«

»Ernsthaft? Das ist alles? Überleg mal genauer.«

»Wie gesagt, die Erinnerungen an sie sind wie weggewischt. Aber an eines erinnere ich mich genau, denn davon bekomme ich noch immer eine Gänsehaut: Sie waren sehr kühl. Ich rede jetzt nicht vom Frigide sein, sondern sie waren ungewöhnlich kalt. Das haben auch die anderen Jungs bestätigt. An mehr kann ich mich wirklich nicht erinnern.«

»Immerhin wissen wir, dass es vier Damen waren. Gibt es in der Lobby eine Kamera, oder einen Portier? Und hat der eventuell etwas gesehen? Waren die verdächtigen Damen mit einem Wagen da? Oder sind sie per pedes unterwegs gewesen?«

Dick wirkte ernsthaft beunruhigt. »Das Seltsame an dieser Geschichte ist, dass der Portier sie nicht eingelassen hat. Wir können Rob trauen, vor allem, was die Diskretion betrifft. Er hat gelernt, in den richtigen Momenten nicht so genau hinzusehen. Rob berichtete, keine der Damen sei weder auf dem Hin-, noch auf dem Rückweg an ihm vorbeigekommen. Und an Rob geht kein Weg vorbei, um zum Lift, oder ins Treppenhaus zu gelangen«, behauptete er. »Wie kamen sie also ins Gebäude? Sie können unmöglich in den zwölften Stock geflogen sein!«

»Vielleicht waren sie Mitglieder im Alpinen Club, keine Ahnung, Mann. Wie ist das Gebäude beschaffen? Hat es eine Tiefgarage? Gibt es irgendwelche Arkaden, oder Laubengänge?«

»Nein, keine Tiefgarage. An der Frontseite besitzt das Gebäude Arkaden, durch die der Gang zu unserem Apartment führt. Jedoch ist der Gedanke so abwegig, dass ich ihn mir lieber nicht bildlich vorstellen möchte. Obwohl… Wir sehen ja, wozu Halunken und Erpresser fähig sind«, bestätigte Dick.

»Okay...«, durchblätterte ich meine Notizen. »Hm, da fällt mir etwas auf. Vier… ihr wart zu viert. Du sagtest: Willy, Joe, Stan und du. Nichtsdestotrotz, zum Öffnen der Stahltür werden fünf Personen benötigt. Was ist mit dem Fünften?«

»Oh, Joseph Hopkins? Ihm geht es seit geraumer Zeit nicht so prächtig. Eigentlich ist er noch immer nicht im Dienst. Er scheint an einer äußerst seltenen Form von Blutkrankheit zu leiden«, erklärte Richard Parks.

Das machte mich hellhörig: »Was für eine Blutkrankheit? Ist es etwa Leukämie?«, hakte ich nach.

»Puh… Da fragst du mich etwas… Zuerst verstarb seine Frau Johanna. Danach ging es mit seiner Gesundheit bergab. Wir schätzen, dass er einfach nicht mehr ohne sie weiterleben will. Zuletzt erzählte mir Stanley, der alte Joe leide an einer heftigen Blutarmut. Die Ärzte konnten bisher nicht feststellen, wohin sein Blut entweicht. Inzwischen geben sie ihm mit schöner Regelmäßigkeit Infusionen. Doch auf Dauer scheint das keine Lösung zu sein. Er verfällt zusehends. Zudem erzählte er mir heute, ihn würden ständige Albträume quälen. Armer Kerl.«

»Das klingt wirklich haarsträubend. Vielleicht sollte ich Joe einen kleinen Besuch abstatten, was meinst du? Wärst du so nett und würdest mir seine Adresse geben?«, fragte ich Dick.

Bereitwillig nahm er Schreibblock samt Kugelschreiber und notierte für mich Joes Adresse.

Ich nahm den Block an mich und las: »Aha, frag mich nicht, wo das ist. Zum Glück gibt es heutzutage Navigationssysteme. Wenn man fremd in der Stadt ist, wirken sie wahre Wunder. So, wenn dir nichts Wichtiges mehr einfällt, würde ich vorschlagen, wir beenden nun unser konspiratives Treffen. Soll ich dich zu deinem Wagen bringen?«, fragte ich mein Gegenüber.

»Nein, mach dir keine Mühe, er steht dort vorn«, zeigte er auf seinen schwarzen Mercedes-Benz GLS. »Ich werde jetzt noch eine Zigarette rauchen und aufs Wasser starren. Meine Frau mag es nicht, wenn ich im Wagen rauche. Und zuhause erst recht nicht. Da baut man den Weibern ein wahres Traumhaus, und zum Dank, muss man zum Rauchen vor die Tür gehen. Wie gesagt, ich sollte damit ein für alle Male aufhören. Tja, man sieht sich. Und danke«, nickte er mir zu und zündete sich wieder einen dieser widerlichen Glimmstängel an.

In Gedanken versunken, machte ich mich wieder auf den Rückweg. Hätte ich vorher gewusst, dass man direkt am Wasser parken kann, säße ich längst wieder im Wagen.

Unterwegs passierte mich ein Jogger… »Wenn du zurückgehst, kannst du ihn eventuell noch retten!«, sagte er hämisch, drehte sich kurz zu mir, grinste und entblößte seine Eckzähne.

Sofort versuchte ich, mir diesen Burschen zu greifen, doch ehe ich ihn erreichte, teleportierte er sich einfach davon.

»Verdammte Scheiße!«, fluchte ich gereizt.

Abrupt drehte ich mich wieder um und huschte in Vampir-Geschwindigkeit zurück zum Pier…

»Dick! Nicht den Motor starten!«, riss ich hastig die Wagentür auf, und griff ins Auto, um ihn herauszuziehen. Leider war er längst angeschnallt. Der Gurt verhinderte einen raschen Ausstieg. Das alles passierte innerhalb von Millisekunden. Er wusste nicht wie ihm geschah und sah mich entsetzt an, als bereits der Motor startete und ein eher untypisches Klicken ertönte...

Es bedeutete nichts anderes als:...Tick, tack...Tod...

Die Explosion erwischte mich hart wie ein Vorschlaghammer. Gleich einen Schild, hielt ich die abgerissene Wagentür des Geländewagens in meiner Hand. Körperteile und Feuer umhüllten mich… Zuletzt dachte ich: Jetzt hat Dick das Rauchen doch noch ein für alle Male aufgegeben… Hey… Das ist aber eine verdammt große Hand, sieht aus wie meine!… Sie flog einfach an mir vorüber…

Sekunden später fühlte ich höllische, nie gekannte Schmerzen. Danach nahm eine gnädige, alles umhüllende Schwärze stattdessen deren Platz ein…

*

»Ach du heilige Scheiße!«, entfuhr es dem Erzengel Barbiel, als er den Feuerschein und die ölig schwarze Wolke erblickte, die wie ein kleiner Atompilz über dem Ort des Geschehens aufstieg. Der dazugehörige Knall folgte kurz darauf, da der Schall langsamer als das Licht, seinen Weg zu Barbiel fand. Seit einer geraumen Weile hatte der Engel bereits Ragnor von weiter oben, am Himmel kreisend, observiert. Schleunigst griff er zu seinem Smartphone.

»Hier spricht Barbiel Marx... Natürlich sind das Windgeräusche, was denn sonst? Immerhin fliege ich gerade! Leute, wir haben ein Problem. Einer unserer Männer, Ragnor McClane wurde soeben von einer Autobombe zerrissen! Ja, genau am Kai, unweit der Belle of Louisville. Richtig, und zwar pronto! Seid zuerst dort und gebt euch als Leute von der CIA zu erkennen, ansonsten könnte es problematisch werden! Ja, ein Spürhund wäre fein, damit wir grob die Einzelteile aussortieren können. Zwar glaube ich nicht, dass allzu viel von ihm übriggeblieben ist... Trotzdem, bereitet schon mal alles vor. Das wird ein wahrlich vertracktes Puzzle ergeben!«

*

In der alten, leicht verfallenen viktorianischen Villa bewegte sich Marcy, nachdem sie die Explosion vernahm, entsetzt und dennoch lautlos, vom Fenster fort.

Seit die Immobilienblase im Jahre 2009 platzte, und allen um die Ohren geflogen war, gab es viele leerstehende Häuser dieser Art, mit einem For Sale-Schild im Vorgarten. Und eben viele dieser verlassenen Häuser fanden keinen passenden Interessenten mehr, da sie längst im Verfall begriffen waren. Die Farbe blätterte von den meist aus Holz gefertigten ehemaligen Prachtbauten ab, während sich die Natur das zurückholte, was ihr einst vor Jahren entrissen worden war. Das ideale Versteck für Lebewesen, die ohnehin kein Licht oder Elektrizität benötigten: Ratten, Kakerlaken - und neuerdings sogar Vampire. Manchmal war es durchaus sinnvoll, im Dunklen verborgen zu bleiben.

Étienne erschien wie aus heiterem Himmel und manifestierte, zog die Kapuze seines Hoodies vom Kopf, entblößte dabei einen pechschwarzen Irokesenschnitt und grinste zufrieden. Wenn es unter Vampiren einen Irren gab, so konnte man Étienne Lasalle getrost als einen solchen bezeichnen. Schon allein der unruhige, leicht verwackelte Blick seiner mit Kajal-Stift umrandeten Augen sprach Bände. Seine Joggingschuhe flogen beim Ausziehen unachtsam in x-beliebig verschiedene Richtungen.

Verärgert registrierte die blonde Marcy, dass sie von seinem rechten Schuh schmerzhaft am linken Oberschenkel getroffen worden war. Normalerweise kein Grund, um so etwas wie einen Schmerz zu empfinden, aber Marcy war schon immer sensibler als ihre Artgenossen. Nicht etwa, was das Schmerzempfinden betraf, sondern eher ihre allgemeine Empfindsamkeit psychischer Natur. Sie betrachtete diesen feindseligen Akt als bewusst vorgenommene Demütigung von Seiten Étiennes.

»Pass doch auf, wo du deine Schuhe hinwirfst, du Rüpel!«, machte sie ihrem Unmut Luft.

»Ach, ist unsere kleine Marcy heute wieder ganz besonders empfindlich?!«, ätzte Étienne zurück und warf ebenso lässig seinen Rucksack ab.

Pookie, genauso schwarzhaarig wie Étienne, hatte die ganze Zeit nervös auf ihren Liebsten gewartet und schmiss sich nun wie eine billige Hafenhure an ihn heran. »Du sollst doch nicht immer unser kleines Sensibelchen ärgern! Du böser Junge«, schnurrte sie wie eine rollige Katze und rieb sich an seinem Oberschenkel.

»Und du sollst mir nicht ständig sagen, was ich tun und lassen soll, Weib!«, knurrte Étienne zurück, packte Pookies Gesicht und gab ihr einen leidenschaftlichen Kuss, den sie erwiderte.

Marcy sah beschämt zur Seite. Sie verstand die beiden nicht, fand ihr Verhalten äußerst destruktiv und krank: »Müsst ihr euch immerzu dermaßen ablecken? Das ist einfach nur schamlos und widerlich!«

»Krieg´ dich wieder ein, prüde Marcy… Hast du das Feuerwerk am Pier gesehen?«, fragte er nicht ohne gewisse Anzeichen von Stolz.

»War das wirklich nötig? Wir haben uns doch darauf verständigt, dass es nur Tote gibt, wenn wir uns verteidigen müssen«, erwiderte Marcy daraufhin.

»Ach, du wieder! Du, mit deiner verquasten Moral! Das war eine reine Verteidigungsstrategie. Diese Bombe hat dem Geldsack Parks ein für alle Mal das Maul gestopft. Dies soll den anderen eine Warnung sein, über Dinge zu plaudern, die andere nichts angehen! Seht es mal so: Ich habe es für euch getan. Übrigens, erledigte ich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Der Vampir, der hinter uns her schnüffelte, den hat die Explosion zerlegt. War ein extrem harter Brocken, der Kerl. Und er war alt, verdammt alt. Das sah ich an seinen Augen. Sie spiegelten die reinste Mordlust wider. Schade, dass ich keine Zeit mehr hatte, mir seinen Kopf zu holen!«, prahlte Étienne.

Die nicht so helle Pookie redete ihm mal wieder nach dem Mund. »Was für ein Anblick… Hättest du mir, wie einst der Salome, seinen Kopf auf einem Tablett gebracht?«

»Nein, denn das tat ich nicht für dich allein, du kleine Schlampe! Du weißt, wie unser Ziel aussieht. Denkt daran: Wenn wir uns an den Plan halten, werden wir das, was man uns genommen hat, wiederbekommen!«

»Wie kannst du dir da so sicher sein?«, fragte Marcy.

»Ich bin mir hundertprozentig sicher, denn er gab mir sein Wort!«, knurrte Étienne, »Und wem können wir sonst glauben, wenn nicht diesem gottgleichen Wesen, he?«

Am Treppenabsatz erschien Marcus, der genau das Gegenteil von Étienne darstellte: Einen introvertierten, unaufgeregten Denker. »Étienne? Was musste ich da vernehmen? Du hast den Vampir, der auf uns angesetzt wurde, gleich mit in die Luft gesprengt? Das war nicht vereinbart. Du bist und bleibst ein verdammter Idiot, dem es nach Rache dürstet. Und für gewöhnlich macht Rache nicht nur uneinsichtig, sondern unberechenbar«, sprach Marcus leise, denn er erhob nie die Stimme. So konnte er sich sicher sein, dass alle die Ohren spitzten, wenn er etwas zu sagen hatte, was in der Regel von Gewicht war. Zudem galt er als der Älteste im Bunde und genoss vor allem ein hohes Ansehen.

»Ja, was dagegen, du Bücher fressender Grübler? Hat sich eben so ergeben!«, gab Étienne gereizt zurück. »Ich bin mir sicher, die vom Rat werden wieder einen neuen Vindicator auf uns ansetzen. Den holen wir uns dann auch noch!«

Marcy meldete sich wieder zu Wort. »Marcus hat recht. Du bist ein Idiot. Lauter kannst du wohl niemanden auf uns aufmerksam machen. Wie wäre es mit einem Neon-Leuchtpfeil, der auf uns zeigt? Denk doch mal nach: Wenn der Vampir alt war, hat er sicherlich ebenfalls ein paar Geschöpfe, die uns jetzt den Krieg erklären! Étienne, du bist nicht nur ein simpler Idiot, sondern ein schier unberechenbarer dazu!«

»Ach, denkt doch was ihr wollt! Trotzdem braucht ihr mich und meine Fähigkeiten! Wenn wir nicht das gleiche Ziel hätten, würde ich euch dämliche Spießer nicht mal mit dem Arsch ansehen!«, fauchte Étienne zurück. Seine Eitelkeit vertrug keine Kritik, egal ob konstruktiv, oder nicht. So war er schon immer: Eitel, euphorisch und dazu schnell gereizt. Eben ein echtes Kind der Französischen Revolution. Zuerst glaubte sich jeder vom Stand befreit, doch dann, als Saturn seine eigenen Kinder verspeiste, tief enttäuscht vom neuen Establishment.

»Keine Alleingänge von deiner Seite mehr, Étienne«, sagte Marcus. »Fehde hin oder her, wir müssen jetzt aufbrechen. Die Reise geht weiter. Unser nächstes Ziel wartet bereits auf uns. Étienne, hast du den Wagen besorgt?«

»Jepp! Einen Transporter mit abgedichteten Scheiben. Er ist schlicht und unauffällig, wie vereinbart.«

»Gut, lasst uns jetzt packen. Ich sage Fiona und Berenice Bescheid. Wir treffen uns dann unten, am Wagen.«

*

Der Aushilfsvindicator

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