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Noomi

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»Jetzt also noch mal offiziell«, begann Sophia Jorek ihre Einführungsrede. »Willkommen bei Feel Nature. Und gleich vorweg: Ihr habt verdammtes Glück, dass sie euch hierhergeschickt haben. Glaubt mir, viele jugendliche Straftäter in eurer Situation würden was drum geben, bei unserem Projekt mitzumachen.«

Ja, dachte sie. Ja! Ich hab’s geschafft. Dank ihres Anwalts, der die Jugendrichterin davon überzeugt hatte, sie an diesem ungewöhnlichen Projekt teilnehmen zu lassen. Nachdem Noomi ihn überzeugt hatte, ganz unauffällig natürlich. Die Richterin hatte eingewilligt, weil sie Ersttäterin sei, weil sie eine gute Prognose habe und wegen des Vorfalls, der hinter ihr läge. Wenn die wüsste, dass ausgerechnet der Vorfall der Grund für ihre Straftat gewesen war. Und jetzt war sie tatsächlich hier. Endlich! Unter freiem Himmel, zwischen aufgeschreckten Fledermäusen, auf Baumstümpfen, im Kreis mit anderen, und auf nichts davon kam es an. Worauf es ankam, war, ihren Plan umzusetzen.

Erst mal durchatmen, beschwor sie sich. Mitmachen. Ins Gefüge einschmiegen. Alles andere würde sich finden. Lächeln. Unauffällig, unauffällig!

Insgesamt waren sie sieben, sie saßen um eine Feuerstelle. Direkt neben ihr Ryan, dann Frau Jorek und ein weiterer Junge, den sie noch nicht gesehen hatte und der für ihren Geschmack zu gut aussah. Außerdem Olympe, mit der sie nicht wirklich warm wurde. Alles an ihrer Mitbewohnerin kam Noomi widersprüchlich vor: Ihre ohrläppchenkurzen Haare wirkten wie selbst abgesäbelt und schrien überdeutlich heraus, dass ihr die Meinung anderer scheißegal war. Andererseits trug sie eine sauteure Hipsterbrille und hatte mehr Ringe an den Fingern, als in der Auslage des Juwelierladens gelegen hatten, dessen Scheibe sie eingeschlagen hatte. Sie wirkte gleichzeitig geerdet und abgehoben, arrogant und freundlich. Noomi konnte sich keinen Reim auf sie machen.

Neben Frau Jorek hockte ein Mann auf dem Stumpf, dessen gesamtes Gesicht aus Lachfalten zu bestehen schien. Eine wilde lichtbraune Mähne. Und als Letztes lümmelte ein Mädchen in ihrem Kreis, das wie eine Klischee-Schwedin aussah: so blondes Haar, dass es fast weiß schien. Außerdem wirkte sie, als würde sie jedes Wochenende hier im Elbsandsteingebirge verbringen – an einer Steilwand hängend. Braun gebrannt, drahtig, stark. Die hatte vor nichts Angst, da war sie sich sicher. Was sie wohl angestellt hatte?

Noomi, konzentrier dich, schalt sie sich. Hör zu. Oder tu zumindest so.

»… habt eure Sachen schon ausgepackt und die Papiere gelesen, die ich euch gegeben habe …«

Die Rede spülte um sie herum, ihre Gedanken schweiften zurück zum Auspackmoment, dann zu dem, als die dauerplappernde Olympe auf dem Klo verschwunden und sie selbst aus der Hütte gehuscht war. Da hatte sie den ersten Fehler in ihrem ansonsten perfekten Plan gemacht. Sie hatte nämlich ausgerechnet eine Stelle zwischen den Baumstümpfen gewählt, auf denen sie gerade saßen, um ein Loch zu graben und ihren wichtigsten Besitz darin zu versenken.

Argwöhnisch beobachtete sie Frau Joreks Füße, die diese Stelle berührten. Fast berührten.

»… werden ab zehn Uhr die Hütten nicht mehr verlassen. Wenn doch, gibt es Strafpunkte. Fünf Strafpunkte bedeuten, dass ihr aus der Maßnahme fliegt. Die Mahlzeiten bereitet ihr abwechselnd in Zweierteams vor. Es geht, wie bei allem hier, um Teamarbeit. Diese Gruppe …« Ihre ausgreifende Geste beschrieb einen Kreis um sämtliche Baumstumpfsitzer. »… wird die nächsten Wochen miteinander verbringen. Wir arbeiten zusammen, kochen und putzen zusammen und treffen uns jeden Tag um halb fünf zu einer Dialogrunde, bei gutem Wetter hier, bei schlechtem drinnen.« Sie deutete mit dem linken Daumen über ihre Schulter zur Cabin in the Woods.

Immerhin duschen und aufs Klo gehen dürfen wir offenbar alleine, dachte Noomi und starrte weiter auf Frau Joreks Füße.

»Was die Duschen angeht …« Konnte die Gedanken lesen? »Die Waschräume im Haupthaus sind nach Jungs und Mädchen getrennt. Haltet euch dran. Ja, was noch? Abends um halb neun schalten wir den Generator an, dann habt ihr in den Hütten Licht zum Lesen, Briefeschreiben und so. Um zehn geht das Licht aus und es herrscht Bettruhe. Alles klar so weit?«

Keiner von ihnen reagierte.

»Okay.« Die Sozialarbeiterin klatschte in die Hände und der allzu attraktive Junge zuckte zusammen, als wäre er mit den Gedanken ganz weit weg gewesen. Selbst mit aufgeschrecktem Blick sah er noch aus, als würden sich Joop, Adidas und Gucci bekriegen, damit er für sie modeln würde.

»Kurze Vorstellungsrunde«, befahl Frau Jorek und wies auf sich. »Mich kennt ihr schon, ich bin Sophia Jorek und ich leite das Camp. Ihr könnt mich Jorek nennen.«

»Nicht Frau Jorek?«, erkundigte sich Ryan leise. Er war eindeutig der Jüngste von ihnen und Noomi fiel auf, dass sie seine Stimme zum ersten Mal bewusst hörte.

Die Campleiterin schüttelte den Kopf. »Einfach Jorek.«

Olympe kicherte. »Sophia?«, schlug sie vor.

Jorek zog eine Braue hoch. Das reichte, um Olympe verstummen zu lassen.

»Ich bin für alles Pädagogische hier zuständig, leite die Gruppensitzungen und trage die Verantwortung für euch und das Gelingen des Projekts. Wenn ihr Fragen habt oder es irgendwelche Probleme gibt, wendet euch bitte an mich oder an meinen Kollegen …« Sie nickte zu dem Faltenmann. »… Gunnar Wildner.«

»Zu mir könnt ihr Gunnar sagen«, übernahm der Mann. »Ihr seid alle hier, um aus einem belastenden Umfeld rauszukommen. Wir helfen euch, gemeinsam stärker zu werden, den Blick zu ändern und das, was ihr getan habt, reflektieren zu lernen.«

Noomi beäugte die anderen kritisch: Was bitte schön war ein belastendes Umfeld?

Als hätte er ihren Gedanken gehört, fuhr Gunnar fort: »Manchen tut ihre Familie nicht gut oder die Schule …« Lag sein Blick absichtlich länger auf Ryan oder bildete sie sich das ein? Ryan schien es auch aufzufallen, er duckte sich unter den Worten weg. Gunnar sprach unbeirrt weiter: »… manche verlieren sich in Computerwelten …« Olympe? Ehe sie eine Reaktion ausmachen konnte, glitt Gunnars Aufmerksamkeit schon weiter zu dem schönen Jungen. »Und manche bewegen sich in schlechter Gesellschaft.« Der Junge wurde eine Nuance blasser.

Gunnar mochte väterlich rüberkommen, aber was er gerade abzog, war gemein. Er sagte zwar »manche, manche, manche«, aber er meinte »du, du, du«. Und gleich war sie selbst dran.

»Andere wiederum … « Jetzt lag sein Blick auf ihr und wie jeder, der zum ersten Mal ihre Augen sah, zuckte auch er kurz zurück. »Andere … « Er verhaspelte sich, fing sich wieder. »… hatten wohl einen Kurzschluss.«

Einen Kurzschluss? Fast wäre sie wütend geworden, stattdessen lächelte sie, wie immer, und atmete erst aus, als er weitersprach.

»Aber warum ihr hier seid, ist für mich zweitrangig. Bei mir zählt, was ihr tut, nicht, was ihr getan habt.« Er lachte bassig und ein bisschen zu laut. »Ich bin für alles zuständig, was mit der Projektarbeit verbunden ist. Mit mir werdet ihr die zwei letzten Blockhäuser wieder herrichten.« Er deutete auf die zwei Ruinen, in denen die Natur es sich gemütlich gemacht hatte. »In sechs Wochen, wenn ihr als gestärkte Menschen das Camp verlasst, sollen die so aussehen, wie die, in denen ihr jetzt wohnt.«

Haha. Gunnar schien ein ausgemachter Optimist zu sein. Hatte er sich ihre Gruppe mal angeschaut? Ein Schönling, ein Schweiger, ein wandelnder Schmuckladen und … na ja, sie selbst.

»Ich weiß! Sieht nach viel Arbeit aus, ist es auch, aber die Gruppe vom letzten Sommer hat sogar drei Hütten restauriert. Und das, obwohl die Umstände viel weniger komfortabel waren als heute.«

Komfortabel? Kompostklos, kein Strom und Gruppenduschen. Nicht dass es eine Rolle spielen würde. Anders als die anderen musste sie nicht stärker werden oder ihren Blick ändern. Ihr Blick war bereits klar.

»Letztes Jahr hat die Gruppe im Haupthaus schlafen müssen.« Er lächelte und alle Falten in seinem Gesicht lächelten mit. »Geschafft haben sie es trotzdem. Es ist machbar und wir werden dabei Spaß haben, versprochen. Außerdem habt ihr einen Joker! Lara hilft nämlich mit. Und Lara ist eine Maschine.«

»Vati!« Das schwedenblonde Klettermädchen verdrehte die Augen.

Vati? Sie war keine von ihnen?

»Voll der Familienbetrieb!«, frotzelte der Modeljunge.

»Leider nicht«, antwortete Gunnar. »Lara weigert sich hartnäckig, in meine Fußstapfen zu treten und Zimmerin zu werden. Stattdessen studiert sie Medi…«

Noomi bemerkte aus dem Augenwinkel eine hüpfende Bewegung links von Ryans Fuß und dann ging alles ganz schnell.

»Hal-lo?« Joreks Stimme, Joreks scharfer Blick. Beides auf sie, Noomi, gerichtet.

»Alter, von dir können wir noch was lernen!« Der schöne Junge lachte trocken. »Zeigst du mir später den Trick?«

»Mir auch!«, bat Olympe. »Solche Reaktionen hätte ich auch gern – das wär Hammer fürs Gamen. Du warst so schnell, ich hab nicht mal mitgekriegt, wie du aufgesprungen bist. Aber was genau …« Olympe deutete auf ihre Hand.

Sie beäugte ebenfalls ihre rechte Hand. Die schwebte in der Luft und hielt etwas Zappelndes. Es war kalt und … es lebte.

O nein. Es war schon wieder passiert!

Verstört ließ sie los. Der kleine Frosch plumpste auf den Boden und sprang um sein Leben, fort von ihr. Sie sah ihm nach, ähnlich irritiert wie die anderen.

Schließlich begann Lara zu klatschen. »Gute Showeinlage. Können wir jetzt bitte zurück zum Thema kommen? – Ich war gerade dabei, mich vorzustellen.«

»Sorry«, nuschelte sie. »Ich … ähm …«

Während sie sich unauffällig die Hand an den Shorts abwischte und die anderen ihre Aufmerksamkeit wieder Lara zuwandten, spürte Noomi noch lange Joreks Blick auf sich brennen. Sie musste wirklich besser aufpassen.

»Was mein Vater sagen wollte«, ergriff Lara wichtigtuerisch das Wort, »ist, dass ich quasi in seinem Zimmereibetrieb aufgewachsen bin, aber mich für ein Medizinstudium entschieden hab.« Ihr weißblondes Haar glänzte, als wäre es aus Licht. »Und weil ihr wieder nur vier seid wie im letzten Jahr, hat er mich überredet, die letzten zwei Semesterwochen zu schwänzen und noch mal mitzumachen. Mit mir geht’s schneller und besser, ganz einfach, weil ich weiß, wie’s läuft, und ihr nicht.« Wenn das ein Witz sein sollte, misslang er gründlich. Aber immerhin lenkte Lara mit ihrer Angeberei von dem Zwischenfall mit dem Frosch ab. »Ohne mich kommt ihr jedenfalls auf keinen grünen Zweig. Ich bin euer Ass im Ärmel.«

Falls sie versuchte, Jorek den Rang für das unsympathischste Teammitglied abzulaufen, war sie mit dieser Selbstbeweihräucherung auf dem besten Weg. Nur weil ihr Vater sie für den Nabel der Welt hielt, hatte Lara sich offenbar eingeredet, dass sie der Nabel der Welt war. Sie thronte auf ihrem Baumstumpf und verschränkte die braun gebrannten Arme vor der Brust, so fest, dass sich ihre Bi-, Tri- und sonstige Zepse deutlich abzeichneten.

»Was meine Tochter euch auf ihre bescheidene Art zu sagen versucht, ist: Sie ist meine rechte Hand und ihr alle werdet meine linke sein.«

Wie konnte ein Mann mit derart positiver Ausstrahlung eine so unangenehme Tochter haben? Wobei – umgekehrt kam es auch oft genug vor.

»Das war’s erst mal von uns beiden.«

Jorek, die endlich den scharfen Blick von ihr genommen hatte, wies auf den Modeljungen. »Erzähl mal ein bisschen was zu dir und warum du hier bist.«

Alle Aufmerksamkeit flog zu dem Jungen.

Gute Frage, dachte sie, was macht jemand wie du hier? Hast du Heidi Klum gestalkt? Oder sie dich?

»Ich … ähm … ich bin Flix.« Er machte eine angedeutete Verbeugung in die Runde.

»Nicht dein Ernst!«, rutschte es ihr heraus. »Ist das dein richtiger Name?

»Ähm … fast. Eigentlich heiß ich Felix, aber so nennt mich keiner. Ich mag das auch nicht. Wegen … ähm …«

»… dem Hasen.« Olympe lachte.

Der Junge sah Olympe an und Olympe ihn. Einen Moment lang schien es, als würden Sonnenpunkte auf den Boden rieseln. Schließlich zwinkerte er. »Ja, der Scheißhase … Jedenfalls … ich komm aus Berlin. Aus Mitte. Und ich bin siebzehn. Hier bin ich, weil ich …« Er löste den Blick von Olympe und hypnotisierte stattdessen den Wald hinter ihr. »Na ja … ich bin ein bisschen zu schnell gefahren.«

Zu schnell gefahren? Dafür landete man nicht in einer Maßnahme wie dieser. Es musste eine Metapher sein, eine Art Geheimcode … Für Drogen vielleicht? In der Art: Ich hab Speed genommen – ich bin zu schnell gefahren?

»So kann man’s natürlich auch nennen«, kommentierte Jorek trocken. »Aber für den Moment lass ich es gelten.«

Sie ließ ihm das durchgehen? Das konnte sie doch nicht machen! Das Ziel dieser Vorstellungsrunde war ja wohl, dass sie wussten, mit wem sie es hier sechs Wochen lang zu tun hatten. Sie selbst musste jedenfalls wissen, ob sich hinter dem männlichen Jungmodel ein Junkie verbarg. Das war wichtig. Alles war wichtig! Jedes Detail. Ihre Mission beruhte darauf, dass sie exakte Informationen sammelte.

Aber ehe sie nachhaken konnte, wies Jorek bereits auf Olympe. »Jetzt du.«

Olympe, das hatte sie schon festgestellt, war ein Wasserhahn. Wenn man die aufdrehte, flossen Worte. Und richtig, es ging schon los.

»Hallihallo, ich bin Olympe.« Sie winkte! Mit beiden Händen! Ihre zahllosen Ringe funkelten im Sonnenlicht. »Ich komm auch aus Berlin.« Sie nickte dem Schönling Flix zu. »Aber aus Spandau. Ich bin fünfzehn und bin hier, weil ich … Also ehrlich, ich find’s ein bisschen übertrieben. Ich meine – ich wollte nur wissen, ob es geht. Und es ging. Yeah. Aber dann? Drama! Himmel, das ist doch nicht meine Schuld, dass die sich nicht ordentlich absichern! Wenn man die Tür auflässt, muss man sich doch nicht wundern, dass jemand reinkommt, oder? Aber nee – plötzlich sind alle übelst ausgeflippt.«

Nicht genug, dass Olympe viel und schnell redete, sie hatte auch noch die Angewohnheit, bestimmte Worte zu betonen und dabei vollkommen unpassende Gänsefüßchen in die Luft zu zeichnen. Die war völlig überdreht! Wie sollte sie es sechs Wochen mit der aushalten? In einer engen Hütte?

»Dabei hab ich denen geholfen«, sprudelte der Wasserhahn weiter. »Die sollten dankbar sein, dass ich sie auf diese Lücke aufmerksam gemacht hab! Ehrlich, eigentlich müssten sie mir ein Denkmal bauen.«

Wovon sprach die? Von den funkelnden Gänsefüßchen in der Luft war sie ganz wirr im Kopf. Wie konnte man so viel reden und gleichzeitig nichts preisgeben?

»Aber stattdessen? Katastrophenstimmung. Befragungen. Sogar Headhunting.« Gänsefüßchen. »Und trotzdem, na ja …« Olympe zuckte mit den Schultern.

Konnte bitte mal jemand den Wasserhahn abdrehen? Sie warf Jorek einen flehenden Blick zu, aber die Campleiterin hatte ihre gesamte Aufmerksamkeit auf Olympe gerichtet. Die holte Luft und ein neuer Wortschwall schwappte aus ihr heraus.

Noomi gab auf. Sie flüchtete vor dem Geplapper, zog sich in ihr Inneres zurück. Dahin, wo es still war. Dachte an das schwarze Loch in ihrem Leben.

»Wo bist du gewesen, Noomi?«, hatten sie gefragt. Immer wieder. Die Polizei, ihre Eltern, ihre Lehrer. »Sag uns endlich, wo!«

Sie hatte keine Antwort gehabt.

Fast einen Tag und eine Nacht war sie verschwunden gewesen – letztes Jahr, während eines Ausflugs im Ferienlager, einfach weg. Alles, woran sie sich erinnerte, war der Ort, an dem sie wieder zu sich gekommen war. Aber an den wollte sie jetzt nicht denken.

»Wo?«

Wenn sie versuchte, sich zu erinnern, war ihr, als ginge sie einen Pfad entlang und stürzte übergangslos in eine Fallgrube. Nur manchmal, in Träumen, wehten Erinnerungsfetzen von ganz unten nach ganz oben.

Als erster Fetzen kam immer der Geruch nach Blut.

Jedes Mal versuchte sie, ihn zu ignorieren und sich stattdessen auf die Bilder zu konzentrieren, die danach auftauchten, Bilder, die sie nicht verstand: Nebelnester in einem Tal, Fledermäuse, die durchs Dunkel huschten. Bizarre Schatten von Felsen im Mondlicht, knorrige Äste. Das Fauchen einer Wildkatze. Sie schmeckte Chili auf der Zunge, Chili im Rachenraum, und sie hörte einen lang gezogenen Schrei, der hoch und seltsam klang, nicht menschlich. Sie verstand das alles nicht.

»Wo?«

Am nächsten Tag war sie gefunden worden. Ihr Kopf hatte so gedröhnt, dass sie dachte, sie müsste sterben. Ihre Augen – sie hatte sie kaum öffnen, kaum etwas sehen können, so sehr hatte das Licht hineingestochen. Ihr Mund – wie Staub. Und Blut an ihren Händen. Das viele Blut.

Sie hatten die falsche Frage gestellt.

Die Frage war nicht, wo sie gewesen, sondern wie sie dorthin gekommen war. Wer ihr das angetan hatte. Und wie.

Die Frage war: Was. War. Passiert?

»Also eben in der Hütte konnte sie noch sprechen!« Olympes Stimme drang an ihr Ohr.

Sie schrak auf, blinzelte und stellte fest, dass alle sie anstarrten. Schon wieder. »Ah, sorry. … Was?« Sie hatte sich unauffällig in die Gruppe einschmiegen wollen, und das war alles andere als unauffällig.

»Ich hab gefragt, ob du stumm bist«, erklärte Flix freundlich. »Und warum du so krasse Kontaktlinsen trägst.«

»Und ich hatte dich gebeten, dich mal vorzustellen«, fügte Jorek hinzu. Wieder dieser Blick, zudringlich wie ein Bohrer. Jorek war misstrauisch. Genau wie die Polizei damals, ihre Mitschüler … ihre Eltern …

»Ja klar«, stotterte sie. Sei normal. Sei entspannt. Sei wie die anderen. »Ich heiße Noomi. Ich komme auch aus Berlin. Aus Marzahn. Ich bin fünfzehn, genau wie Olympe …« Sie nickte dem Wasserhahn zu. »Und das sind keine Kontaktlinsen«, wandte sie sich an Flix. Dann fügte sie mit Blick auf Jorek, Ryan, Gunnar und Lara hinzu: »Ich … ich bin hier, weil sie mich erwischt haben, als ich das Schaufenster von einem Juwelier eingeschlagen hab. Mit einem Baseballschläger.«

»Wie bitte?«, japste Olympe.

»Alter!« War das Anerkennung in Flix’ Stimme?

Ryan sagte nichts, aber er schaute sie an, als hätte sie den Schläger noch in der Hand.

In dem Moment fiel ihr auf, dass keiner der anderen wirklich erzählt hatte, was er getan hatte. Aus Flix’ und Olympes Drumherumgerede war sie jedenfalls nicht schlau geworden. Und Ryan? Der hatte nur »Ich bin Ryan, komm aus Berlin-Pankow und bin vierzehn Jahre alt« geflüstert und dabei auf den Boden gesehen. Das war’s. Jorek schien mit zweierlei Maß zu messen. Kein schneidender Blick wie bei ihr, keine Nachfragen. Warum hatte sie Ryan so schnell vom Haken gelassen? Sie nahm sich vor, auch das herauszufinden. Später.

»Tja, so sieht’s aus.« Betont freundlich lächelte sie in die Runde. »Ich bin also wegen versuchten Raubs hier.«

»Alter«, wiederholte Flix.

»Gut, dass sie unsere Portemonnaies auch gleich einkassiert haben, was?« Egal, wie viel Mühe Olympe sich gab, sie zu provozieren, sie würde keinen Stress riskieren.

»Raub, echt jetzt?« Noch mal Flix. Der Typ mochte schön sein, besonders schnell war er nicht.

Ryans Blick ließ von ihr ab und suchte wieder den Boden.

Erstaunlich, dachte sie, wie leicht es ist, so etwas auszusprechen: Baseballschläger. Juwelier. Versuchter Raub.

So leicht.

Es war immer leichter, Dinge zu sagen, die nicht wahr waren. Oder nur zur Hälfte. Sie hatte den Laden nämlich nicht ausrauben wollen. Aber sie hatte verurteilt werden wollen. Zu Arbeitsstunden in diesem Resozialisierungscamp. Und jetzt war sie hier, bei Feel Nature, und sie würde nicht lockerlassen, bevor sie nicht alle Antworten hatte.

Sofort nach der »Willkommensrunde« sprang sie auf und rannte in den Waschraum. Warf die Klamotten auf einen Plastikstapelstuhl, der dort einsam herumstand, und stellte sich unter die Dusche.

Sie musste allein sein, über die Bilder nachdenken, die sie schon so lang verfolgten und eben wieder eingeholt hatten.

Das Wasser lief prasselnd über ihren Kopf, wusch diese dumme Sitzung ab, ihr aufgesetztes Lächeln, die Gesichter der anderen, alles, bis sie klar denken konnte.

Die Bilder blieben.

Die Erinnerungsfetzen, die immer wieder unerwartet auftauchten. Seit dem Tag, der ein tiefes Loch in ihr Hirn gestanzt hatte, in das ihre Erinnerung hineingefallen war.

Ihr Verschwinden aus dem Ferienlager. Ihr Erwachen. Die endlosen Fragen der Polizei. Ihre Antworten. Die Fakten. Nichts hatte zusammengepasst, nichts! Die Leere in ihrem Kopf …

Seither träumte sie. Nachtträume. Tagträume. Und alle begannen mit dem Geruch von Blut.

Sonderbarerweise machten ihr die Träume keine Angst. Auch der Geruch ekelte sie nicht. Im Gegenteil: Er ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen; es war der köstliche Geruch eines fein geäderten roten Flusses, der dicht unter der Haut entlanglief. Pochte. Warme Kurven nahm. Sie träumte diesen Geruch. Sprühnebelfein, ihre Poren schluckten ihn; er war spürbar wie Nieselregen, der die Augen benetzte.

Nach dem Geruch träumte sie die wilde Schönheit von Felsen, raste von großer Höhe in ein dunstverhangenes Tal hinab und der Sturz, der Sturz war schwindelerregend und so brachial, dass sie einen langen Schrei ausstieß.

Angst hatte sie nicht. Aber sie fühlte sich seltsam beschmutzt von diesen Bildern, die irgendwie lustvoll waren. Wie oft schon hatte sie unter der Dusche gestanden, weil sie diese Lust abwaschen wollte?

Das Blut, noch spürbar auf ihrer Zunge, nicht widerlich, sondern süß wie Zuckerwatte, die sich langsam im Mund auflöste. Sie war von sich selbst entsetzt. Und wie jedes Mal stellte sie den Strahl schärfer ein, das Wasser kälter – obwohl da auf ihrer Haut natürlich nichts war, es war etwas in ihr, in ihrem Innern. Sie schluckte den Geschmack weg. Fühlte sich verloren. Hilflos.

Immer dieser Traum. Als versuche ihr Unterbewusstsein, ihr irgendetwas mitzuteilen.

Nur was?

Klappernd trat sie aus der Dusche, rubbelte sich ab, schlang sich ein Handtuch um den Kopf und eins um den Körper, atmete durch und öffnete die Waschraumtür, um sich der Realität zu stellen.

Wild

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