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Ryan

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Die Bäume atmeten.

Das war das Erste, was er wahrnahm, als er die Wagentür zögerlich öffnete und von seinem Sitz nach draußen glitt.

Herr Karl und Frau Plessner vom Jugendamt, die die ganze Autofahrt über ununterbrochen miteinander, aber nie mit ihm geredet hatten, waren bereits ausgestiegen. Auf dem einzigen weiteren Auto, das hier geparkt hatte, einem hellgrünen Transporter, leuchtete ein dunkelgrüner Schriftzug: Feel Nature. Links von Feel und rechts von Nature prangte je eine kleine Tanne. Der perfekte Platz für einen Sonntagsausflug.

Er hielt die Autotür umklammert und blieb so dicht am Wagen stehen, dass er durch die geöffnete Tür die Kühle der Klimaanlage spürte. Er sah seinen beiden Betreuern nach, die – noch immer ohne ihn zu beachten – über den winzigen Sandplatz zu einem Gewirr aus Büschen und Farnen strebten. Die Farne waren riesig. Der größte überragte sogar Herrn Karl, und der war sicher eins achtzig.

Scheinbar unbeeindruckt davon, ließen sie den Blick über das Gelände schweifen, in alle Richtungen, auch in den Wald.

Was suchten sie? War das der »Treffpunkt«, von dem sie im Auto gesprochen hatten? Und wenn ja, wo war dann dieser Jorek von Feel Nature, mit dem sie verabredet waren?

Seine Finger spannten sich fester um die Autotür. Er lehnte den Hinterkopf an das Autodach, reckte das Gesicht in die heiße Spätjunisonne, schloss die Augen. Griff nach dem Medaillon um seinen Hals, hielt es fest, versuchte, an nichts zu denken. Doch die Stimme seiner Klassenlehrerin drängte sich in seinen Kopf.

Warum sagst du nicht die Wahrheit? Wir wissen doch beide, dass du etwas verschweigst. Diese schreckliche Sache mit dem JugendclubDas sieht dir gar nicht ähnlich. Du warst doch niegewalttätig.

Sie hatte mehr zu sich selbst als zu ihm gesprochen, wie Erwachsene eben waren. Ihm gegenüber waren.

Ryan! Sprich mit mir. Es ist noch nicht zu spät. Du bist erst vierzehn.

Sekundenkurz hatte er sich vorgestellt, ihr alles zu erzählen, aber sie lag einfach falsch: Es war zu spät. Und zwar nicht erst seit der Sache mit dem Jugendclub. Schon viel, viel länger.

Wenn du mit mir redest, können wir das bestimmt noch geradebiegen. Dann musst du vielleicht gar nicht in dieses Camp.

Aber ich will dahin.

Er hatte es nicht laut ausgesprochen, doch es war die Wahrheit. Er wollte in das Camp. Ein Arbeitscamp für kriminelle Jugendliche, mitten in der waldreichen Felslandschaft des Elbsandsteingebirges. Er wollte diese sechs Wochen zwischen Tälern und Schluchten, egal, wie viel er dort schuften musste. Ganz einfach, weil er nicht mehr in seine Schule zurückkonnte, wo alle ihn für asozial hielten, monströs und stinkend.

Im Camp würde er jemand anders sein können als zu Hause – weg von allem: von den Mitschülern, seiner Mutter und der Wohnung, die eine Gruft geworden war. Weg auch von den Erinnerungen, die dort in jeder Ecke lauerten.

Mit aller Macht verbannte er die Stimme der Lehrerin aus seinem Kopf, öffnete die Augen und bemerkte in der Ferne die Sandsteinplatten, Tafelberge, die alles überragten. Selbst von Weitem wirkten sie rau und unzugänglich und strahlten doch eine unerschütterliche Ruhe aus. Versprachen Sicherheit. Das war genau, was er jetzt brauchte.

Erneut konzentrierte er sich auf das Medaillon in seiner Hand, bis da nichts mehr war als die Sonne auf seiner Haut. Das Rauschen in den Baumkronen. Das Hämmern eines Spechts. Und irgendwo in der Ferne das Summen der Straße, von der sie gekommen waren.

Er ließ das Medaillon los.

Herr Karl und Frau Plessner standen noch immer neben dem Riesenfarn und schienen zu beratschlagen, was zu tun war. Warum starrten sie so konzentriert in den Wald? Erwarteten sie, dass dieser Jorek aus dem Gebüsch brechen würde wie ein Tier?

Ryan löste sich von dem Auto, drückte die Tür vorsichtig zu und nahm zwischen den Stämmen am Waldrand eine Bewegung wahr. Etwas … Rotes. Ein Eichhörnchen! Es schaute sich um, maß den Platz mit flinkem Blick, dann huschte es darüber hinweg, geradewegs auf die Eiche an der gegenüberliegenden Seite zu. Hinter ihm staubte der Sand hoch.

Wie schnell es war, wie leicht es wirkte! Beinahe schwerelos schien es über den Boden zu sausen, erklomm den Eichenstamm, als bräuchte es dafür nur Geisteskraft und keine Krallen und Muskeln. Jetzt verharrte es. Er konnte nicht viele Bäume unterscheiden: Eichen, Kastanien und Birken, das bekam er hin, darüber hinaus wurde es schwierig. Aber er hatte es gemocht, wenn seine Eltern mit Brianna und ihm in die S-Bahn gestiegen und ins Umland gefahren waren. Damals, als alles noch gut gewesen, als ihre Welt noch nicht zusammengestürzt war. Sie waren auf laubbedeckten Pfaden durch den Grunewald gelaufen und seine Mutter hatte ihm etwas über die Pflanzen ringsum erzählt. Ihre Augen hatten geleuchtet, wenn sie ihm die Blattformen erklärt hatte, die Strukturen der Rinden und warum Moos immer an der Nordseite der Stämme wuchs. Sie hatte die Natur geliebt. Er wünschte, er hätte ihr besser zugehört, solange sie noch gesprochen hatte.

Behutsam tastete er nach dem Handy in seiner Hosentasche, doch gerade als er es hervorzog, dröhnte ein Motor heran. Das Eichhörnchen schien ihn ebenfalls zu hören, das Köpfchen zuckte herum, dann machte es einen Satz und verschwand in der Krone.

Ein SUV rollte auf den Parkplatz, Kienäpfel knackten unter seinen Reifen, als er auf der anderen Seite des Feel-Nature-Trans-porters zum Stehen kam.

Die vorderen Wagentüren öffneten sich und ein Mann und eine Frau stiegen aus. Sie schauten sich um, sahen ihn an, dann glitten ihre Blicke an ihm ab, als wäre er unsichtbar, und wanderten zu Herrn Karl und Frau Plessner. Die wandten sich erwartungsvoll dem Auto zu. Einen Augenblick lang geschah nichts, dann wurde die hintere Tür aufgedrückt.

Ein Mädchen, etwas älter als er selbst, sprang heraus. Sie trug ein umgedrehtes Basecap und dazu ein senfgelbes T-Shirt, auf dem rote Buchstaben verkündeten: Cereal Killer – Vegan & happy. Quer über dem Schriftzug verlief der Gurt einer zimtbraunen Bauchtasche, die sie so umgehängt hatte, dass sie unter ihrem Arm hing. Instinktiv duckte er sich – ein Reflex, der ihn selbst überraschte.

Aus der Deckung heraus beobachtete er, wie sie die Kofferraumklappe öffnete und mit finsterem Gesicht ein Gepäckstück nach dem anderen herauszerrte. Der Mann schaute ihr ein wenig hilflos dabei zu, die Frau hingegen steuerte geradewegs seine Betreuer an.

»Guten Tag«, rief sie mit piepsiger Stimme, als sie den halben Weg zurückgelegt hatte. »Sie sind bestimmt von Feel Nature? Wir bringen Olympe.«

Er glaubte, sich verhört zu haben. Olympe? Was war denn das für ein Name?

Unter dem Basecap lugten ein paar kurze kupferfarbene Haarsträhnen hervor. Selbst ihre offenkundig schlechte Laune konnte nicht verbergen, dass sie Lachgrübchen hatte. Wieso musste die wohl ins Camp? Kriminell wirkte sie nicht gerade.

Auf ihrer Stupsnase saß eine große, runde, goldgerahmte Brille und sie trug an jedem Finger einen Ring. Nicht nur unten, wo Ringe hingehörten, sondern auch oberhalb des ersten Knöchels. Wenn sie sich bewegte – und sie bewegte sich viel -, glitzerte sie.

»Nein, wir sind nicht von Feel Nature. Wir sind vom Jugendamt«, antwortete Frau Plessner. »Wir warten auch noch.«

Als wäre das ein Stichwort gewesen, tauchte zwischen den Bäumen ein weiteres Mädchen auf. Tarnfarbene Shorts und ein tarnfarbenes T-Shirt. Sie winkte Herrn Karl zu.

Ryan tauchte zurück hinter das Auto. Wer war das jetzt schon wieder? Seine Erleichterung darüber, hier im Camp sein zu dürfen, verflog, als ihm dämmerte, vor wie vielen fremden Leuten er sich würde behaupten müssen. All die Fragen, die Blicke. Das Abgecheckt- und Eingeordnetwerden. Trotz der Hitze wurde ihm kalt. Vielleicht würde er total versagen.

Nein, das hier ist deine Chance, ermahnte er sich. Die Chance, die er an seiner Schule nicht mehr hatte. Da sahen alle in ihm den stinkenden Spinner. Sobald er den Klassenraum betrat, rümpften sie die Nase und rissen demonstrativ die Fenster auf.

Er war aus der Schublade nicht mehr herausgekommen, egal, was er versucht hatte.

Das hier war der Ausweg. Ein Neubeginn. Keiner kannte ihn. Sie wussten nichts. Er würde endlich er selbst sein können.

Unruhig blickte er sich um. Wo blieb dieser Jorek?

Wenn der sie vergessen hätte, müsste er wieder zurück. Zurück in die Schule, in die Schublade. Und zurück nach Hause, zu seiner Mutter, in die düstere Wohnung, deren Schatten nach allem schnappten, was noch am Leben war …

»Ryan, kommst du?«, rief da Frau Plessner.

Er straffte sich, trat hinter dem Auto hervor und ging auf die kleine Gruppe zu.

»Hey, guten Tag. Ich leite das Camp.« Das tarnfarbene Mädchen streckte ihm die Hand entgegen. Das ist gar kein Mädchen, stellte er verblüfft fest, sondern eine erwachsene Frau. »Ich bin Sophia Jorek.«

Camp-Leitung: S. Jorek hatte im Schreiben des Jugendamts gestanden. S wie Simon, Sükan, Sebastian. Ein Mann, natürlich (S wie Superman), mit der Figur eines Schrankes (S wie Schrank), schließlich musste er ein Camp voller Krimineller leiten.

Aber S wie Sophia?

Er fühlte sich … betrogen. Schnell, um sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen, schüttelte er ihre Hand.

»Ryan, nehme ich an?« Immer noch stumm nickte er. Sie wandte sich an das Cereal-Killer-Mädchen. »Und du bist also Olympe?«

»Ja, hi«, antwortete diese Olympe. Und dann sprudelte sie los: »Ganz schön heiß. Puh. Und wir hätten’s fast nicht pünktlich geschafft, weil’s da diesen Megastau auf der A13 kurz vor Dresden gab. Aber dann ging’s glücklicherweise doch noch weiter. Zumindest bis …«

»Jetzt bist du ja da.« Sophia Jorek drehte dem Wasserfall rigoros den Hahn zu.

Je länger Ryan die Campleiterin beobachtete, desto mehr wunderte er sich, wie er sie für ein Mädchen hatte halten können. Sie wirkte nur von Weitem jung; von Nahem erkannte er, dass sie im Alter seiner Mutter sein musste. Oder doch nicht? Gerade warf sie einen zufriedenen Blick auf seinen Rucksack und schaute dann – missbilligend – auf Olympes Gepäckberg. Schließlich seufzte sie, wühlte eine große Plane aus ihrem Rucksack und breitete sie auf dem Boden aus.

»Okay, Taschencheck. Auch die Hosentaschen bitte.«

Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte sie seine sieben Duschgels, die Rosenlotion und die Deos, sagte aber nichts. Dafür kassierte sie sein Handy ein. Er hatte keine Kraft, sie dafür zu hassen. Im Gegensatz zu Olympe, die beinah durchdrehte, als sie ihr Arsenal an elektronischen Geräten abgeben musste. Hatte sie in den Infopapieren nicht gelesen, dass Geräte aller Art im Camp verboten waren? Und dass sie nur eine Tasche und ein Handgepäckstück mitnehmen durften?

Statt Olympes Schimpfen zu lauschen, die das wenige, was sie mitnehmen durfte, in eine einzige Tasche umpackte und einen hippen Rucksack mit Büchern vollstopfte, legte er den Kopf in den Nacken. Er verlor sich im Kachelblau des Himmels, über das harte weiße Wolken hinwegzogen, und blendete alles andere aus.

Wild

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