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Flix

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Der Geruch ging gar nicht. Kaum dass er die Tür geöffnet hatte, hielt er die Luft an. Erst nach einer Weile atmete er vorsichtig wieder ein. Obwohl die Hütten erst im letzten Sommer renoviert worden waren, roch es nach jahrzehntelang ungelüftetem Keller, nach ganz hinten im Kühlschrank vergessenem Joghurt und feuchter Traurigkeit. Es roch nach organisierten Jugendfreizeiten und Heimweh. Diese Hütte hatte eindeutig zu viel erlebt und zu wenig davon verarbeitet.

Es kostete ihn Überwindung, einzutreten und die Tür loszulassen, die sich sofort knarrend hinter ihm schloss. Er ließ den Rucksack fallen und verschränkte die Finger ineinander, drehte die Handflächen nach vorne und drückte, bis es knackte.

Draußen auf der Lichtung brannte die Sonne und alles badete im Licht. Hier drinnen war es dunkel. Reflexartig tastete er nach dem Lichtschalter, und als er keinen fand, fiel es ihm wieder ein: In den Schlafhütten gibt es keinen Strom. Das hatte im Infobrief gestanden.

Nur durch das Fenster gleich neben der Tür drang etwas Licht nach drinnen – und durch ein weiteres helles Viereck gegenüber der Tür. Ein weiteres winziges helles Viereck. Mit wenigen Schritten durchmaß er den Raum und riss das Fenster auf, das eine uneingeschränkte Aussicht auf … den Wald bot. Kurz sah er hinaus, dann lehnte er sich enttäuscht an die Wand neben dem Fenster. Was hatte er erwartet? Seeblick?

Als seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, inspizierte er den Rest des Raumes. Direkt neben ihm gab es eine weitere, kleinere Tür, die höchstwahrscheinlich zum Klo führte. Er wollte sie noch nicht öffnen, noch nicht herausfinden, was genau das Wort Komposttoilette, das Frau Jorek stolz und gleich mehrfach benutzt hatte, eigentlich bedeutete. Es klang nach einem riesigen Misthaufen.

Okay, weiter.

Drei Betten. Schön verteilt an drei Wänden. Über jedem hing ein Regal, am Fußende stand eine Art Hocker Schrägstrich Nachttisch Schrägstrich Keine-Ahnung-Was.

Es dauerte einen Moment, ehe er begriff, dass die Zimmerwand, an der er gerade lehnte, eine exakte Kopie derer war, auf die er schaute. Ein Bausatz, dachte er hämisch. Hausbau für Anfänger. Anfangswand: Tür links, Fenster rechts, zwei Seitenwände, Endwand: Tür links, Fenster rechts. Dach drauf. Klokabuff außen dran. Fertig.

»Richte dich schon mal ein«, hatte Frau Jorek gesagt, nachdem sie ihn nach einer ewigen Wanderung hier abgestellt hatte. »Ich muss die anderen holen.«

Die anderen. Die musste sie wahrscheinlich nicht am Bahnhof einsammeln, die wurden bestimmt von ihren Eltern gebracht. Als Flix seinen Vater gefragt hatte, ob er ihn fahren würde, hatte der die Zeitung gesenkt und gelacht. »Als ob ich dafür Zeit hätte!« Und, während er die papierne Buchstabenmauer wieder zwischen ihnen errichtete: »Du hast dir das eingebrockt, mein Sohn, jetzt sieh zu, wie du dich da wieder rauslavierst.«

Sein Vater benutzte dauernd solche Worte. Evaluieren, präferieren, rauslavieren. Hauptsache, es klang wichtig.

Richte dich schon mal ein.

Als könnte man sich in diesem Klonding einrichten.

Er sah erneut aus dem Fenster. Bäume, Bäume, Bäume, so weit das Auge reichte, und hier drinnen – offenbar damit man keine Sekunde lang vergaß, wo man war – bestand auch alles aus Baum. Die Betten: aus Baum. Der Tisch: aus Baum. Die komischen Stühle, die eher Stämme mit Lehne waren und so wuchtig aussahen, dass sie sich garantiert keinen Millimeter verschieben ließen: Baum. Und nicht zu vergessen: die Baukastenwände. Er legte den Kopf schief. Wie viele Bäume ergaben eine Wand, wenn man sie übereinanderstapelte und an den Ecken miteinander verzahnte?

Sechs Wochen. Hier!

Allein der Name des Camps: Feel Nature. Pseudo-Wellness-Psycho-Mist!

Er sog die warme Waldluft ein, die durch das Fenster neben ihm hereinströmte. Ja gut, das roch nicht schlecht, nach Gras und so, trotzdem hätte er viel dafür gegeben, jetzt Smog zu riechen. In Berlin zu sein, an seinem eigenen Fenster zu stehen, das acht Meter höher lag als dieses hier, unter sich die pulsierende Leipziger Straße, das Rauschen der Autos, das Kreischen der Alarme. Stattdessen das hier.

Feel Nature.

Natur brauchte er nicht, sie machte seinen Kopf zu voll – all das Grün und Braun und die Vögel hinderten ihn am Denken. Und fühlen wollte er sie erst recht nicht. Vor allem nicht in Form von muffigen Holzhütten und schon gar nicht in Form von Insekten.

Er hasste Insekten. Spinnen besonders, auch die durchsichtigen mit den killerlangen Beinen, wie die, die über dem Bett neben der Eingangstür lauerte.

Dieses Bett wäre seine erste Wahl gewesen, es stand in perfekter Position, um schnell abhauen zu können. Wer wusste schon, mit was für Schlägertypen sie ihn hier einquartierten. Aber gut. Eher würde er sich den Weg notfalls freiprügeln, als unter einer Spinne schlafen. Er entschied sich für das Bett an der rechten Wand, dessen Kopfende gleich unter dem zweiten Fenster lag.

Mit dem Fuß kickte er seine Sporttasche mit allem, was die Inspektion durch Frau Jorek überstanden hatte, in Richtung Bett, lief hinterher und ließ sich auf die Matratze fallen. Die war überraschend bequem und schien, immerhin, neu zu sein. Na, nicht ganz neu. Aber da er erst in der zweiten Gruppe war, die dieses bescheuerte Resozialisierungsprojekt aufgedrückt bekommen hatte, war die Chance groß, dass die Matratze noch nicht durchsuppt war von Schweiß und Gestank und anderen Dingen, über die er nicht näher nachdenken wollte.

Er stopfte sich das noch unbezogene Kissen unter den Kopf und betrachtete das Regalbrett direkt über sich (auch aus Baum, klar, ein grobes Brett im Grunde nur, man sah die Astlöcher). Vermutlich sollte das Teil als Schrankersatz dienen, denn Schränke gab es nicht. Immer schön transparent bleiben und bloß keine Privatsphäre aufkommen lassen.

Er zog die beiden Zettel, die Frau Jorek ihm in die Hand gedrückt hatte, hervor, und faltete den ersten auf.

Willkommen bei Feel Nature!

Auch wenn du nicht freiwillig hier bist – wir freuen uns auf die Zeit mit dir.

Heute, am Tag eins deines Aufenthalts, gehen wir es langsam an:

Komm an, richte dich ein und lern die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer kennen.

Um 16: 30 Uhr gibt es eine Kennenlernrunde vorm Haupthaus, um 18 Uhr essen wir zu Abend.

Bis nachher!

Sophia Jorek, Gunnar Wildner und Lara Uhlich

Sophia Jorek hatte er sofort erkannt, als sie ihn am Bahnhof abgeholt hatte. Er hatte ihr Bild schon auf der Website des Camps gesehen. Pädagogische Leitung stand darunter. Allerdings wirkte sie jünger als auf dem Foto. Sie hatte, was er schön fand, weit auseinanderstehende Augen. Wie Juliane.

Er dachte an Julianes Gesicht, ihre Haare, daran, wie sie sich bewegte, und sofort stürmte Sehnsucht seinen Körper, jede einzelne Zelle. Er dachte an ihren Blick, als er ihr beichtete, was er getan hatte. Er schmerzte ihn immer noch, dieser Blick. Er war so ein Idiot gewesen. Und jetzt saß er hier, in der Pampa, ohne Kontakt zu ihr. Er hasste sich.

Flix ließ das Blatt sinken und suchte die Decke nach weiteren Spinnen ab, bis er wieder normal atmete. Gunnar Wildner – von dem hatte er auch ein Bild gesehen. Der war nicht nur Sozialarbeiter, sondern auch Zimmermann und betreute den »handwerklichen Teil« des Projekts. Er war ungefähr so alt wie sein Vater. Allerdings sah er im Gegensatz zu seinem Vater freundlich aus, mit vielen Falten und einem Lächeln, das echt wirkte. An eine Lara Uhlich konnte er sich nicht erinnern.

Dafür an die vielen Fotos auf der »Historie«-Seite des Camps. Von früher, als es noch nicht diesen albernen Namen trug, sondern schlicht FDGB-Heim Sächsische Schweiz geheißen hatte. Sie stammten aus einer Zeit, lange bevor Flix geboren war, und endeten kurz nach der Wende, als das Heim dichtgemacht hatte.

Es gab sicher zwanzig Schwarz-Weiß-Fotos von Bäumen und schroffen Felsen und auch von Bäumen, die aus diesen Felsen herauswuchsen. Genauso wie von Familien mit Kindern, die durch den Wald marschierten, Stockbrote über einem Lagerfeuer verkohlen ließen und in extrem uncoolen Badehosen von einem Steg in eine Art Waldsee sprangen.

An dem Gewässer waren sie auf dem Weg hierher vorbeigekommen. Allerdings hatte es weniger verlockend ausgesehen als auf den Fotos, kein Badesee, eher eine Art Sumpfloch. Auf dem schlammbraunen Wasser hatte Laub geschwommen und es hatte bestialisch gestunken. Er hatte sein Shirt über die Nase gezogen, ohne Erfolg. Führte da ein Abflussrohr rein? Von dem kleinen Steg waren nur noch die Pfosten übrig. Frau Jorek musste seinen Ekel bemerkt haben, denn sie hatte gelächelt und gesagt: »Ich schwimm fast jeden Tag drin.« Mit Mühe hatte er sich ein Würgen verkniffen. »Ist ein Quelltümpel, daher auch der Geruch. Mineralien. Sehr gesund. Ist herrlich, wart mal ab!«

Na danke.

In der Fotostrecke »Wiederaufbau« gab es Bilder von ihr, wie sie mit Anzugträgern sprach, Papiere unterzeichnete und schließlich, sichtlich stolz und mit einer Schaufel in der Hand, vor dem Schild Feel Nature posierte.

Sie schien also von Anfang an dabei gewesen zu sein, als das Land Sachsen vor zwei Jahren begonnen hatte, die Anlage zu restaurieren. Dann, im letzten Sommer, hatten die ersten »jugendlichen Straftäter« das Camp bezogen. Von denen gab es keine Fotos, Datenschutz, vermutete er, aber wie sich der Ort positiv veränderte, als sie hier zu schuften begonnen hatten, fiel ihm sofort auf. Die mussten extrem rangeklotzt haben in den paar Strafwochen.

Er mochte vielleicht nicht besonders geschickt darin sein, sich von falschen Freunden fernzuhalten, aber zwischen den Zeilen lesen konnte er perfekt. Außerdem gaben sich die Betreiber nicht viel Mühe, ihre Intention (noch so ein Vater-Wort) zu verbergen: Als er auf der Website den Menüpunkt Ziel des Camps angeklickt hatte, war ihm schnell klar geworden, dass das ganze Gerede von »Resozialisierung« oder »Stärkung der sozialen Fähigkeiten« und von dem »Ort für Rückbesinnung und gruppendynamische Projektarbeit« nur eine Ausrede war. Was sie hier brauchten, waren billige Arbeitskräfte.

Resozialisierung. Das Wort hatte die Richterin auch benutzt, mehrfach sogar, als sie ihm seine Strafe – den Platz im Camp – präsentiert hatte wie einen Hummer auf dem Silbertablett. Resozialisierung klang, als wäre er vollkommen asozial, aber es bestünde noch ein Hauch Hoffnung. Flix kannte nur einen in seiner Familie, der asozial war. Nur einen.

Und was die Arbeitsstunden anging – verschleierte Sklavenarbeit war das! Man hatte dem Camp kurzerhand einen esoterischen englischen Namen gegeben und die Jugendlichen durften, statt im Strafvollzug zu sitzen, Blockhütten renovieren. Alles am Arsch der Welt, gleich an der Grenze zu Tschechien, wo es nichts gab als Bäume, Felsen und Gestrüpp.

Dabei war er, wenn er seinem Vater glaubte, mit einer erstaunlich milden Strafe davongekommen. An dessen Einfluss hatte es nicht gelegen, der hatte sich geweigert, seine Kontakte für ihn spielen zu lassen. Warum er als Berliner Jugendlicher also ausgerechnet hier im sächsischen Wald gelandet war statt in Haft, war ihm ein Rätsel.

»Wahrscheinlich ein Sozialexperiment«, hatte sein Vater gemutmaßt. »Sie stecken Delinquenten aus verschiedenen Stadtteilen und Milieus zusammen und schauen, was passiert. Gratuliere, mein Sohn.« In seiner Stimme nichts als Verachtung. Flix schauderte bei der Erinnerung daran.

Auf dem Fensterbrett landete eine Amsel. Sie starrte zu ihm hinein, und als er sich bewegte, zischte sie davon.

Berlin war knapp dreihundert Kilometer entfernt, aber gefühlsmäßig hätte Feel Nature auch auf einem anderen Kontinent liegen können. Weiter weg konnte man sich von der Großstadt nicht fühlen.

»Muss ja«, hatte Diana, seine Stiefmutter, gesagt, »damit sie euch aus euren Strukturen lösen.«

Seine äußere Struktur, das waren die Jungs in der Schule, seine innere war Juliane.

Er hatte Diana von ihr erzählt, niemandem sonst. Am Anfang hatte er sie verachtet, dann bemitleidet. Erst nach seiner »Dummheit« (wie sein Vater es nannte), als er Hausarrest bekam und Diana zu seiner Überwachung abkommandiert wurde, begann er, sie zu mögen. Sie brachte ihn jeden Tag zur Schule und holte ihn wieder ab – nicht ohne sich tausendfach dafür zu entschuldigen. Was hätte sie sonst tun sollen? Seinem Vater, ihrem Mann, nicht zu gehorchen, war keine Option. Sie waren gefangen, beide, wenn auch auf verschiedene Arten.

Eines Tages, als er besonders aufgewühlt aus der Schule kam, hatte er sich ihr anvertraut. Und sie schien es zu genießen, mit ihm gemeinsam ein Geheimnis vor seinem Vater zu haben: Juliane.

X

Endlich!

Ich habe so lange warten müssen, so lange!

Aber als sie aus dem Wald auf die Lichtung treten, weiß ich, dass sich das Warten gelohnt hat.

Wild

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