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Olympe

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Nicht aufregen, beschwor sie sich, durchatmen. Du hast schon ganz andere Sachen geschafft! Aber ganz ehrlich: Die Campleiterin hatte sie doch nicht mehr alle!

Es war halb drei, unter ihr glühte der Sandplatz, über ihr der Himmel. In den Bäumen ringsum schien eine komplette Vogelarmee zu hausen; ihre Schreie zerstachen die Luft.

Nach der Klimaanlage im Auto war die Luft draußen fast unerträglich. Über vier Stunden hatten sie von Berlin bis hierher gebraucht. Sie waren zu den Reggae-Rhythmen aus den Boxen gefahren, die Stefan auf dem Lenkrad mitklopfte – offenbar hatte er eine Olympe-Aufheiterungs-Playlist zusammengestellt. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte Marie sie auf ein Schild am Straßenrand hingewiesen: Sächsische Schweiz – Willkommen im Land der Zauberfelsen.

Ab da war die Straße schmaler geworden, hatte sich zwischen Felsen hindurchgewunden, rechts und links Bäume aller Sorten und Größen. Die Spitzen der zerklüfteten Berge, die zwischen den Baumkronen aufragten, imponierten ihr. Diese Felsen wirkten wie riesige Urtiere, die, vor Jahrtausenden versteinert, jetzt ihrem Blick trotzten – Ehrfurcht gebietend und stumm.

Doch bevor sie sich intensiver auf das Gefühl einlassen konnte, das die geriffelten Sandsteinkolosse in ihr auslösten, hatte Marie sich zu ihr umgedreht: »Wenn irgendwas ist, ruf uns einfach an, ja?« Zwei Reggae-Titel später: »Deine Allergietabletten sind in dem roten Koffer, vergiss nicht, ein paar in deine Bauchtasche zu stecken, du solltest sie immer bei dir haben.« Zwei weitere Songs später: »Dass sie dich deshalb so behandeln … Als hättest du jemanden umgebracht! Also, ganz ehrlich … das ist doch total übertrieben, oder, Stefan?«

Ihr Onkel trommelte und murmelte Zustimmung.

Die Situation machte ihrer Tante so sehr zu schaffen, dass Olympe sich zum wiederholten Mal dafür verfluchte, ihre große Klappe nicht gehalten zu haben. Denn hätte sie das getan, müsste sie jetzt nicht hier sein! In diesem zugewucherten Nirgendwo.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie sanft zu Marie. »Es sind nur sechs Wochen. Ich … ich krieg das schon hin.«

Der Rest der Fahrt war ruhig verlaufen. No Women, No Cry aus den Boxen, dann Silly Games. Darüber Maries Stimme, die sie mit Wikipedia-Infos zu ihrem Gefängnis abzulenken versucht hatte. Als hätte sie nicht selbst schon hundertmal gegoogelt und sich Fotos angeschaut. Know your enemy.

Die Sächsische Schweiz lag südöstlich von Dresden – gigantische 60.913,3 Hektar Wald, umgerechnet etwa 85.000 Fußballfelder und damit noch immer jenseits ihrer Vorstellungskraft. Groß eben. Sehr groß. Voller uralter Festungen, die aus Gestein herauswuchsen, und gespickt mit bizarren Felsformationen, die Winterberg oder Lilienstein hießen. Das besondere Klima ließ angeblich Pflanzen wachsen, die man sonst nur im Hochgebirge fand, und es gab Wanderwege mit wenig vertrauenerweckenden Namen wie Höllenschlund und Wolfsschlucht. In der Wolfsschlucht spielte sogar eine berühmte Opernszene, stand bei Wiki. Die Oper hieß Der Freischütz. Olympe hatte keinen Schimmer von Opern, aber beeindruckend war das alles trotzdem.

Jetzt stand sie mittendrin, in diesem mysteriösen Land, das eher nach Märchen klang. Mit fremden Leuten, bei mindestens dreißig Grad, in einer unendlichen Waldwüste. Es roch nach Staub und Tannen und sie sah fassungslos dabei zu, wie die Campleiterin Marie und Stefan ihr gesamtes elektronisches Survivalset in die Hand drückte.

Bis eben hatte sie die Geräteregel im Infobrief so wenig ernst genommen wie einen drohend erhobenen Zeigefinger, aber Sophia Joreks schroffer Tonfall machte unmissverständlich klar, wie naiv das gewesen war.

»Nicht mal das Handy?«, japste Marie. »Wie soll sie uns dann …?«

Sie sprang ihrer Tante bei: »Gar keine Geräte? Das ist doch vorsint…«

»Gar keine.« Sophia Jorek war offensichtlich eine Frau der klaren Worte. »Keine Ablenkung. Das Motto der nächsten Wochen lautet: Arbeit, Betreuung, Natur.«

Willkommen im Land der Zauberfelsen, dachte Olympe und war, was so gut wie nie vorkam, sprachlos. So sprachlos, dass sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste, als die Betreuerin anzustrahlen.

Das war ihr persönlicher Trick 17: Wenn du jemanden finster anschaust, schaut der genauso finster zurück. Automatisch. Das liegt an den Spiegelneuronen, hatte ihr Marie erklärt und Marie klang zwar piepsig, aber sie wusste viel, vor allem über Menschen, weil sie nämlich Therapeutin war. Spiegelneuronen sorgten dafür, dass man das, was man am Gegenüber sah, unbewusst imitierte. Was bedeutete: Wenn du jemanden angrinst, kann der gar nicht anders, als zurückzugrinsen. Und sofort hebt sich die Stimmung. Auf beiden Seiten.

Ein Zaubertrick. Normalerweise.

Sophia Jorek grinste nicht. Sie warf einen Blick auf Olympes Bücherrucksack und sagte: »Du weißt schon, dass du das alles durch den Wald tragen musst?«

Ihr Tausend-Volt-Strahlen bröckelte. Verunsichert suchte sie Maries Blick. Das konnte doch nicht wahr sein! Besaß diese Frau keine Spiegelneuronen?

»Dein Kollege kommt sogar mit einem Gepäckstück aus!«

Kollege? Sie sah auf den Jungen, der neben ihr stand und nach oben in den Himmel starrte, als wäre er nicht ganz dicht. Wie hieß der noch mal? Ryan? Was für ein bekloppter Name.

Sie überlegte gerade, ob sie auf eins der Bücher verzichten könnte, als ein weiterer Wagen auf den Parkplatz fuhr. Frau Jorek sah auf die Uhr. »Das wird Noomi Goldstein sein. Es wird Zeit! Um vier sollten wir im Camp sein. Wir kommen zu spät.«

Überrascht linste Olympe auf ihr eigenes Handgelenk. Die Uhr! Sophia Jorek hatte tatsächlich die Smartwatch übersehen. Galt die nicht als Gerät? Unauffällig öffnete sie das Armband, tat, als müsste sie sich die Schuhe zuschnüren und stopfte die Uhr in ihre linke Socke. Wenigstens etwas, dachte sie.

Wild

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