Читать книгу Auf der Suche nach Wärme - Ella Mackener - Страница 10

Kapitel 8

Оглавление

Das erste, woran ich mich erinnern kann, wenn ich an Anna denke, ist ihr Lächeln über beide Backen mit nur der Hälfte der Zähne im Mund. Sie sah zum Kreischen aus, aber ich war damals schon neidisch auf sie, da ich noch fast alle Milchzähne hatte. Wir müssen damals knapp 6 Jahre alt gewesen sein, denn die Schuleinführung war die erste Familienfeier, die wir gemeinsam verbrachten.

Anna ist meine Halbschwester, was wir jedoch erst viele Jahre später erfahren sollten.

Sie war über Jahre "nur" das Nachbarskind. Da das Durchschnittsalter in der Burgunderstraße jedoch bei mindestens 50 lag, war sie schon früh meine beste Freundin. Wir haben alles zusammen gemacht. Wir haben uns morgens getroffen und uns abends schweren Herzens getrennt, aber selbst dann haben wir uns mit Lichtzeichen noch einander zu verstehen gegeben, dass wir aneinander dachten. Wir waren unzertrennlich. Und auch nach Annas Einzug bei uns sollte sich daran überraschenderweise nichts ändern.

Antonio – Annas Vater – war mit Anna in die Burgunderstraße gezogen, als sie noch ein Kleinkind war. Er war alleinerziehend und vielleicht war es genau das, was mich von Anfang an mit Anna verband. Auch sie hatte nur ein Elternteil. Mein Vater ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als ich noch keine 2 Jahre alt war. Von Erzählungen und Bildern weiß ich, dass wir einander sehr nahestanden, doch persönliche Erinnerungen habe ich an diesen -mir auf wundersame Weise- so vertrauten Mann keine. Ich denke heute nicht mehr über den Verlust nach, aber wandern meine Gedanken zu ihm, so schmerzt Sehnsucht in meiner Brust.

Hatte ich -wenn auch nicht immer- meine Mutter an meiner Seite, so hatte Anna den Gegenpart eines Vaters.

Ich wusste von meiner Mutter. Es gab sie. Aber sie beehrte uns nur selten mit ihrer Anwesenheit. Ich liebte Anna, aber ihr Glück schürte meine Eifersucht. Während ich nicht nur Vater, sondern oft auch Mutter entbehren musste, spielte Antonio mit Anna im Garten. Ich beobachtete sie oft mit Tränen in den Augen. Noch heute habe ich das Bild vor Augen, wie sie im Rasen tollen und er sie mit Küssen übersät. Ich weiß noch, wie ich mir damals gewünscht habe, in ihrer Haut zu stecken.

Antonio und Anna halten sehr regelmäßigen Kontakt, wenn er auch nicht mehr vor Ort ist. Zu ihrem 6. Geburtstag musste er damals wegziehen.

Er arbeitete im Bergbau und das Werk, in welchem er arbeitete, wurde stillgelegt.

Nun war es für ihn an der Zeit anderweitig Arbeit zu suchen. Er war kräftig und leistete im Bergwerk gute Arbeit, was ihm dort schnelles Geld einbrachte. Allerdings hatte er fachlich keine anderen Fähigkeiten erworben, die ihm eine andere Arbeitsstelle ermöglicht hätten. So war er gezwungen, den anderen Bergbauarbeitern zu folgen zu deren - und nun auch seinem - nächsten Abtragungsort.

Aber er konnte nicht für sie sorgen. Er hatte lange Schichten vor sich, die ihm körperlich alles abverlangten. Er wäre physisch geschweige denn psychisch in der Lage dazu gewesen, sein Mädchen auf ihrem Weg in die Pubertät zu leiten. Und er - wie auch meine Familie- wussten damals schon, dass Annas Wurzeln nicht nur bei ihm, sondern ebenso in der Familie Thaler lagen. Meiner - und nun auch „unserer“ - Familie.

Für uns Mädchen war es damals nicht sonderlich abnormal, dass Anna zu uns zog; auch wenn wir von unserer Verwandtschaft damals noch nichts ahnten.

Natürlich war es für sie sehr hart, ihren Vater ziehen zu sehen, aber sie verstand, dass er nicht die Zeit noch das Wissen hatte, alleinig für sie zu sorgen. Und sie verbrachte ohnehin die halbe Kindheit mehr in unserem Hause als irgendwo anders.

Ich mochte sie, sie mochte mich und Oma Erna mochte sie auch. Also gab es für uns damals keinen Grund, warum sie nicht zu uns ziehen sollte.

Erst mit 12 Jahren sollten wir den wahren Grund ihres Einzugs erfahren.

Meine Mutter überraschte uns mit einem Besuch.

Meine Mutter ist ein freiheitsliebender Mensch, was bedeutet, dass sie nahezu ihr ganzes Leben auf Reisen war und ist. Sie hat nicht viel von meiner oder Annas Kindheit erlebt, ich habe sie nur ab und an gesehen. Dennoch habe ich nie bösartige Gefühle gegen sie gehegt. Sie war mir nicht sonderlich nahe, ich kann gewiss nicht von mütterlichen Gefühlen sprechen, aber sie war wie eine entfernt Verwandte, über deren Besuch sich doch jeder freute; wie eine Freundin, mit der man auch das ein- oder andere Geheimnis teilt, die aber - sowie aus den Augen - auch aus dem Sinn ist.

Vielleicht habe ich auch deswegen die bösartigen Gefühle gegen meine Mutter gehegt, weil mir die Familie vor Ort alles gab und gibt, was ich brauche.

Oma Erna ist meine Welt. Sie hat mich und später auch Anna mit einer Liebe großgezogen, die für fünf reichte. Sie hat uns mit Großmut, Großherzigkeit und dem richtigen Maß an Strenge, was zwei Pubertierende ab und an benötigen, erzogen.

Sie ist mein Vorbild und ich werde ihr auf ewig dankbar sein.

Und auch meine Tanten, die ebenfalls in der Burgunderstraße wohnten, waren herzlich und liebend, wenn auch fürchterlich geschwätzig.

Dadurch wogen sie die fehlende Liebe, die man aufgrund der Abwesenheit meiner Mutter - und des Vaters - vermuten würde, auf, und ich hatte nie das Gefühl, dass es mir an etwas gefehlt hat.


An dem Tag ihres Besuches kam es zu einem großen Streit zwischen Oma Erna und meiner Mutter. Wir hatten gerade gemeinsam Kaffee getrunken, Tante Hanna und Helene waren sofort vorbeigekommen als sie von der Ankunft meiner Mutter hörten. Während die beiden es sich am Kaffeetisch gemütlich gemacht haben mussten, waren meine Mutter und Oma Erna wohl in die Küche gegangen, um das Geschirr zu spülen.

Und - wie so oft - schienen sich in der Küche die intimsten Gespräche entwickelt zu haben.

Unser Haus ist nicht sonderlich hellhörig und Anna und ich waren zum Spielen nach oben in unser Zimmer gegangen. Da dieses jedoch genau über der Küche lag, hörten wir jede einzelne Anschuldigung mit.


" Verdammt nochmal, Karin, jetzt sei doch nicht so egoistisch. Ich verstehe ja, dass du es loswerden willst, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Die beiden stehen kurz vor den Zeugnissen und müssen in dem ein- oder anderen Fach noch ziemlich das Ruder rumreißen. Und Anna hatte erst gestern einen heftigen Streit mit einer Klassenkameradin, der ihr noch immer tief in den Knochen sitzt. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt"


"Mutti, ich bin 600 km gereist, um meinen beiden endlich die Wahrheit zu sagen. Sie haben ein Recht darauf, es zu erfahren. Ich bin mir sicher, dass es keine zusätzliche Belastung für sie wird. Es wird eine Erlösung v.a. für Anna sein, endlich zu erfahren, wer ihre Mutter ist; wenn sie nicht mehr grübeln muss"


"Du hast Recht. Sie HABEN ein Recht auf die Wahrheit. Aber zum Teufel nochmal nicht jetzt. Es WIRD eine Erlösung sein für Anna, zu wissen, wer ihre Mutter ist, aber auch nur dann, wenn sie die Gelegenheit bekommt, ihre Mutter wahrlich kennenzulernen und nicht, wenn sie nach wenigen Tagen wieder abfährt. SAGE ihr nicht nur, dass du ihre Mutter bist, sondern SEI ihr eine Mutter. BEIDEN! Nur dann ist die Wahrheit wirklich eine Erlösung. Maria ist stark - sie kann gut damit um, aber für Anna wäre es jetzt einfach zu viel. Und, mit Verlaub, ich glaube doch mit deinen Töchtern mehr Zeit verbracht zu haben und sie besser einzuschätzen zu wissen!"


Oma Erna war immer argumentativ und nie verletzend. Sie hatte sich eigentlich immer unter Kontrolle. So außer Rand und Band hatten wir UNSERE Oma noch nie erlebt und sollten wir auch nie wieder erleben.

Den ganzen Streit über hatten wir kein einziges Wort verloren. Blicke reichten völlig, um einander voll und ganz zu verstehen.

Tränen kullerten unseren ebenmäßigen Gesichtern herunter. Gesichter, die vom Leben noch nicht gezeichnet waren.

Ich nahm Annas Hände, sie zitterte. Worte waren überflüssig, aber ich hatte ohnehin nicht gewusst, was ich hätte sagen sollen. Hatte ich sie zu trösten? Waren es Tränen der Erleichterung? Ich konnte selbst nicht einmal sagen, warum ich weinte. Ich glaube nicht, dass sie es wusste. Heute denke ich, dass wir beide einfach von unseren Gefühlen übermannt wurden. Oma Erna hatte Recht. Das alles war zu viel für Anna. Aber auch für mich.

Anna und mich hatte diese Nachricht noch mehr miteinander verbunden. Wenn wir vorher nicht schon unzertrennlich gewesen wären, so wären wir es nach diesem Tage. Wir teilten alle Geheimnisse. Sie kannte mich tlw. besser als mich selbst und umgekehrt. Sie wurde nach Oma Erna und noch vor Tom zu einem der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Unter anderen Umständen wäre sie die Erste gewesen, bei welcher ich Rat gesucht hätte, bei wem ich ohne Scheu hätte weinen können. Ja, unter anderen Umständen wäre sie diese Person gewesen.


Auf der Suche nach Wärme

Подняться наверх