Читать книгу Flucht nach vorn - Elva Neges - Страница 10

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Karin und ich sollten erneut einen Bus kaufen und herrichten. Dieses Mal gingen wir sehr ernüchtert an die Sache heran. Auf den Kühlschrank wurde verzichtet.

Ioannis hatte Griechenland verlassen und hielt sich inzwischen in Sète in Südfrankreich auf. Ich sollte mit dem Zug zu ihm fahren, während Karin den Bus alleine fertigstellte. Mit meinen stoppelkurzen Haaren und ein paar schlecht sitzenden Klamotten von Karin fühlte ich mich wie ein Alien unter den unbeschwerten, gepflegten Sommergästen, die auf den Straßen flanierten. Nach dem Desaster mit der Explosion hätte ich nicht gewagt, Ioannis um Geld für Kleidung zu bitten.

Ioannis verfrachtete mich in sein Hotelzimmer und ging indes auf Frauenfang. Besonders abgesehen hatte er es auf ein junges Mädchen, das im gleichen Hotel wohnte wie wir. Er brachte das Mädchen auf unser Zimmer und bedrängte sie hemmungslos. Sie schwankte zwischen geschmeicheltem Erdulden und Widerstand. Dieses Spektakel war nicht nur entwürdigend für mich, noch abstoßender fand ich Ioannis mit seiner lächerlichen Aufdringlichkeit. Ich war schon lange nicht mehr in der Position, etwas zu sagen, aber es reichte mir. Meine innere Rebellin kehrte kurz zurück, und am nächsten Tag stahl ich mich davon und trampte zurück nach M. Hier war ich mit meinem Latein am Ende. Zu Karin zu gehen war gleichbedeutend mit einer Rückkehr zu Ioannis, und sonst gab es niemanden mehr, zu dem ich hätte gehen können. Meine Eltern waren keine Option für mich. Christine wohnte noch zu Hause. Ich war in einer Welt aufgewachsen, in der Armut kein Thema war und wusste nicht, dass es so etwas wie Sozialämter oder karitative Einrichtungen gab. Es war die Zeit vor dem Internet und seinen Informationsmöglichkeiten. Ohne reelle Beziehungen war man wirklich allein. Also irrte ich ohne Geld in der Stadt herum und legte mich in der Nacht auf Parkbänke. Obwohl es Sommer war, waren die Nächte kalt und feucht und eine Menge zwielichtiger Gestalten schlich herum. Nach zwei Tagen war ich zermürbt und ging zu Karin zurück. Ich träumte von Kaffee, Zigaretten und einer Dusche. Als Ioannis anrief und ihm Karin von meiner Rückkehr berichtete, bekam er seltsamerweise keinen Anfall. Er war wohl insgeheim froh, dass ich wieder aufgetaucht war. Aber er wuchtete eine neue Last auf meine Schultern: Er hatte mir in Frankreich Geld mitgeben wollen, damit es sein Bruder für ihn in Silber anlegte. Tatsächlich schoss ab diesem Zeitpunkt der Silberpreis in die Höhe. Und ich hatte Ioannis' Chance auf hohe Gewinne zerstört, weil ich einfach abgehauen war!

Karin hatte inzwischen alles erledigt, und dieses Mal fuhren wir Richtung Algeciras in Südspanien. Ioannis wollte uns in Marokko treffen. Die Stimmung war mau. Wenn wir morgens nach einer Nacht im stickigen Bus aufwachten, fühlten wir uns wie gerädert, und unsere Gesichter waren aufgequollen und zerdrückt. Die Fernfahrer in den Autobahngaststätten glotzten uns mit einer Mischung aus Befremden und Geilheit an. Wahrscheinlich hielten sie uns mit unseren kurzen Haaren für Lesben.

Einmal hatten wir in Frankreich eine Panne und gerieten an eine kleine Autowerkstatt. Einer der KFZ Mechaniker verliebte sich sofort in mich. Er war ein ganz feiner, gebildeter Mensch, der irgendwie gar nicht in eine Autowerkstatt passte. Seine Sanftheit und Freundlichkeit waren wie Balsam für mein Herz. Ich bin mir sicher, dass er mich sofort mit aller Liebe in sein Leben aufgenommen hätte. Warum blieb ich nicht? Ich glaube, es war das altbekannte Gefühl, dass ich ein leeres Versprechen war. Ich war nicht liebenswert und nicht lebenstauglich, und das würde auch er bald merken. Bei Ioannis fand ich Unterschlupf und der Preis dafür waren Angst und Unterordnung. Aber Angst hatte ich schon vorher gehabt. Jetzt war sie auf die Person von Ioannis fokussiert, und das war scheinbar weniger schlimm für mich als meine Sozialphobie, die mir ein normales Leben zu führen unmöglich machte. Meine Angst vor dem Leben war schlichtweg größer als die vor Ioannis.

Warum Karin blieb, weiß ich nicht. Sie hatte ihr Studium geschmissen und wahrscheinlich auch keine Ahnung, wie es weitergehen sollte.

Als wir in Algeciras ankamen, sollte ich vorab alleine nach Marokko kommen und Karin später mit dem Bus folgen. Wir teilten das wenige verbliebene Geld und ich setzte nach Tanger über. Aber kein Taxifahrer konnte mit der Adresse von Ioannis‘ Hotel etwas anfangen. Was sollte ich tun? Damals gab es keine Handys, mein Geld reichte nicht, um die Rückfahrt nach Algeciras zu zahlen, und Französisch sprach ich auch nicht. Ich lief ziellos durch die Stadt, überall wurde ich angequatscht, meist bot man mir mit schwülem Lächeln Haschisch? an, was bei meinem Outfit in pinken Latzhosen nicht verwunderlich war. Nach Stunden sprach mich ein Mann auf Deutsch an. Er trug eine Dschellaba, wirkte aber vom Auftreten her sehr europäisch. Er hatte in Deutschland Tourismus studiert und war in dieser Branche in Tanger angestellt. Er führte mich in sein Büro und recherchierte Ioannis' Adresse. Er betrachtete mich mit zurückhaltendem Interesse und rügte meinen Freund, mich in eine so gefährliche Lage gebracht zu haben. Schließlich hatte er herausgefunden, wo sich das Hotel befand, und brachte mich zu einem Taxi. Nachdem er den Taxifahrer instruiert hatte, verabschiedete er sich respektvoll und ich hoffte, ich konnte ihm meine Dankbarkeit vermitteln.

Ioannis war sichtlich erfreut, mich zu sehen, und verzichtete auf den Habitus des geistigen Lehrers. Ich war erleichtert, dass er nicht in seiner gefährlich angespannten Verfassung war.

Als wir Karin nach ein paar Tagen in Tanger abholten, sah ich zufällig meinen Engel von der Hotelsuche wieder. Ich wagte nicht, ihn in Ioannis' Gegenwart zu grüßen und fühlte mich schrecklich. Außerdem sah ich in seinem Blick eine Einschätzung und ein Urteil über Ioannis, das mich beschämte.

Wir fuhren mit Bus und Motorrad an der Küste entlang südwärts Richtung Agadir. Ich gewöhnte mich schnell an den Verkehr, der keinen Regeln folgte, sondern einfach geschah. Vom Auto aus beobachtete ich das marokkanische Leben, gebadet in Sonne und Staub. Gelassen bewegten sich die Menschen in Lebensbedingungen, die nur in unseren Augen zur Armut wurden. Wir übernachteten am Rande kleiner Weiler, deren wenige Hütten mit Opuntien (eine Kakteen-Art) umfriedet waren. Kinder schauten uns staunend und scheu an. Vor uns das Meer, über uns der samtige, nachtblaue Himmel mit Sternen, die so nah und warm waren. Dazu das gute Haschisch. Aber jede Nacht endete mit meinem Spezialdienst im Bus und das verspannte mich schon Stunden vorher. Und Ioannis' Launen waren wieder unberechenbar. Bloß nichts sagen oder tun, was ihn reizen könnte! Wenn er gewalttätig wurde, war es meine eigene Negativität, die ihn zu ihrem Handlanger machte. Dafür verdiente ich noch mehr von seiner Wut. Oft musste ich mich bei ihm für meine Provokationen entschuldigen, was mich große Überwindung kostete. Ich hatte gelernt, dass es am günstigsten für mich war, während seiner Attacken keine Gefühlsregung zu zeigen. Wenn ich so tat, als sei nichts geschehen, beruhigte er sich am schnellsten.

Wir fuhren bis zur Sahara. Irgendwann durften wir nicht weiter. Das Grenzgebiet vor Mauretanien war Kriegszone. Kurz vor der militärischen Absperrung, in der Nähe von Sidi Ifni, gab es eine Geisterstadt, in der nur der Hausmeister mit seinen zwei Ehefrauen und den gemeinsamen Kindern lebte. Sie bestand aus zweigeschossigen, neuen Ferienhäusern ohne Strom und Wasser. Für Touristen geplant, waren sie nie in Betrieb genommen worden, vielleicht wegen der Nähe zum Kriegsgeschehen. Ioannis mietete eines der Häuser für wenig Geld. Der Hausmeister hatte im Hof seines Hauses einen Brunnen, dort durften Karin und ich unter den feindseligen Blicken seiner Ehefrauen Wasser in unsere Kanister füllen.

Ioannis kaufte Küchenutensilien und Einrichtungsgegenstände für sein geräumiges Zimmer im Obergeschoss. Karin und ich hatten für die untere Etage nur einen Haufen Filzdecken, auf denen wir schliefen und mit denen wir uns zudeckten. Die Kälte der Wüstennächte kroch uns in die Knochen, und während ich klappernd unter den Decken lag, hörte ich hinter mir die Kakerlaken-ähnlichen Käfer mit ihren steinharten Panzern, die sich durch das Gemäuer knusperten. Es gab sie haufenweise und sie schienen dort die einzigen Tiere zu sein. Ich hoffte inständig, dass sie ihren Durchbruch erst nach unserem Auszug schaffen und mich nicht irgendwann im Schlaf überraschen würden.

Im nahegelegenen Dorf gingen Karin und ich einkaufen, unsere einzige Abwechslung, und wurden als solvente Kundinnen sehr respektvoll behandelt. Die marokkanische Schokolade war teuer und köstlich, die Zigaretten spottbillig. Es gab nur Ziegenfleisch, das in von Fliegen bedeckten Stücken von der Decke hing. Ioannis wurde von mir bekocht, er aß immer alleine. Karin und ich stopften irgendetwas in uns hinein, meist Schokolade, und rauchten wie die Schlote.

Irgendwann war die untere Toilette verstopft, wahrscheinlich hatten Karin und ich zu sehr mit dem Wasser gespart, das wir schleppen mussten. Wir trauten uns nicht, Ioannis zu informieren. So verrichteten wir unsere Notdurft in halbierte Trinkwasserflaschen, die wir auf den Müllhaufen hinter dem Haus schmissen. Irgendwann sah ich voller Scham, wie ein armer Fischer in diesem Haufen herumwühlte. Was hat er wohl über die Europäer und ihre Sitten gedacht?

Da ich Ioannis in jeder Hinsicht wie einen Pascha bedienen musste, war ich ziemlich beschäftigt. Karin jedoch vegetierte in ihrem Zimmer vor sich hin und versank immer tiefer in einem Sumpf aus Frustration und schlechter Laune. Ich war direkt erleichtert, als Ioannis sie irgendwann in Agadir ins Flugzeug steckte und nach Hause schickte. Prädikat: untauglich.

Nach ihrem Weggang kam Ioannis noch übler drauf. Sein Experiment „Vierter Weg“ war im Sande der Sahara verlaufen und er behandelte mich, als sei das meine Schuld. Ich war immer froh, wenn er mit dem Motorrad für ein paar Tage verschwand und kam nicht einmal auf den Gedanken, Angst vor einem Überfall zu haben.

Nach mehr als einem Jahr in Marokko bekamen wir plötzlich Besuch von einigen Polizeibeamten. Ihr Anführer, ein ekelhafter, schmieriger Kerl mit tückischem Blick, erklärte uns, dass wir die für Touristen erlaubten drei Monate Aufenthaltserlaubnis längst überschritten hätten und das Land unverzüglich verlassen müssten.

Ioannis schien große Angst vor der marokkanischen Polizei und deren Gefängnissen zu haben und drängte zum sofortigen Aufbruch. Wir warfen nur das Nötigste in den Bus und machten uns auf den Weg nach Tanger, er auf dem Motorrad, ich im Bus. Wie immer hatte Ioannis meinen Pass eingesteckt und mir nur wenig Geld zum Tanken mitgegeben. Wir verabredeten Etappenziele, wo wir uns trafen. Einmal wurde das Auto an einer einsam gelegenen Tankstelle in der wüstenartigen Landschaft offensichtlich falsch betankt, und kurz darauf fing der Bus an zu stottern. Ich kam nur schleppend voran und der Bus schien kurz vor dem Kollaps zu sein. Dann teilte sich die Piste in zwei Sandwege, die sich am unendlichen Horizont verloren. Kein Schild, glühende Sonne und ein Gefährt kurz vor dem Liegenbleiben. Ich stieg aus und sah mich ratlos um. Da kam ein alter Berber auf mich zu. Er erkannte wohl mit einem Blick meine verzweifelte Lage. Mit Gesten beschrieb er mir die Route zu meinem Ziel. Aber gleichzeitig vermittelte er mir mit seinen klugen, wohlmeinenden Augen Sicherheit und Ruhe. Alle Panik fiel von mir ab. Ich war diesem Mann so dankbar. Er wog die Tausende von lüsternen Widerlingen auf, denen ich in Marokko begegnet war.

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Flucht nach vorn

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