Читать книгу Flucht nach vorn - Elva Neges - Страница 13
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Und so entwickelte sich Sophia in einem widersprüchlichen Milieu größter Zuwendung und heftigster Spannungen und war daher einerseits sehr frühreif, aufgeweckt und lernbegierig, konnte aber andererseits nicht alleine bleiben und wachte nachts weiterhin häufig auf. Tagsüber trug ich sie ständig auf dem Arm oder beim Arbeiten in einem Tragesitz vor der Brust. Nur wenn Ioannis nach F. fuhr, entspannte sich die Atmosphäre und ich konnte mich intensiv mit Sophia beschäftigen. Sobald ich hörte, wie der Bus bei Ioannis' Rückkehr vor unseren Fenstern hielt und sein militärischer Stiefelschritt im Innenhof widerhallte, krampfte sich mein Magen zusammen und Sophia begann zu weinen. Ioannis machte mir heftigste Vorwürfe, dass sich Sophia bei seinem Erscheinen nicht freute: Ich würde das Kind gegen ihn beeinflussen und war sowieso eine gefährliche Mutter mit all dem zerstörerischen Potenzial, das ich in mir trug – ich war ein kranker Vampir mit einer zerfressenen Seele, der nicht nur Ioannis aussaugte, sondern jetzt auch noch unser Kind energetisch vergiftete.
Aufgeweicht durch den Stress und die angstbesetzte Liebe zu Sophia begann ich, unter dieser ständigen Gehirnwäsche mir selbst zu misstrauen und fürchtete mich nun auch noch vor meinen eigenen dämonischen Kräften. War ich wirklich eine gefährliche Mutter, vielleicht gefährlicher als Ioannis? Und hatte ich dann überhaupt das Recht, Ioannis zu hassen? Wo lag die Wahrheit? Ich hatte keinen Halt und niemanden, mit dem ich sprechen konnte. Das einzig Beständige war Angst: Angst, dass ich Sophia an eine Krankheit, ein Unglück oder Ioannis verlieren könnte, Angst vor mir selbst, Angst vor Ioannis' Gewalttätigkeit und dem Beischlaf mit ihm. Die unheilschwangere Atmosphäre, die Ioannis verbreitete und die sich jederzeit und an allem entladen konnte, versetzte meinen Körper in permanente Alarmbereitschaft. Ich entwickelte eine heftige Zwangsstörung. Mit tausend rituellen Handlungen, sinnlosem Zählen und dem Hin- und Herrücken von Gegenständen versuchte ich, Unheil von meinem Kind abzuwenden, das ihm von außen oder aus meinem kranken Inneren drohte. Diese Zwangshandlungen, die nie zu einer echten Erleichterung führten, erschöpften mich restlos. Migräne und ein Herpes, der sich über mein halbes Gesicht fraß, waren häufige Gäste meines Körpers.
Die Stimmung wurde immer drückender. Ich hätte Sophia so gerne Ruhe und Geborgenheit geboten, aber das war unmöglich. Ioannis war wie ein Vulkan kurz vor der Eruption. Die Angst vor dem Sex mit ihm wurde unerträglich, denn das gekonnte Heucheln von Lust wurde zu einer Frage des Überlebens. In dieser Zeit erlebte ich zum ersten Mal ein Phänomen, das ich ab da sehr oft beim Sex mit Ioannis erfuhr: Ich spaltete mich von meinem Körper ab. Meist sah ich uns von oben, manchmal auch von der Seite.
Als das Geld definitiv erschöpft war, schickte mich Ioannis zum Sozialamt. Es war das erste Mal, dass ich von solch einer Institution hörte und konnte kaum fassen, dass es hier freundliche Menschen gab, die Sophia und mir Geld zum Wohnen und Leben gaben. Plus Kindergeld.
Aber das reichte natürlich nicht für zwei Wohnungen und Ioannis' Ansprüche, und so begann ich zusätzlich schwarz als Küchenhilfe in einer Metzgerei zu arbeiten. Bevor ich frühmorgens zur Arbeit ging, pumpte ich Milch ab, und Sophia schlief während meiner Abwesenheit die meiste Zeit ruhig neben Ioannis weiter.
Schließlich hatte Ioannis seine Mutter weichgeklopft. Sie gab ihm das Geld für sein Schmuggelprojekt und blieb als Anstandsdame bei mir. Ioannis kaufte als Erstes zwei große Koffer mit stabilen Rahmen, die er in Marokko durch das eingeschweißte, in Form gepresste Haschisch ersetzen wollte. Mit Philos und Mata machte er sich schließlich auf den Weg.
Meine Arbeit als Küchenhilfe war inzwischen beendet, und ich hatte eine Stelle als Haushaltshilfe gefunden. Da Sophia partout nicht bei Yiayia bleiben wollte, erlaubte mir meine nette Chefin, sie mitzubringen. Sophia schaute vom Buggy aus zu, während ich in Akkordgeschwindigkeit saubermachte. Jetzt, wo Ioannis weg war, konnte ich endlich wieder schlafen, fühlte mich ausgeglichener und genoss die Zeit mit meinem Kind. Ich freute mich über Yiayias Gesellschaft. Sie strickte emsig Jäckchen und Söckchen für die Kleine und tat alles Erdenkliche, damit Sophia sich wohl fühlte.
In Marokko wurde der Bus aufgebrochen. Vorne, wo die junge Mata ihr Revier tapfer verteidigt hatte, fehlte nichts. Aber im hinteren Bereich, wo Philos saß, hatten die Diebe alles leergeräumt. Ioannis band den armen Hund daraufhin irgendwo an und ließ ihn einfach zurück. Vielleicht stand hinter dieser ungeheuren Grausamkeit auch die uneingestandene Einsicht, dass Philos genauso wenig der Superhund Gurdjieffs war wie Ioannis selbst an Gurdjieffs Qualitäten heranreichte. Ich machte mir heftige Vorwürfe, den armen Hund damals aus Spanien mitgenommen zu haben.
Als sich Ioannis mit den präparierten Koffern auf den Heimweg begab, hatte Mata grade ihre erste Läufigkeit. Das war für ihn ein großer Glücksfall, denn der Bus wurde von Spürhunden durchsucht, die wegen Matas Wohlgerüchen wie von Sinnen waren und nicht anschlugen.
Ioannis hatte für sein Haschisch eigentlich nur einen Abnehmer, der den Stoff im kleinen Rahmen weitervertickte. Das meiste verrauchte er selbst. Ich durfte nur hin und wieder abends einen Zug nehmen, bevor mich Ioannis benutzte.
Bald bestimmten wieder die ständige Geldnot und Ioannis' Perspektivlosigkeit die Atmosphäre. In unzähligen Nächten gebar Ioannis kiffend ebenso viele realitätsfremde Geschäftsideen, die im nächsten Morgenlicht zu Staub zerfielen.
Mit dem Geld vom Sozialamt, dem Putzen und dem sporadischen Erlös vom Haschischverkauf kamen wir grade so über die Runden, wobei Sophia und ich fast keine Kosten verursachten. Ioannis gab die Wohnung in F. auf. Sie kostete zu viel und bislang hatte er dort weder neue Frauen rekrutiert noch seine Ruhe gefunden.
Dann begann Sophia zu laufen. Es war herzerfrischend, ihr zuzusehen, wie sie dabei voller Begeisterung ihren Holzdackel hinter sich herzog. Aber schon erhob die Hydra ihr nächstes Haupt. Natürlich fiel die Kleine in dieser Zeit ab und zu hin und holte sich eine Beule. Darauf reagierte Ioannis sehr ungehalten: Auch Sophias Stürze waren die Folge meiner dämonischen Negativität. Ebenso wie jede Erkältung oder Unpässlichkeit des Kindes. Irgendwann, nachdem Sophia hingefallen war, drohte mir Ioannis erneut, mit ihr wegzugehen. Das führte dazu, dass ich das arme Kind massiv in seinem Bewegungsdrang einschränkte aus Angst, es könne sich wehtun. Wenn Sophia doch einmal fiel oder sich stieß oder wenn sich eine Krankheit anbahnte, galt mein erster Gedanke perverserweise nicht ihr, sondern Ioannis' Vorhaltungen und den möglichen Konsequenzen.
Yiayia finanzierte auch Ioannis zweite Schmuggeltour. Als er auf der Rückfahrt mit den präparierten Koffern vor der französischen Grenze stand, überkam ihn die Angst. Plötzlich war er überzeugt, geschnappt zu werden. Er erwog, uns zu sich reisen zu lassen, damit ich die Koffer im Zug über die Grenze brachte und setzte auf den Mutter-Kind Faktor. Dieser Gedanke zeigte, wie weit es mit seiner Liebe zu Sophia her war. Das Ganze war eine Schnapsidee, wie sollte ich mit dem Kind auf dem Arm auch noch zwei schwere Koffer schleppen? Ioannis fuhr also von Frankreich mit der Fähre bis Italien und kam von dieser Seite nach Deutschland. Die Italiener nahmen den Bus zwar auseinander, konzentrierten sich aber auf die Karosserie und nicht auf das Gepäck. Das war seine letzte große Schmuggeltour.
Ioannis schmiedete einen neuen Plan. Er wollte nach Indien gehen und dort an seinem inneren Wachstum arbeiten. Er hatte das Gefühl, immer mehr von der Situation erdrückt zu werden und von seiner spirituellen Bestimmung abzuweichen. Ich sollte, mit Yiayia an meiner Seite, genug verdienen, um ihn in Indien ernähren zu können. Außerdem könnte ich ab und zu von dem verbliebenen Haschisch verkaufen. Ich frohlockte hinter steinernem Gesicht. Ich war bereit, wie ein Pferd zu arbeiten, wenn er bloß weg war. Mit Feuereifer stürzte ich mich nach Ioannis' Abreise in die Arbeitssuche. Aber Sophia akzeptierte Yiayia noch immer nicht als Babysitterin, und ich fand keine Arbeit, die mit einem Kind an der Seite möglich schien. Schließlich ließ ich mich dazu überreden, mich als Avon-Vertreterin zu versuchen. Aber noch vor meiner ersten Tour überzeugte mich ein Blick in den Spiegel, dass ich nicht als Repräsentantin für eine gepflegte Erscheinung taugte. Das konnte auch mein schönes Kind nicht kompensieren. Schließlich übernahm ich ein Tageskind, auf das Sophia nicht mit der erhofften Freude reagierte.
Sehr bald zeichnete sich sowieso ab, dass Ioannis in der drückenden Hitze Indiens nichts tat, als seine Zeit in seinem Hotelzimmer abzuliegen. Das führte nicht zur Erleuchtung, aber zum Schmelzen seiner knappen Geldressourcen. Er fühlte sich einsam und verloren und kam unverrichteter Dinge nach einem Monat zurück.
Aus der Traum vom harten, aber freien Leben ohne Ioannis.
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