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Auf der Fahrt zurück war Ioannis wesentlich erträglicher. Jetzt hatte er eine Vorgabe, und das marokkanische Haus spiegelte ihm nicht länger sein Versagen. Wir setzten nach Spanien über, und Ioannis mietete ein bescheidenes Ferienhäuschen am Strand. Er fuhr täglich nach Malaga und nahm seine Jagd auf Frauen wieder auf.

Er war gut gelaunt und ich atmete etwas auf. Dann spürte ich ein Ziehen in meinen Brüsten und wusste sofort, dass ich schwanger war. Erstaunlicherweise wusste ich auch sofort, dass ich das Kind behalten wollte, obwohl mir der Bezug zu Kindern fehlte und ich mich noch nie als künftige Mutter gesehen hatte. Der Schwangerschaftstest fiel positiv aus, und zu meiner Überraschung reagierte auch Ioannis positiv. Es fiel mir leicht, sofort das Rauchen aufzugeben.

Dann eröffnete mir Ioannis, dass wir kaum noch Geld hätten, ich müsse meine Eltern anpumpen. Dieser „Gang nach Canossa“ war mir furchtbar, hatte ich mich doch über ein Jahr nicht bei meiner Familie gemeldet. Und jetzt sollte ich um Geld betteln. Ioannis instruierte mich genau, was ich zu sagen hätte. Ich spulte also das Märchen vom Motorschaden runter, und nach langem Bitten schickten uns meine Eltern Geld.

Inzwischen hatten wir begonnen, einen sehr dünnen, scheinbar herrenlosen Schäferhund zu füttern. Kurz darauf sahen wir ihn in Begleitung einer jungen Frau, der er offensichtlich gehörte. Als wir nun unser Ferienhaus verließen, um Richtung Frankreich zu fahren, fühlten wir uns moralisch dazu berechtigt, den schlecht genährten Hund mitzunehmen. Ioannis nannte ihn „Philos“, nach dem außergewöhnlichen Schäferhund, den Gurdjieff einst besessen hatte.

Kurz nachdem wir losgefahren waren, ergab sich eine schicksalsträchtige Situation: Wir trafen uns zu einer kurzen Rast, und Ioannis machte mir wieder wegen irgendetwas Vorhaltungen. Wir standen uns gegenüber – ich vor dem Bus, er vor seinem Motorrad. Ioannis musste mir wohl angesehen haben, wie genervt und überdrüssig ich seiner war. Er stellte mich ganz ruhig vor die Wahl, ab genau hier meiner eigenen Wege zu gehen. Ich wusste, dass er es in diesem Moment ernst meinte und mich hätte ziehen lassen. In wenigen Sekunden versuchte ich, für mich und das Baby eine Zukunft ohne ihn zu sehen. Hätte es irgendeinen Unterschlupf für uns gegeben, sei es bei Verwandten oder Freunden, oder hätte ich damals schon von der Möglichkeit institutioneller Hilfe gewusst, ich wäre gegangen. Aber mir fiel niemand ein, zu dem ich mit dem Kind hätte gehen können oder wollen, ich fühlte mich vollkommen allein. Meine Eltern waren für mich keine Option.

Und so blieb ich.

Ioannis hatte einen griechischen Freund, der in einem Dorf in der Provence lebte und ein Grundstück im Grünen mit einer Höhle besaß, in der Ioannis mit mir hausen wollte. Sein Freund überließ uns gerne sein abgelegenes Naturrefugium. Die Höhle war ca. fünf Quadratmeter groß. Ein breites Brett diente als Hochbett, in dem Ioannis schlief; ich schlief am Boden auf einem Strohsack. Die Höhle war bevölkert von Skorpionen, die sich in den Ritzen der Felswände versteckten. Ioannis gipste den oberen Teil der Höhle zu, den er selbst bewohnte. Unten tummelten sich weiterhin die Skorpione, aber die machten mir weniger Angst als Ioannis' plötzliche Stimmungswechsel. Oft haderte er mit seinem Schicksal: Das Geld war knapp, und nach M. konnte er nach der Sache mit Solon nicht wieder zurück. Mit meiner Fahnenflucht aus Sète hatte ich einen hohen finanziellen Gewinn für ihn vereitelt und trug schwere Schuld an seiner Lage.

Jeden Nachmittag fuhr Ioannis fort, und irgendwann brachte er eine junge Studentin mit, ein unschuldiges, gutherziges Mädchen, das ich sehr mochte. Sie war auf der spirituellen Suche, und Ioannis hatte sich ihr als Lehrer von Gurdjieffs System empfohlen. Als Ioannis mit ihr ins Bett wollte, weigerte sie sich, zumal sie einen Freund hatte. Aber er ließ nicht locker, bis sie nach zwei Wochen nachgab. Danach war sie verstört und verletzt und verließ uns.

Inzwischen war ich im 6. Monat schwanger. Ioannis zerstritt sich mit seinem Freund. Wir verließen die Höhle und campierten auf wunderschönen, üppig grünen Wiesen. Zwei Wochen später eröffnete mir Ioannis, dass wir vollkommen pleite seien. Ausnahmsweise schob er nicht mir die Verantwortung für unsere Lage in die Schuhe. Sein Plan war, mich zu seiner Mutter nach F. zu schicken. Dort sollte ich unterkommen und seinen Bruder bitten, Ioannis Geld nach Frankreich zu senden.

Wir stellten uns an die Straße, und bald hielten zwei junge Männer, die zwar wie die Irren rasten, mich aber netterweise bis zur Haustür von Ioannis' Mutter brachten.

Ioannis' Mutter, die ich fortan Yiayia (Oma) nannte, war eine kleine, drahtige Frau mit durchdringenden, schwarzen Augen, die unvermittelt sehr hart werden konnten. Aber zu mir war sie freundlich und brachte mich im alten Jugendzimmer von Ioannis‘ Bruder unter. Seit sehr langer Zeit gab es wieder geregelte, gemeinsame Mahlzeiten, doch ich hatte Hemmungen, zuzugreifen. Yiayia wollte in Kürze nach Griechenland zurückkehren und ihrem jüngeren Sohn das Pelzgeschäft vermachen. Trotz der Umzugsvorbereitungen lebte ich hier ohne Stress.

Mit dem Leben, das in mir wuchs, begann auch ich wieder zu leben und bereitete mich eifrig, aber mit naiver Unbedarftheit, auf meine Mutterschaft vor. In der Praxis meines Frauenarztes lagen kostenlose Bücher eines Babynahrungsherstellers für werdende Mütter aus, und nach dieser schmalen Lektüre fühlte ich mich gut gewappnet. Zudem besuchte ich einen Stillkurs, in dem ich die totale Außenseiterin blieb. Aber das hatte auch sein Gutes. So bekam ich all die Sorgen und Horrorgeschichten nicht mit, die sich angehende Mütter gerne erzählen, und ging daher der Geburt völlig angstfrei entgegen. Es sollte eine Hausgeburt sein – mein Kind würde nicht in der kalten Atmosphäre eines Krankenhauses geboren werden.

Als Ioannis mir am Telefon vorschlug, eine Ausbildung als Heilpraktikerin zu beginnen, stimmte ich sofort zu. Dieser Beruf interessierte mich, zumal ich in der Lage sein wollte, für mein Kind finanziell zu sorgen. Wahrscheinlich dachte Ioannis allerdings schon daran, dass ich ihn gleich mit ernähren könnte.

Ich wandte mich, weniger gehemmt durch meine seriösen Absichten, an meine Eltern, und sie waren sofort bereit, meine Ausbildung zu bezahlen. Unverzüglich meldete ich mich bei einem Heilpraktiker-Kolleg an, besuchte die Vorlesungen und lernte. Das Kind in meinem Bauch gab mir dafür den Mut und die Zielstrebigkeit. Alle Fürsorge und Verantwortung, die ich für mich selbst nie hatte aufbringen können, mobilisierte dieses Wesen allein durch seine Präsenz, und angesichts meiner Entschlossenheit, für mein Kind zu sorgen, verblasste sogar meine Sozialphobie.

Ioannis hatte währenddessen von dem Geld seines Bruders in Frankreich gelebt. Das Motorrad hatte er wohl auch verkauft. Ein paar Wochen vor der Geburt kam er mit Philos im Bus zu uns nach F. Die wenigen Tage, bis Yiayia auszog, stritten sie sich ununterbrochen. Ioannis verlangte wieder Geld von seiner Mutter. Als sie sich weigerte, eine größere Summe zu zahlen, musste ich mich erneut an meine Eltern wenden. Aber sie wollten uns kein Bargeld geben, sondern eine Waschmaschine kaufen. Ioannis war empört. Diese Brosamen konnten sie behalten.

Seine Mutter erreichte beim Vermieter, dass die Wohnung an uns überging. Als Yiayia auszog, ließ sie eine fast leere, triste Wohnung zurück, überreichte mir aber eine Minimalausstattung Babykleidung, mit der ich mich reich beschenkt fühlte. Ich selbst lief Tag für Tag in derselben, alten pinkfarbenen Latzhose herum und ließ jeden Monat einen weiteren Knopf offen stehen.

Ioannis stand mit dem Rücken zur Wand. Er hatte keinen Plan und ließ seine Gereiztheit an mir aus. Mein Magen schloss sich wieder, und ich wurde noch dünner.

Ioannis war der Ansicht, Sex während der Schwangerschaft schade dem Kind und bemühte sich daher emsig, Ersatz für mich zu finden. Wenn er keine Frau auftrieb, musste notgedrungen ich herhalten. Aber er hatte wieder öfter Erfolg und schleppte einige Eroberungen an. Ich verstand selbst nicht, warum ich darunter litt, im Nebenzimmer zu liegen und alles mitanzuhören. Einerseits hasste und fürchtete ich Ioannis. Andererseits war er der einzige und damit faktisch der wichtigste Mensch in meinem Leben. Und es war in Ioannis' Interesse, dass das so blieb.

Seit Ioannis' Rückkehr hatte ich aus Zeitmangel aufgehört zu lernen, und außerdem kollidierten die Vorlesungen am Samstag mit seinem Wunsch nach Bedienung. Ioannis quetschte sich in jede Ritze meines Seins und ließ mir kaum Luft zum Atmen. Er hielt mein Hamsterrad Tag und Nacht am Laufen, und während ich lief, nährte er meine Schuldgefühle, indem er mir die Last meiner nichtsnutzigen Existenz vor Augen hielt, die er nun auf seinen Schultern tragen musste, und vertiefte so mein Minderwertigkeitsgefühl durch seine unablässigen Beanstandungen von allem, was ich tat, sagte und dachte. In Kombination mit dem Schlafmangel und der völligen sozialen Isolation die perfekten Rahmenbedingungen für eine Gehirnwäsche. Und trotzdem bewahrte ich mir einen geheimen Raum für mich selbst, in dem ich mich ihm entgegenstellte, ihn stumm kritisierte und seine eigene Unfähigkeit, Gewalttätigkeit und brutalen Egoismus anprangerte.

Zum Service für Ioannis gehörten auch stundenlange Massagen seiner verspannten Schultern, während ich seinen langatmigen Exkursen über esoterische Fragen oder Lösungsmöglichkeiten unseres existentiellen Dilemmas zuhören musste, die sich bis zum Morgengrauen hinzogen. Außerdem hatte ich begonnen, recht erfolgreich für einen Weinhändler Telefonakquise zu betreiben, wann immer etwas Zeit dafür übrig blieb.

Während eines Gespräches blickte ich auf und sah Ioannis direkt an und warf ihn mit meinem Blick unbeabsichtigt buchstäblich auf den Rücken. Er schnappte nach Luft und war sichtlich beeindruckt, regelrecht verschreckt, im Gegensatz zu mir, die ich das Geschehen gar nicht wirklich realisierte. Vielleicht erahnte Ioannis schon Jahrzehnte früher als ich eine Kraft in mir, die er mit allen Mitteln erschöpfen und kleinzuhalten suchte.

Der Geburtstermin rückte näher, und ich machte eine Hebamme ausfindig. In einem luziden Moment dachte ich mir, dass nur ein blitzblank geputztes Bad die Dürftigkeit unserer Einrichtung kompensieren könne. Tatsächlich ging die Hebamme bei ihrem Besuch als Erstes auf unsere Toilette. Sie war eine ältere, mit Armut vertraute Frau und willigte ein, die Hausgeburt zu begleiten. Sie gab mir auch den Tipp, die Babywäsche in einem großen Topf zu kochen, als sie sah, dass wir keine Waschmaschine besaßen.

Ioannis bat seine Mutter, aus Griechenland zu kommen, um mir mit Rat und Tat beizustehen. Kaum war sie gelandet, bedrängte Ioannis sie ununterbrochen mit Geldforderungen. Sie gab ihm eine Menge, aber es war ihm nie genug.

Als die Wehen einsetzten und sich in schnellem Tempo steigerten, rief ich die Hebamme. Da wir nur Matratzen besaßen, legte ich mich zur Untersuchung auf einen Tisch, den wir ins Wohnzimmer gestellt hatten. Schon Minuten später schoss das Baby schreiend, mit vorgestrecktem Arm und geballter Faust, wie Superwoman aus mir heraus. Das kleine Mädchen war gesund und hatte erstaunlicherweise meine hellen Farben mitbekommen.

Bald hielt ich sie in meinen Armen. Vorsichtig, ehrfürchtig und voller Sorge, diesem winzigen, kostbaren Wesen ungewollt Schaden zuzufügen. Wir nannten sie Sophia, unsere kleine Göttin der Weisheit.

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Flucht nach vorn

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