Читать книгу Flucht nach vorn - Elva Neges - Страница 9
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Ioannis steckte in einer Sackgasse. Ihm war sicher inzwischen klar, dass ich ihn nicht liebte. Er selbst war nur liebesfähig, wenn ein Wesen so schwach war, dass es ihm nicht gefährlich werden konnte. Immer fürchtete er, Verletzbarkeit zu zeigen und sich dadurch auszuliefern. Je wichtiger ich ihm wurde, desto mehr Angst vor Nähe hatte er, und desto mehr musste er mich beherrschen und kontrollieren.
Gleichzeitig waren wir uns an einem Punkt in seinem Leben begegnet, an dem er nicht wirklich weiterwusste. Das Studentenleben war vorbei, seine Freunde etabliert und das Arbeitsamt begann Druck zu machen. Er brauchte eine Perspektive. Niemals hätte er sich in ein Arbeitsverhältnis einfügen können, mit seiner Überempfindlichkeit und seinem Jähzorn. Er konnte keine Form von Kritik und Unterordnung ertragen. Und für eine Selbstständigkeit fehlte ihm der Fleiß. Ioannis sah das natürlich anders. Er hatte besondere Qualitäten – die eines Weltverbesserers. Von seinem Selbstverständnis her blieb ihm nur der höhere Dienst an der Entwicklung der Menschen und ihres Bewusstseins.
Er fokussierte sich auf das System Gurdjieffs und Ouspenskys, zwei esoterischen Lehrern, die strikte Forderungen an ihre Schüler stellten. Ouspenskys Buch Auf der Suche nach dem Wunderbaren war der Einstieg zu Gurdjieffs Ideen und dem Vierten Weg. Laut Gurdjieff besitzt der Mensch weder Einheit, Bewusstsein noch Willen. Wie eine Maschine reagiert er unwillkürlich auf innere und äußere Impulse. Der gewöhnliche Mensch schläft und lebt in einer subjektiven Traumwelt, die geprägt ist von negativen Gefühlen und Gedanken. Der Mensch muss sich durch Überanstrengungen und Selbstbeobachtung von seiner Negativität und seinen Automatismen befreien, um bewusst zu werden. Dafür braucht er über Jahre einen Lehrer, der ihn fordert und führt und dem er sich bedingungslos unterwirft.
Ich fand die Ausführungen Gurdjieffs durchaus plausibel – dass mit mir und anderen etwas nicht stimmte, war ja unbestreitbar. Nachdem ich das Buch gelesen hatte, sprach Ioannis ausführlich mit mir darüber.
Und dann kam Ioannis' Geniestreich. Er fragte mich feierlich, ob ich seine Schülerin werden wollte. Ich fühlte mich unter Druck gesetzt, da ich Ioannis nicht für einen geistigen Lehrer hielt. Aber mir fiel nichts ein, um Nein zu sagen. Also sagte ich Ja und fühlte mich in meinem seltsamen Pflichtbewusstsein an diese Zusage gebunden.
Mit diesem Wechsel von der Freundin zur Schülerin saß ich komplett in der Falle. Mit dem Status des Lehrers besaß Ioannis uneingeschränkte Macht, und als Lehrer konnte er sich alles herausnehmen, besaß er doch per definitionem höhere Einsicht. Gerade ich, die ich Autoritäten nie hatte anerkennen wollen, sollte bald zu einer Leibeigenen werden.
Ioannis' Lebensplan sah vor, eine Gruppe von Schülern und Schülerinnen um sich zu sammeln und dann ein Gurdjieff-Ouspensky-Zentrum in Griechenland zu eröffnen. Als Erstes schleppte er seine Ex-Affäre Karin an. Sie studierte irgendetwas und ging mir mit ihrer trägen, eitlen Art sofort auf die Nerven. Karin war immer noch scharf auf Ioannis und bereit, unter dem Vorzeichen Schülerin Ideen, und vor allem das Bett mit uns zu teilen. Ioannis taufte mich Astro ( griechisch: Stern) und Karin Ra. Diese Namensgebung fand ich lächerlich und erinnerte mich an Sekten. Aber mein neuer Name zeigte, welche Hoffnungen Ioannis mit mir verband. Ich war nicht begeistert von der Situation, denn auch wenn ich innerlich vereist war, hatte ich doch ein Ego und das rebellierte, wenn Ioannis mit Karin im selben Zimmer schlief. Von Karin verlangte er keine Showeinlagen und begnügte sich mit ihrer wenig expressiven, aber echten Lust.
Doch Eifersucht war Ausdruck des kleinen Ichs, das sterben musste, damit das große Ich geboren werden konnte, erklärte uns Ioannis. Das war ab nun sein Freischein, um auch in meiner Gegenwart ganz unverblümt jede Frau anzubaggern, die ihm halbwegs attraktiv erschien. Natürlich hatten Karin und ich nicht Ioannis' Seins-Ebene, um ebenfalls sexuelle Ungebundenheit praktizieren zu können. Wir lebten zu unserem eigenen Wohlergehen monogam. Mich konnte er damit nicht überzeugen, aber als Schülerin war mein Recht auf Widerspruch verwirkt. Unser Status als Schülerinnen zeigte sich auch darin, dass wir ununterbrochen kritisiert wurden. Ständig stellte Ioannis Forderungen und ständig versagten wir. Anerkennung wurde so selten wie gute Laune unseres Lehrers, denn auch Ioannis schien in seiner neuen Rolle nicht wirklich glücklich, und seine sympathischen Facetten zeigten sich nur noch selten.
Meine Freundin Christine, letzter Kontakt zu meinem alten Leben und inzwischen verlobt, kam mich zum ersten Mal in M. besuchen. Ioannis bedrängte sie schamlos. Ich weiß nicht, was für sie schlimmer war: seine Penetranz oder die Tatsache, dass ich wie ein geprügelter Hund daneben saß und nicht eingriff.
Auch Christine sollte ich viele Jahre nicht mehr sehen.
Ioannis hatte jetzt zwei Schülerinnen als Kernzelle, es fehlte nur noch das Startkapital. Karin leierte ihrem Vater Geld aus der Tasche, und Ioannis versuchte, dieses Kapital im Casino zu multiplizieren. Die höheren Mächte mussten seinem Vorhaben doch wohlgesonnen sein und ihn mit einem fetten Gewinn unterstützen. Aber als das Geld immer mehr dahinschwand, war klar, dass hier etwas schieflief. Es waren wohl Karins negative Vibrationen, die Ioannis' Erfolg torpedierten. Karin fiel in Ungnade und wurde mit Sexentzug bestraft.
Zu dieser Zeit machte auch das Arbeitsamt verstärkt Probleme. Ioannis hatte einige Termine versäumt und die Zahlungen waren eingestellt worden. Aber Ioannis erfand eine hanebüchene Lügengeschichte, die durch Meineide von Karin und mir rechtlich unantastbar wurden, und holte damit sogar eine lohnende Nachzahlung vom Arbeitsamt heraus.
Doch das waren keine Summen, mit denen Ioannis seine Visionen verwirklichen konnte. Und er zog eine richtig linke Nummer ab: Er ließ von einem Goldschmied Barren aus irgendeinem Metall mit Gold überziehen. Diese verkaufte er dann an Solon, einen befreundeten griechischen Restaurantbesitzer, als kompakte Goldbarren zum Schnäppchenpreis. Ich weiß nicht, welche Story Ioannis Solon erzählte, auf jeden Fall missbrauchte er ein zwölf Jahre lang gewachsenes Vertrauen und prellte Solon um eine große Menge Geld. Als Rechtfertigung führte er an, dass Solon inzwischen Kapitalist geworden sei und sogar an der Börse spekuliere.
Nun musste Ioannis schnell verschwinden, bevor die ganze Sache aufflog. Sein Plan sah vor, dass er auf der Harley Davidson nach Griechenland vorfuhr und Karin und ich mit einem VW Bus nachkämen. Er ließ uns Geld da, um einen Bus zu kaufen und ihn campinggerecht einzurichten.
Bevor er losfuhr, rasierte er Karin und mir die Köpfe. Dies diene dem Kampf gegen unsere Eitelkeit, sagte er. Später erst wurde mir klar, dass er mich damit von anderen Männern fernhalten wollte. Wegen Karin war er nicht eifersüchtig. Schon bald hatte ich gemerkt, dass er nur mit ihr schlief, um sie wortwörtlich bei der Stange zu halten. Ich litt furchtbar unter meiner Glatze und fand mich unglaublich hässlich. Karin dagegen trug ihren markanten Schädel mit bewundernswerter Selbstsicherheit zur Schau.
Ioannis stellte seine persönlichen Sachen in Karins Keller unter, die sich mit ihrem Bruder eine enge 2-Zimmer-Wohnung teilte. Ich zog bei Karin ein. Mit ihr zusammenzuwohnen war nervend. Ich mochte sie einfach nicht. Ihr Bruder ließ sich nicht einmal von meiner Glatze abschrecken. Ständig platzte er in unser Zimmer, oft hatte er nur ein langes T-Shirt an und nichts drunter.
Von zwei Hippies kauften Karin und ich einen gebrauchten VW-Bus. Ich war so naiv zu glauben, alle Hippies seien anständig. Mit gewissem Enthusiasmus und viel Fantasie machten wir den Bus wohnlich. Wir ließen auch einen gasbetriebenen Kühlschrank einbauen.
Karin und ich kamen uns in dieser Zeit ein bisschen näher. Nur die Telefonate mit Ioannis waren unerfreulich. Über jeden unserer Schritte mussten wir Rechenschaft ablegen, alles wurde kritisiert, wir schienen nur Fehler zu machen, und ich war froh, dass Karin meistens mit Ioannis sprach; sie nahm seine Ausbrüche ziemlich gelassen hin.
Dann ging es los Richtung Griechenland. Der Bus zog extrem schlecht, und kurz vor München gab der Motor seinen Geist auf. Mir schwante, dass das Kichern der beiden Hippies nicht vom Kiffen gekommen war. Ich war froh, dass Karin Ioannis diese Hiobsbotschaft telefonisch überbrachte. Wir mussten ein paar Tage im Bus auf den Ersatzmotor warten und lernten in dieser Zeit zwei lockere Globetrotter kennen. Ich genoss es, Ioannis seine Doppelmoral heimzuzahlen, indem ich mit dem attraktiveren der beiden in die Kiste stieg. Karin würde schweigen. Ioannis' Wut hätte auch sie getroffen. Außerdem verstanden wir uns während dieser Reise recht gut.
Schließlich kamen wir in Athen an. Ioannis war extrem angespannt. Dieses Land schien irgendetwas in ihm anzutriggern. Er fühlte sich von jedem Griechen in einen Ego-Kampf verwickelt und gebärdete sich vor allem im Straßenverkehr wie ein Wahnsinniger. Unzählige Male wollte er sich mit einem verdutzten Autofahrer prügeln, aber zum Glück ging keiner darauf ein.
In der ersten Nacht im Hotel versuchte ich für ein wenig Heiterkeit zu sorgen und erzählte von Karins unmöglichem, exhibitionistischen Bruder. Doch Ioannis fand das gar nicht lustig. Wie hatte ich das zulassen können? Zum ersten Mal prügelte er mich grün und blau. Karin verfiel in Schreckstarre. Am nächsten Morgen war ich so verheult und verbeult, dass ich kaum aus den Augen gucken konnte. Wir drei Kahlköpfe sorgten schon ohne die Spuren von Gewalt in meinem Gesicht für Aufsehen, und ich schämte mich furchtbar.
Seit jenem Abend begann ich Ioannis' Eifersucht zusehends zu fürchten. Sie wuchs mit der Dauer unserer Beziehung. Bald traute ich mich nicht mehr, einem Mann nur in die Augen zu sehen, wenn Ioannis dabei war. Ich fand diese Befangenheit so erschöpfend, dass ich mir manchmal eine Burka wünschte, nur um seinem Dauerverdacht zu entrinnen.
Nach jener Nacht in Athen, in der eine Grenze unwiderruflich überschritten worden war, wurden Schläge zu einem festen Bestandteil der Beziehung zwischen Ioannis und mir. Je größer seine innere Anspannung, desto gefährlicher war er. Bald reagierte ich wie ein Seismograph auf seine Stimmungen, die ohne Vorwarnung umschlagen konnten. Aber alle Vorsicht konnte mich nur bedingt vor Schlägen schützen. Einen Mangel an Aufmerksamkeit oder zur Schau getragenen Respekt konnte ich noch weitestgehend vermeiden. Aber in der Regel waren mir seine Ausbrüche völlig unverständlich. Ein angeblich provokanter Blick, eine angeblich absichtliche Ungeschicklichkeit, ein angeblich abwertendes Wort reichten für ein blaues Auge, einen Tritt oder einen Gegenstand, der mir an den Kopf geworfen wurde. Einmal rammte mir Ioannis eine Gabel in die Hand, ohne dass ich mich überhaupt geregt hätte. Dabei spürte ich deutlich, dass er sich meist noch beherrschte und nur einen Teil seiner Wut herausließ. Wenn ihm dies nicht gelang, wurde es übel.
Vor Ioannis' Wut entwickelte ich eine Angst, die ich schwer hätte erklären können. Körperliche Schmerzen machten mir ja eigentlich nicht viel aus und ich war deshalb auch nicht feige, was Gefahren anging. Die Angst vor Ioannis ging jedoch tiefer als die Angst vor Schmerzen, es war eher wie eine Todespanik. Dieser wahnsinnige Hass während seiner Gewaltausbrüche schien aus einem bodenlosen Höllenschlund emporzusteigen. Und ich wusste instinktiv, dass Widerstand während seiner Gewaltausbrüche nur zwei Optionen zuließ: ihn bewegungsunfähig zu schlagen und unauffindbar zu fliehen oder selbst schwerst verletzt oder getötet zu werden.
Parallel zu seiner Gewalt unterminierte er jeden Widerstand bei mir auch durch grausamen Spott und Bloßstellung. Damit katapultierte er mich zurück in den hilflosen Zustand meiner vorpubertären Zeit: das gebrochene Mädchen, das die Hoffnung auf Liebe und Lebensfreude aufgegeben hatte.
Die Zentrumsgründung war plötzlich kein Thema mehr. Karin und ich hinterfragten nicht, warum. Ioannis zog sich mit uns erst mal in das großzügige Ferienhaus seines Bruders auf Korfu zurück.
Dort unternahm er seine üblichen Jagdausflüge auf Frauen, scheinbar ohne Erfolg. Es war eine öde Zeit, für Karin noch mehr als für mich. Ioannis war ihrer schon so überdrüssig, dass er gar keine Zeit mehr mit ihr verbringen wollte und sie nur in ihrem Zimmer vor sich hinbrütete. Irgendwann schickte er Karin vorläufig mit dem Flieger nach Hause mit der Begründung, sie sei zu negativ. Negativität war sowieso sein Lieblingsstempel. Dieser dämonische Zustand in uns schien nur darauf zu lauern, Ioannis' hehre Absichten zu boykottieren. Und da uns dieser Zustand so unbewusst war wie fast alles andere auch, gab es keine Berufung gegen sein Urteil.
Nach Karins Weggang war Ioannis erleichtert. Wahrscheinlich hatte ihm die Konstellation mit Karin seine Ratlosigkeit als geistiger Lehrer unangenehm vor Augen geführt. Er wollte mit mir Ferien auf der Insel Kefalonia machen und mit Motorrad und Bus kamen wir dort an. Während Ioannis im Café saß, sollte ich den Kühlschrank im Bus anschließen. Doch das Verbindungsrohr zur Gasflasche war defekt und beim Anzünden gab es eine riesige Stichflamme. In null Komma nichts fing das Innere des Autos Feuer. Ich sprang aus dem Bus und sah unter Schock zu, wie unsere Habe restlos verbrannte, bis schließlich der Bus explodierte. Nur sein Geld und seine Papiere trug Ioannis bei sich.
Ich musste mich vor einem griechischen Gericht verantworten, da ich Menschenleben gefährdet hatte. Ich wurde jedoch freigesprochen und flog nach Deutschland zurück, zu Karin. Mein gesamtes Gepäck bestand aus meinem provisorischen Reisepass.
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