Читать книгу Flucht nach vorn - Elva Neges - Страница 8
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Er fiel mir auf im Strom der Menge: Braungebrannt, kahlrasiert und exotisch mit entrücktem Blick wie ein Mönch aus fernen Landen, lief er leichtfüßig zwischen den Menschen und gehörte doch nicht zu ihnen. Es ging eine intensive, außergewöhnliche Ausstrahlung von ihm aus. Hochgewachsen und sehr schlank war er, und doch muskulös und voller Vitalität. Seine Kleidung und sein indischer Schmuck waren gleichzeitig alternativ und exklusiv.
Wie ein Sonnenstrahl durchbrach seine abgehobene Geistigkeit die dicke Hornhaut um mein Herz und öffnete eine Tür zu einer mir bis dahin unbekannten Ebene. Unwillkürlich musste ich lächeln. Doch sobald er mich bemerkte, verwandelte sich sein Blick auf erschreckende Weise in den eines versierten Jägers und zielstrebig kam er auf mich zu. Da war nichts mehr von seiner vorherigen Reinheit. Die Tür in mir fiel so schnell zu, wie sie sich geöffnet hatte, und ab da erschien er mir nur noch wie ein gewöhnlicher Mann mit gewöhnlichen Absichten.
Ich hatte seinem forschen Auftreten nichts entgegenzusetzen. Er war ein anderes Kaliber als die jungen Männer, mit denen ich bislang zu tun gehabt hatte. Mühelos überrannte er meinen Widerstand und zwängte mir eine Verabredung auf, die ich nicht wollte. So sympathisch er mir beim ersten Blick gewesen war, so abstoßend empfand ich jetzt seine durchtrainierte Anmache-Tour. Es war mein letzter Tag als Rosen-Verteilerin, und ich machte früher Feierabend, um ihm zu entkommen. Auf Seitenstraßen lief ich nach Hause und ihm geradewegs in die Arme. Ertappt ließ ich mich in die nächste Kneipe mitziehen.
Ioannis erzählte mir, dass er grade von einer langen, spirituell motivierten Reise nach Indien zurückgekehrt sei, die ihn sehr geläutert habe. Aber ich spürte bei ihm nur den Wunsch, mich flachzulegen. Und nach ein paar Bieren war ich bereit zu tun, was ich schon so oft getan hatte.
Doch Ioannis wollte mehr als einen One-Night-Stand. Und ich blieb, weil es in meinem Leben keinen Grund gab, zu gehen. Schon bald begann er, mich ins Vertrauen zu ziehen und mir aus seinem Leben zu erzählen.
Ioannis‘ Mutter hatte seinen Vater an der Uni von Thessaloniki kennengelernt. Sie studierte Jura, was in den 40iger Jahren für eine griechische Frau sehr ungewöhnlich war, zumal sie aus einfachen Verhältnissen stammte. Ioannis‘ Vater verliebte sich in die puppenhaft schöne, kleine Frau und sie heiratete ihn, auch wenn das das Ende ihres Studiums bedeutete. Sie war jetzt Hausfrau und bald auch werdende Mutter. Nach einer schweren Schwangerschaft und noch schwereren Geburt kam Ioannis halbtot zur Welt und blieb lange Zeit kränklich. Ioannis' Vater liebte seinen Erstgeborenen und stellte ihn über alles. Bald bekam Ioannis einen kleinen Bruder, auf den er sehr eifersüchtig war. Die Mutter schloss den Bruder ins Herz, vielleicht grade, weil der Vater Ioannis so vergötterte.
Aber mit seiner Ehefrau bekam der Vater zusehends Probleme. Sein männliches Ego litt unter ihrem Durchsetzungswillen und scharfen Verstand. Als Ioannis sechs Jahre alt war, nahm sich der Vater eine Geliebte. Aber statt, wie es damals von einer griechischen Ehefrau erwartet wurde, zu Kreuze zu kriechen und den Vater zu beschwören, bei ihr zu bleiben, machte sich ihr verletzter Stolz in dramatischen Szenen Luft. Bald prügelte der Vater seine Frau blutig und diese gab die Prügel an Ioannis, Papas Liebling, weiter.
Der Vater ließ die Familie schließlich ohne Geld hinter sich. Damit war Ioannis' Mutter in einer verzweifelten Lage, denn es gab keine vermögenden Verwandten und Arbeit zu finden war schwer. Sie brachte den kleinen Bruder zu ihrer Mutter, doch Ioannis landete bei der Schwiegermutter, die schizophren und unberechenbar war. Oft sperrte sie Ioannis in der Wohnung ein und kam erst Tage später zurück. Dann wieder gab sie ihm nichts zu essen und zwang ihn zu rauchen. Zudem wurde Ioannis regelmäßig von einem männlichen Verwandten sexuell missbraucht. Ioannis hasste seine Mutter. In seinen Augen hatte sie ihn für ihren Stolz geopfert. Und er war tief enttäuscht von seinem Vater, der ihn plötzlich von sehr weit oben hatte fallen lassen.
Zermürbt von schlecht bezahlter Arbeit und sexuellen Übergriffen der Chefs, hoffte Ioannis' Mutter schließlich durch die Heirat mit einem scheinbar wohlhabenden Geschäftsmann, für ihre Söhne und sich sorgen zu können. Nach der Trauung stellte sich jedoch schnell heraus, dass der neue Gatte hochverschuldet war, so hoch, dass das Ehepaar vor seinen Gläubigern nach Deutschland fliehen musste. Ioannis und sein Bruder kamen ins Internat, das ihr Vater finanzieren sollte. Dieser wählte die billigste Einrichtung, direkt an der albanischen Grenze, und dort gab es reichlich Kälte, Schläge und Hunger. Nach Ioannis' Abitur konnten die beiden endlich ihrer Mutter nach Deutschland folgen.
Diese hatte sich inzwischen mit unendlicher Willenskraft und verbissenem Fleiß von einer schlecht bezahlten Pelznäherin zur Besitzerin eines Pelzgeschäftes in F. hochgearbeitet, das zunehmend expandierte. Ihren nichtsnutzigen Ehemann musste sie mit durchfüttern. Alle seine Kinder ließ sie ohne sein Wissen abtreiben, wenn sie alleine nach Griechenland flog, um angeblich ihre Verwandten zu besuchen – bei Frauen, die auch vor Abtreibungen im sechsten Monat nicht zurückschreckten.
Ioannis' Bruder zog zu Mutter und Stiefvater und er selbst begann in M. Soziologie und Philosophie zu studieren.
Als ich Ioannis kennenlernte, war er dreiunddreißig, hatte seinen Doktor cum laude in Soziologie längst gemacht und lag immer noch seiner Mutter und dem Arbeitsamt auf der Tasche, wodurch er unbeschwert leben konnte. Mit Geld ging er stets ostentativ großspurig um. Seine Mutter hatte ihm auch die Harley Davidson finanziert, mit der er ausgedehnte Reisen vor allem in Nordafrika unternommen hatte. Ab und zu flog er nach Indien und schmuggelte im Innenfutter seiner schweren Lederstiefel das beste Haschisch ins Land, das ich je geraucht hatte. Er brüstete sich damit, in M. mindestens 1000 Frauen flachgelegt zu haben. Damals gab es noch keine arabische Migrantenwelle und keinen fundamentalistischen Terror – Ioannis' eher orientalische als griechische Erscheinung wirkte ungewöhnlich und anziehend auf Frauen in Verbindung mit seinem forschen Auftreten und seiner Sprachgewandtheit und Bildung. Nur zu Beginn seiner Karriere als Don Juan hatte er ein einziges Mal eine längere Beziehung, die der Vater der jungen Frau jedoch boykottierte.
Ioannis verfügte über ein beeindruckendes Allgemeinwissen und war in vielen Bereichen sehr beschlagen. Zudem meditierte er schon seit Jahren, nahm Privatunterricht bei einem Karatelehrer, versenkte sich im Zen-Ritual der Teezubereitung und in Literatur über unterschiedlichste Richtungen zur Bewusstseinsentwicklung. Ioannis hatte zweifelsfrei eine spirituelle Ausrichtung, aber seine sexuelle Zwanghaftigkeit diskreditierte ihn in meinen Augen von Beginn an.
Ioannis hielt mir nächtelange Vorträge, und die Themen reichten von den Sozialanalysen Marcuses bis zu den großen griechischen und deutschen Philosophen. Dazu hörten wir Frank Zappa und rauchten einen Joint nach dem anderen. Ich war von seinen Monologen, dem stundenlangen Sex und dem starken Haschisch so benebelt, dass ich oft tagelang nicht seine Wohnung verließ. Aber ich verstand mich als emanzipierte Frau und wollte eigenes Geld verdienen. So begann ich noch einmal einen Job als Packerin. Nach der anstrengenden Arbeit konnte ich mich kaum auf den Beinen halten. Ioannis überredete mich, zu ihm zu ziehen, mein kleines Zimmer in der Innenstadt aufzugeben und vom Zuschuss meiner Eltern zu leben.
In den ersten drei Monaten bemühte sich Ioannis sehr um mich.Trotz seines sexuellen Machismus beeindruckte ihn offensichtlich gerade meine Intelligenz. Auch im Bett versuchte er noch freundlich, meinen Körper zu erwecken. Und er war wirklich verliebt. Viele Jahre danach las ich erstaunt die Briefe, die er mir geschrieben hatte. Diese Worte stammten von meinem späteren Folterknecht?
Für Ioannis hatte ich viele Vorzüge: Jugend, Schönheit und intellektuellen Hunger in Kombination mit Lebensuntauglichkeit und Ziellosigkeit. Und niemanden, der sich um mich kümmerte. Kein wachender Vater, keine fürsorgliche Mutter. Vogelfrei und wie geschaffen, um von ihm geformt zu werden. Meine Minderwertigkeitsgefühle, Unreife und leicht zu weckenden Schuldgefühle waren perfekte Hebel, um mich zu manipulieren.
Dass es Ioannis ernst war, spürte ich daran, wie viel er mir aus seinem Leben erzählte. Und dass er – ganz bürgerlich, ich war erstaunt und unangenehm berührt – meine Eltern kennenlernen wollte. Mein Vater zeigte sich beeindruckt von seiner Bildung, meine Mutter flirtete mit ihm, und Ioannis ging geschmeichelt darauf ein. Aber die Sympathie meiner Eltern für Ioannis währte nicht lange. Er schaffte es, sich mit jedem zu überwerfen. Auch mit meiner Schwester, die uns ein paarmal besuchte. Sie erzählte meinen Eltern, dass Ioannis ein Drogendealer sei und sie ihn für einen gewaltbereiten Menschen hielt, aber das bewegte meine Eltern zu keiner Reaktion.
Ioannis war stolz auf mich. Er führte mich bei seinen griechischen Freunden vor wie eine wertvolle Araberstute, mit der er mich auch oft verglich. Ich hingegen war im Kreise dieser Männer verschüchtert und fühlte mich ihren politischen Diskussionen nicht gewachsen, obwohl ich schon damals erkannte, dass sie alle Stammtischrevoluzzer waren, die es sich längst in festen Positionen bequem gemacht hatten. Aber ich musste seine Freunde nicht oft ertragen. Nachdem mich alle gesehen hatten, ließ mich Ioannis zu Hause, wenn er ausging. Das war mir recht. Ich war froh, für ein paar Stunden meine Ruhe zu haben.
Ioannis' theoretisches Erziehungsprogramm fiel auf fruchtbaren Boden: Endlich lernte ich jemanden kennen, der in großen Zusammenhängen dachte, anderes im Sinn hatte als Karriere und kleines persönliches Glück, und der bereit war, sich über gesellschaftliche Normen hinwegzusetzen. Seine anarchistisch gefärbten politischen und soziologischen Exkurse gaben meiner diffusen, antibürgerlichen Haltung eine ideologische Basis. Er postulierte hohe soziale und ethische Ideale und wiedererweckte damit in mir meinen verschütteten und rein verkopften Anspruch an mich selbst: ein moralisch integrer Mensch zu sein.
Ioannis wollte sein Leben in den Dienst der spirituellen Entwicklung der Menschen stellen. Das wollte er tatsächlich, und es schien ihm nicht aufzufallen, wie sehr dieser Wunsch in krassem Widerspruch zu seiner obsessiven und Frauen benutzenden Sexualität und seinem übermächtigen Ego stand. Für mich machte ihn diese Diskrepanz als wirklich höherstehenden Menschen unglaubwürdig, auch wenn er mir wissens- und erfahrungsmäßig haushoch überlegen war. Seinen Lebensstil jedoch fand ich konsequent und einladend. Seine Bereitschaft zu kriminellen Handlungen entsprach meiner Lust am Risiko. Er reiste viel und nahm sich die Freiheit zu leben, wie er wollte. Seine Weigerung zu arbeiten begründete er damit, dass man in einem kapitalistischen System immer entweder ausbeutete oder ausgebeutet wurde.
Ein Leben lang ließ er andere für sich arbeiten, aber das begriff ich damals noch nicht.
Nach dem weltanschaulichen Basisunterricht drehten sich seine Reden zusehends um spirituelle Themen. Es war das erste Mal, dass ich mit Esoterik in Berührung kam. Zuerst ließ mich Ioannis Carlos Castaneda lesen, und natürlich sprachen dessen schamanische und drogeninduzierte Erlebnisse meinen Hunger nach Abenteuer an. Unter Ioannis' Führung warf ich einige Mescalin- und LSD-Trips, um mein Bewusstsein zu erweitern. In den Horrortrips, die daraus resultierten, sandte mir mein Unterbewusstsein bezüglich Ioannis klare Botschaften.
Ioannis bot mir ein Koordinatensystem für mein Leben, aber ich war nicht in ihn verliebt. Er gefiel mir nicht einmal als Mann. Mich stießen seine rasierte Glatze, sein Dschingis Khan-Schnurrbart und seine übertrieben virile Körpersprache ab.
Schlussendlich war es die fatale Entsprechung unserer komplementären neurotischen Strukturen, die uns aneinander band. Und bald würde er für uns eine Parallelwelt erschaffen, in der wir beide einen Platz fanden. Denn sozial kompatibel war er genauso wenig wie ich.
Nach drei Monaten unternahmen wir eine gemeinsame Reise nach Marokko. Schon am Flughaffen erlebte ich Ioannis als extrem angespannt und seine Anspannung wuchs noch, als wir in Marokko ankamen. Er schien sich von jedem angegriffen zu fühlen, auch von mir, obwohl ich nur unbehaglich neben ihm herschlich. Wir bestiegen ein Taxi, das uns zu Hassan, einem alten Fischer, bringen sollte, der mit seiner Frau an einem einsamen Strand in der Nähe von Tetouan lebte. Hassans Sohn arbeitete im Haschischgeschäft und Ioannis kannte beide von früheren Reisen.
Das Taxi fädelte sich in den chaotischen Verkehrsfluss von Tanger ein, und es vergingen keine fünf Minuten, als der Motorroller mit zwei jungen Männern ohne Helm vor uns auf ein Auto auffuhr. Wir sahen etwas durch die Luft fliegen – es war eine menschliche Schädeldecke. Inzwischen kannte ich schon Ioannis' Gläubigkeit an Omen – dass das kein gutes war, lag auf der Hand. In bedrücktem, angespanntem Schweigen fuhren wir weiter. Hassan empfing uns freundlich in seiner bescheidenen Hütte und unterhielt sich angeregt mit Ioannis auf Französisch, während seine Frau auf dem Gaskocher einen Eintopf für die solventen Gäste zubereitete.
Am nächsten Tag schlugen wir am anderen Ende der Bucht unser Lager auf, das aus einer große Plane bestand, die wir über die Felsen spannten. Hassans Sohn versorgte uns mit Haschisch, und Ioannis benutzte es wie ein Psychopharmakon gegen die innere Anspannung, die ihn fast ständig unter Strom setzte. Zwischen den Zeilen hatte ich bisweilen seine Angst vor dem Wahnsinn herausgehört. Damals wusste ich noch nichts über eine genetische Disposition zur Schizophrenie.
Wir waren ganz alleine am Strand, doch Urlaubsstimmung wollte nicht aufkommen. Ioannis war extrem angespannt, kalt und latent aggressiv und belauerte mich voller Misstrauen. Ich glaubte, irgendetwas falsch zu machen, verstand aber nicht, was. Einmal lag Ioannis beim Beischlaf über mir und wurde plötzlich wütend, weil ich keine Erregung empfand. Er knallte sein Schambein mit voller Wucht auf meines – dieser Schmerz war so stark, dass er meine übliche Taubheit durchbrach. Ich sah einen Abgrund in seinen Augen, der mir Todesangst einjagte. Diese Angst blieb ab da mein treuer Begleiter. Unvermittelt war ich in einem Psychothriller gelandet und wagte keine Widerrede. Ab da sparte sich Ioannis jede Zärtlichkeit, und ich gab mir größte Mühe, Erregung zu heucheln, um weiteren Attacken zu entgehen.
Ioannis hatte das Geld und unsere Pässe an einem mir unbekannten Ort vor möglichen Dieben versteckt. Nun saß ich ohne Französischkenntnisse in der marokkanischen Pampa fest und musste irgendwie diesen Urlaub überstehen, um dann in Deutschland das Weite suchen zu können. Ioannis wurde zusehends herrisch und gereizt. Plötzlich sollte ich ihn bedienen. Und es war etwas an ihm, dem ich mich nicht zu widersetzen wagte.
Eines Abends regnete es sehr stark und langanhaltend. Plötzlich begannen Asseln unter dem Rand der Plane zu uns ins Trockene zu krabbeln, bis bald der ganze Boden in mehreren Lagen von ihren gräulichen Leibern bedeckt war. Es war wie in einem Horrorfilm, und wir kauerten die ganze Nacht voller Entsetzen auf einem Felsvorsprung. Als der Morgen graute, verschwand der Spuk so schnell, wie er begonnen hatte. Wie auf ein geheimes Zeichen verließen die Asseln unseren Unterschlupf. Aber wir waren bedient. Wir packten unsere Sachen, mieteten ein Auto und fuhren südwärts. Ioannis wollte mir Marrakesch zeigen.
Zu Beginn der Fahrt hielten wir an einer einsamen Stelle und gingen hinunter zum Strand. Beim Zurückkehren kletterten wir eine steile Böschung hoch. Ich schaffte das ohne Probleme, aber Ioannis rutschte mit seinen Stiefeln immer wieder ab. Das empfand er wohl als demütigend, und als wir wieder im Auto saßen, verlangte er von mir zu singen – er kannte meine große Singhemmung. Bei Verweigerung wollte er mich aussetzen und den Marokkanern überlassen. Ich sang und hasste ihn dafür auf meine stumpfe Art, während Ioannis befriedigt grinste. Den Rest der Fahrt habe ich nur nebulös in Erinnerung, auch die Schönheit Marrakeschs. Tagsüber war Ioannis so geladen, dass ich mich wie neben einer tickenden Bombe fühlte. Dann kamen die furchtbaren Nächte, wo ich alles gab, um ihn zu überzeugen. Er musste doch wissen, dass ich ihm etwas vorspielte. Aber er wollte sich wohl täuschen lassen, ich musste nur gut genug sein.
Marokko – neben mir ein Irrer, um mich herum lüsterne Araber. Ich war heilfroh, als diese drei Wochen endlich vorbei waren. Auch Ioannis schien erleichtert. Schon am Flughafen begann die Verwandlung. Sein harter, misstrauischer Blick verschwand, er war lustig und freundlich und verhielt sich, als hätten wir eine harmonische Zeit zusammen verlebt.
Aber für mich war der Albtraum viel zu frisch. Ich trennte mich von Ioannis und zog in das Zimmer meiner verreisten Schwester. Es ging mir schlecht, ich fühlte mich schwach und würgte immer wieder Galle aus meinem leeren Magen. Ioannis kreuzte ständig auf und beteuerte mir seine Liebe. Er bedrängte mich, zu ihm zurückzukommen, und versprach, sich um mich zu kümmern. Einerseits war ich genervt von seiner zermürbenden Penetranz, andererseits war es tröstlich, dass es überhaupt einen Menschen gab, der sich für mich interessierte. Völlig abgemagert und zu schwach, um nach draußen zu gehen, hätte ich unbemerkt sterben können. Ich fühlte mich so elend und allein, und schließlich willigte ich ein, zu ihm zurückzukommen. Aber ich wurde immer schwächer. Statt sich um mich zu kümmern, unterstellte mir Ioannis psychosomatischen Widerstand gegen ihn. Das tat er auch, wenn meine Vagina so wund war, dass ich kaum noch laufen konnte. Ich schnitt dilettantisch an meinen Pulsadern herum, aber Ioannis lachte nur.
Schließlich setzte er mich in den Zug und schickte mich wie ein versehrtes Paket nach Hause. Meine Mutter, sonst nicht zimperlich, erschrak bei meinem Anblick und brachte mich sofort zum Arzt. Meine Leberwerte lagen bei über 1000, ich hatte mir wohl in Marokko durch Lebensmittel eine Hepatitis A zugezogen und stand kurz vor dem Leberkoma.
Ioannis besuchte mich in der Quarantänestation des Krankenhauses, sichtlich bestürzt, dass ich nicht simuliert hatte. Er quoll über vor Liebesbeteuerungen und beglückte mich in der Wäschekammer des Krankenhauses. Zumindest musste ich hier leise sein.
Ansonsten fand ich es schön im Krankenhaus. Die zwei mütterlichen, älteren Krankenschwestern und auch die Ärzte waren so fürsorglich und freundlich zu mir, zumal ich keine Junkie-Hepatitis hatte wie die anderen Kranken, die wie Gespenster durch die Gänge geisterten.
Nach vier Wochen wurde Ioannis das Warten zu lang. Er könne sich in M. besser um mich kümmern als das Krankenhauspersonal, begründete er meine Entführung. Ich wäre gerne geblieben. Aber offensichtlich hatte ich schon zu diesem Zeitpunkt vor Ioannis walzenartiger Dominanz resigniert. Meine Mutter kochte vor Wut. Von seiner eigenen Mutter ließ sich Ioannis den angeblichen Gallenstein eines Bären besorgen. Jeden Tag musste ich etwas davon abreiben und mit Zitrone schlucken. Ioannis Bereitschaft zur Krankenpflege war damit erschöpft.
Es war bei mir an der Tagesordnung, dass ich mich ständig verletzte und an Gegenständen anstieß, ohne es zu bemerken. Ich sah immer mit Überraschung die vielen Blutergüsse an meinem Körper. Meist spürte ich auch kein Hungergefühl, und wenn doch, fühlte ich mich gehemmt, von Ioannis' Lebensmitteln zu nehmen. Die Atmosphäre, die Ioannis verbreitete, schnürte mir noch zusätzlich den Magen zu. Er beschuldigte mich, meinen Körper zu sabotieren, um ihn zu sabotieren. Deshalb sagte ich auch nichts, als ich mir eines Tages den siedenden Inhalt eines ganzen Wasserkochers über meinen Fuß goss. Ich zog schnell Strümpfe über und behielt sie drei Tage an. Meine Schwester besuchte mich während Ioannis' Abwesenheit und rettete mich dadurch vor der Invalidität. Als ich die Socken auszog, war mein Fuß vom Eiter dick angeschwollen, meine Zehen sahen aus wie Würstchen kurz vor dem Platzen und die Haut meines Fußrückens klebte im Strumpf. Ich hatte keinen Schmerz gespürt. Entsetzt schleppte mich meine Schwester ins Krankenhaus. Wenige Stunden später hätte mein Fuß amputiert werden müssen.
Ich weiß nicht mehr, warum, aber ich sollte meine Schwester über 20 Jahre nicht wiedersehen.
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