Читать книгу Flucht nach vorn - Elva Neges - Страница 12

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Die ganze Nacht trug ich Sophia herum wie eine chinesische Vase. Jeder Handgriff war ungewohnt und mit der Furcht verbunden, etwas falsch zu machen. Am Morgen schlief die Kleine endlich neben mir ein. Ioannis brachte mir tatsächlich ein Frühstück ans Bett! Aber als ich das halbrohe Ei mit wenig Begeisterung betrachtete, bereute er seine Geste sofort. Ab da scheuchte er mich herum wie eh und je und machte deutlich, dass ich als Mutter auf keine Sonderrechte zu hoffen brauchte.

Da Sophia sofort zu weinen begann, wenn ich sie ablegte, versuchte ich mit dem Baby auf dem Arm Sophias Bedürfnissen und Ioannis' Ansprüchen gerecht zu werden. Yiayia konnte mir keine große Hilfe sein. Schon nach wenigen Tagen wurde sie von Ioannis bezichtigt, die Kleine mit dem bösen Blick belegt zu haben. Empört reiste sie nach Griechenland zurück.

Dass Sophia unruhig war, wunderte nicht. Zu der äußeren Unruhe kam meine innere Getriebenheit. Trotz meiner Müdigkeit fühlte ich mich ständig hektisch, so, als ob all mein innerer Aufruhr und meine unterdrückten natürlichen Impulse sich in motorische Energie übersetzten. Zu der Angst vor Ioannis‘ Gewaltausbrüchen gesellte sich jetzt die Angst um Sophia – sie war so klein und zart und schien so verletzlich.

Dagegen wirkte Ioannis wie ein ruhender Pol. Wenn er Sophia gemächlichen Schrittes umhertrug, ihr griechische Kinderlieder vorsang und sie gurrend mit Kosenamen überhäufte, entspannte sie sich meist sofort. Er erschien mir auf eine Weise zärtlich, wie ich es noch nie in meinem Leben kennengelernt hatte. Neben ihm fühlte ich mich unbeholfen, gehemmt und ungenügend in meinem Umgang mit Sophia. Dadurch wurde mein Verhältnis zu Ioannis zusehends widersprüchlich. Neben meinem heimlichen Widerstand gegen ihn bekam ich das Gefühl, Ioannis zu brauchen, damit Sophia alles erhielt, was sie für eine gesunde Entwicklung benötigte. Ich begriff damals noch nicht, dass die Liebe eines Menschen wie Ioannis immer nur zerstörerisch sein konnte.

Aber es war nicht nur der Vergleich mit ihrem Vater, durch den ich mich als Mutter so ungenügend fühlte. Sophia war so kostbar, so wunderbar, und ich spürte eine riesige Kluft zwischen ihrem und meinem eigenen Wert. Das war für mich einfach eine Tatsache. Ich liebte Sophia und war dankbar und glücklich, ihr dienen zu dürfen mit allem, was ich zu geben vermochte. Und wenn das, was ich zu geben hatte, von keiner hohen Qualität war, dann war ich bereit, diesen Mangel durch Anstrengung zu kompensieren.

Für Ioannis gab es jetzt endlich einen Menschen, dem er gefahrlos sein Herz öffnen konnte. An der Art, wie er mit Sophia umging, konnte man erahnen, wie viel Liebe er in seiner Kindheit erhalten hatte, bevor er als vergötterter Prinz vom Thron gestoßen wurde. Genau wie ich entwickelte er eine übergroße Vorsicht um Sophias Wohlergehen, und das verband mich mit ihm. Wenn er einmal freundlich und umgänglich mit mir war, verspürte ich sogar ein schlechtes Gewissen wegen meiner heimlichen Gefühle ihm gegenüber. Aber wie bei allem hörte sein Engagement für Sophia da auf, wo seine Bequemlichkeit und sein Eigeninteresse begannen. Er kümmerte sich um die Kleine, wenn er Lust und Laune hatte. Anstrengung und Arbeit gehörten in mein Ressort.

Und davon gab es genug. Ständig ersann Ioannis Verhaltensregeln, um meinen Umgang mit Sophia zu optimieren. Ein großer Teil betraf die Ausschaltung meiner angeblichen negativen Einflüsse auf das Kind. Da ich mir meiner permanenten sorgenvollen Gedanken um Sophia und meiner inneren Anspannung leidvoll bewusst war, vermochte ich seinem Denkansatz nichts entgegenzusetzen. Ich versuchte also getreulich, seine Anweisungen im Umgang mit Sophia zu befolgen. Aber dieses Bemühen war dazu verurteilt, immer mit einem Gefühl der Unzulänglichkeit zu scheitern. Da ich weiter mit Ioannis bis zum Morgengrauen aufbleiben musste, sehr bald aber mein Alltag mit dem Baby begann und Sophia wenig und mit vielen Unterbrechungen schlief, schienen meine Kraft und Zeit nie zu reichen. Ich sollte zweimal täglich meditieren, bestimmte esoterische Werke lesen, griechische Worte lernen und sie Sophia vorsprechen, klassische Musik auflegen und vieles mehr. Dazu kam, dass ich sehr darauf bedacht war, unseren kümmerlichen Haushalt so gemütlich und sauber wie möglich zu halten. Dieses Bedürfnis entsprang sicher dem Wunsch, zumindest einen Bereich kontrollieren und positiv beeinflussen zu können, wo schon alles andere so unberechenbar und chaotisch war. Um all das zu bewältigen, lernte ich, ungeheuer schnell und effizient zu arbeiten, was meine innere Hektik noch verstärkte. Chronischer Schlafmangel und Erschöpfung wurden mir so selbstverständlich wie mein Atem.

Wenn Sophia unruhig war und weinte, fühlte ich mich schlecht, weil ich einfach nicht in der Lage war, ein positiver und bewusster Mensch zu sein. Genauso unbewusst wie die Menschen draußen, die ich jetzt auf eine andere Weise als früher zu fürchten begann. Ioannis' großes Misstrauen gegen Menschen drückte sich unter anderem in seiner Befürchtung aus, dass Sophia durch den bösen Blick verhext werden könnte. Ich übernahm diese Angst, und so wurden die Außengänge mit dem Kind zu einer Verfolgungsjagd. Überall lauerte die Gefahr hinter all den neugierigen Gesichtern, die sich über den Kinderwagen beugen wollten.

Manchmal, vor allem, wenn meine Erschöpfung übermächtig war, überwog mein Hass auf Ioannis. Er hatte gut reden. Ausgeschlafen und ausgeruht ließ sich leicht an anderen herummeckern. Was tat er denn Sinnvolles, außer zu philosophieren und Ansprüche zu stellen, die er selbst nicht erfüllte? Und war es ein Wunder, dass das Kind unruhig war, wenn ich ständig hin- und herflitzen musste?

Nach zwei Monaten entschied Ioannis, dass F. kein geeignetes Ambiente für ein Baby sei. Ich sollte mit Sophia aufs Land ziehen. Er selbst wollte die Wohnung in F. behalten – er brauchte seinen Freiraum zur Selbstverwirklichung und wollte sich nicht auf einen Familienvater reduzieren lassen. Und natürlich brauchte er ein ungestörtes Liebesnest für seine Eroberungen. Ich jubelte innerlich über diesen Plan.

In dieser Zeit kaufte Ioannis einen junge Schäferhündin namens Mata aus dem Privatwurf eines Wachmanns, der seine Schäferhunde „die Menschenfresser“ nannte. Ioannis behandelte die Hunde freundlich und gewaltlos, vor allem die kleine Mata schloss er sehr ins Herz. Aber es sollte sich noch zeigen, zu welcher Grausamkeit er auch ihnen gegenüber fähig war.

Bald fand Ioannis in der Zeitung eine günstige Altbauwohnung in einem nahegelegenen Dorf. Die Vermieter im Obergeschoss und die Familie im Nachbarhaus hatten auch kleine Kinder und teilten sich einen Spielplatz im Innenhof. Ich sah Sophia schon lachend mit einem Haufen Kinder über den Spielplatz toben.

Wir wurden schnell handelseinig, und zu meiner großen Freude ließ unsere Vormieterin gegen eine geringe Abstandssumme die Kücheneinrichtung und eine große Holzkommode zurück und schenkte mir überdies zwei riesige Säcke gebrauchte Kinderkleidung. Sophia war längst aus ihren vier Strampelanzügen herausgewachsen, und wir zehrten von dieser Spende zwei Jahre lang. Die neue Wohnung würde zwar fast leer, aber hell und freundlich sein. Ich freute mich auf erholsame Zeiten mit meinem Kind, in denen ich ausgeschlafen gewissenhaft alles richtig machen wollte.

Sophia wurde mit jedem Tag entzückender. Ihr kleines Gesicht war so schön und der kluge, oft ernste Blick gab ihm eine Tiefe, der in rührendem Gegensatz zu den süßen, prallen Stillbäckchen stand. Ich konnte einfach nicht fassen, dass ein menschliches Wesen so liebreizend und vollkommen sein konnte.

Aber Ioannis kam öfter und blieb länger als erhofft. Und seine Laune wurde immer düsterer. Er sah keinen Weg für sich, und wir hatten wieder mal kein Geld. Einschränkung war für Ioannis allerdings keine Option. Er bestand auf gutem Essen, reichlich Haschisch und qualitativ hochwertiger Kleidung. Der Hauch der Armut war ihm unerträglich. Seltsamerweise störte es ihn überhaupt nicht, dass ich wie eine Bettlerin herumlief.

Nacht für Nacht feilte Ioannis an seinem Plan, eine größere Menge Haschisch aus Marokko nach Deutschland zu schmuggeln. Das erschien ihm die einzig gängige Lösung zur Geldbeschaffung zu sein.

Aber für diese Unternehmung brauchte er Startkapital. Erneut sollte ich meine Eltern anpumpen und wurde dafür gedrillt wie ein Soldat. Ioannis fühlte sich moralisch berechtigt, von meinen Eltern Geld zu verlangen – sie hatten aus mir eine kaputte Selbstmordkandidatin gemacht, um die er sich jetzt kümmern musste. Man konnte meine Rolle eigentlich auf einen übersichtlichen Nenner bringen: Ich war an allem Schuld. An seiner Geldnot, daran, dass er keine Schüler fand, dass er in einer familienähnlichen Konstellation festsaß, die er nie gewollt hatte und die er nur Sophia zuliebe ertrug. Ich war auch schuld, wenn Sophia eine Erkältung bekam, der Lottoschein keinen Gewinn abwarf oder der Bus kaputt ging. Für mich machte es wenig Unterschied, ob diese Vorwürfe berechtigt waren oder nicht: Der Haussegen hing noch schiefer, und ich musste alles Erdenkliche zur Wiedergutmachung tun, was offensichtlich unmöglich war. Jeder Tag häufte neue Sündenfälle auf meinen Saldo.

Ich machte mich mit Sophia auf dem Arm und einer Batterie Argumente im mentalen Gepäck schweren Herzens auf den Weg zu meinen Eltern. Ich war so erzogen worden, dass man um nichts bat, vor allem nicht um Geld. Der Empfang war wenig freundlich, und als klar war, dass es wieder um Geld ging, wurden Sophia und ich postwendend mitten in der Nacht rausgeschmissen. Als ich unverrichteter Dinge zu Ioannis zurückkehrte, tobte er.

In dieser extrem aufgeladenen Atmosphäre wurde Sophia noch unruhiger. Nachts schlief sie selten mal eine Stunde am Stück. Das führte nicht zuletzt dazu, dass Ioannis seinen stundenlangen Beischlaf nicht zu Ende führen konnte. Und nichts machte ihn unerträglicher.

Die ständigen Beischlafgeräusche hatten bald unsere Vermieter und alle angrenzenden Nachbarn gegen uns aufgebracht. Ioannis reagierte mit Beleidigungen und Verhöhnen der deutschen Weicheier und ihrer unbefriedigten Frauen. Offene Feindseligkeit brandete uns von allen Seiten entgegen. Vorbei der Traum, Sophia unter vielen Kindern aufwachsen zu sehen.

Während Ioannis ab und zu das Weite suchte und nach F. fuhr, saß ich mit Sophia in diesem Dorf fest. Und es waren nicht nur die Nachbarn, die mich schnitten. Mit Ioannis ausrangiertem, von Motten zerfressenem Pelzmantel, hohlwangig und abgerissen, als Braut eines obskuren Ausländers, heimste ich nicht viel Sympathie ein. Für mich war der Zustand, völlig isoliert zu sein, bereits selbstverständlich. Mein ganzes Dasein war wie ein dunkles Geheimnis, das ich mir nicht einmal selbst erklären konnte. Selbst Christine oder meinen Bruder, die einzigen sporadischen Kontakte aus meiner Vergangenheit, wagte ich nicht über meine wahren Lebensumstände ins Vertrauen zu ziehen.

Wenn Ioannis bei uns war, blieb ich Tag und Nacht eingespannt. Je schlechter er sich fühlte, desto mehr Aufmerksamkeit und Versorgung beanspruchte er. Ich war bald so müde und zerschlagen, dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte.

Als mir Ioannis irgendwann wieder einmal meine Unbewusstheit und Unzulänglichkeit vorhielt, gaben meine strapazierten Nerven nach und mir platzte der Kragen. Ich schleuderte ihm meine ganze Verachtung ins Gesicht. Seltsamerweise blieb Ioannis ganz ruhig. Er sagte nur kalt: „Du kannst gehen. Aber das Kind bleibt bei mir. Wenn du es mitnimmst, ich finde euch. Verlass dich drauf.“

Ich war vor Entsetzen wie gelähmt. Dieses Szenario existierte bislang nicht in meinem Kopf. Genauso schlimm wie die Vorstellung, Sophia zu verlieren, war die Vorstellung, sie mit ihrem Vater allein zu wissen. Jetzt, wo ich alle Arbeit erledigte, war Ioannis' Verhalten zu Sophia liebevoll. Aber er war kein Mensch, der regelmäßig Pflichten nachzukommen bereit war, und er duldete keinen Widerspruch. Es war überhaupt nicht abzusehen, wozu Ioannis fähig war, wenn ihm alles zu viel wurde. Nein, das durfte niemals, niemals geschehen. Mit dieser Möglichkeit, dass Ioannis einfach mit Sophia verschwinden könnte, vielleicht nach Indien oder Marokko, unauffindbar und auf Nimmerwiedersehen, hatte er einen Albtraum ins Leben gerufen, der mir die Luft zum Atmen raubte. Der Gedanke daran erzeugte eine solche Panik in mir, dass ich mich nicht einmal fragte, wovon er dann hätte leben wollen. Diese Angst war ungleich mächtiger als die Angst vor seinen Launen und Schlägen. Und mit dieser Option machte er sich zur schlimmsten Bedrohung, die ich mir vorstellen konnte.

Seit es Sophia gab, fühlte ich mich dem Leben gewachsen und brauchte Ioannis' Parallelwelt nicht mehr. Aber wer konnte mir helfen und zu wem hätte ich mit Sophia fliehen sollen? Wer hätte sich einem Menschen wie Ioannis in den Weg stellen können? Selbst wenn ich zu meinen Eltern ein besseres Verhältnis gehabt hätte, hätten sie in ihrem gutbürgerlichen Vertrauen auf gesellschaftliche Instanzen Ioannis, der zu allem bereit war, nichts entgegensetzen können. Auch mein Bruder oder Christine wären einer Konfrontation mit Ioannis nicht gewachsen gewesen. Ioannis selbst hatte mir erzählt, wie er früher seinem Onkel bei der Entführung von dessen Kindern geholfen hatte – und wie viele Nasen von Menschen, die sich mit ihm angelegt hatten, er schon gebrochen hatte. Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass er uns finden und mir das Kind wegnehmen würde. Ich begann an Kurzatmigkeit zu leiden.

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Flucht nach vorn

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