Читать книгу Flucht nach vorn - Elva Neges - Страница 7

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Ich war ein süßes, sonniges Kind und keiner hätte damals vermutet, dass ich zum schwarzen Schaf der Familie werden würde.

Mein heiteres Naturell und meine früh verinnerlichte Genügsamkeit machten mich auch zu einem einfachen Kind und so gelangte ich in die Gunst meiner oft unzufriedenen Mutter, die ich aufs Innigste liebte und verehrte. Sie schenkte mir mehr ihrer etwas distanzierten Zuneigung als meinem kleinen Bruder und meiner älteren Schwester.

Meine Mutter, zutiefst traumatisiert von der Nachkriegszeit, besaß keinen Glucken-Instinkt, und auf der materiellen Ebene erlebten wir Kinder einen Zustand des Mangels, der nichts mit unserer finanziellen familiären Situation zu tun hatte. Wir kamen gar nicht auf den Gedanken, mehr zu fordern. Aber dafür genossen wir sehr große Freiheiten. Meine Schwester und ich trieben uns bei Wind und Wetter draußen herum, und keiner scherte sich um die ständigen Blessuren, die wir bei unseren oft gefährlichen Abenteuern sammelten. Ich liebte aber auch die beschaulichen Zeiten, in denen ich Friedhöfe für Hummeln und Spielplätze für Mäuse anlegte oder beim Malen meine überbordende Fantasie zu Papier brachte.

Mein Vater glänzte vor allem durch Abwesenheit und Wutausbrüche, die mich sehr ängstigten. Getrieben von dem Komplex, aus dem Schatten seines eigenen Vaters herauszutreten, erschöpfte er all seine Lebenskraft für seine Karriere, die ihn steil nach oben führte. Alle Welt bewunderte meinen gutaussehenden, fähigen Vater mit seinem gewinnenden Charme. Nur für seine Familie blieb einfach keine Energie mehr übrig.

Das Elend begann mit meinem Wechsel aufs Gymnasium. Die neue Schule verunsicherte mich. Vor allem meine Mitschülerinnen, denen ich mich von Anfang an unterlegen fühlte. Obwohl wir der gleichen sozialen Schicht entsprangen, waren diese behüteten Kinder im Gegensatz zu mir in das Selbstverständnis sozialer und materieller Privilegien des gehobenen Mittelstandes hineingewachsen. Und nicht nur ihr gepflegtes Outfit überzeugte mich, dass sie scheinbar etwas besaßen, das mir fehlte. Ich fühlte mich in der neuen Klasse nackt und schutzlos und fand keinen Anschluss.

Auch zu Hause war ich jetzt allein. Meine pubertierende Schwester verlor das Interesse an mir. Meine geliebte Mutter streifte ihre Rolle als Elternteil weitestgehend ab, stürzte sich in Tierschutzaktivitäten und war kaum noch zu Hause. Dass es in meinem Leben keinen einzigen Menschen gab, der an mir Interesse zeigte, überzeugte mich von meiner totalen Minderwertigkeit. Ein vages, aber tiefes Grundgefühl von Schuld und Scham breitete sich in mir aus, als ob sich an der Schwelle zur Pubertät eine Tür zu Abgründen geöffnet hätte, die mit meinem kurzen Leben nichts zu tun haben konnten. Ich fühlte mich vom Leben abgeschnitten und unendlich einsam.

Aber statt mich mit der Zeit an die neue Schule zu gewöhnen, wurde es immer schlimmer. Meine Unsicherheit nahm phobische Ausmaße an. Wurde ich aufgerufen oder sah mich jemand an, errötete ich und war vor Verlegenheit wie gelähmt. Ich fürchtete mich vor jedem neuen Schultag, bekam Schlafstörungen und sehnte mich nach dem Tod. Auch mein Körper begann sich zu verändern, und ich fühlte mich plump und hässlich. Es waren furchtbare, einsame Jahre und mein Herz begann sich zu verschließen. Eine stetig wachsende Eisschicht legte sich um meine Gefühle. Als Christine in unsere Klasse kam und aus mir unerfindlichen Gründen meine Freundschaft suchte, konnte das jedoch meinen inneren Erfrierungsprozess nicht mehr aufhalten.

Bald schoss mein Körper in die Höhe, wurde schlank und wohlgeformt, und eine Kraft in mir begann sich Bahn zu brechen, der ich nur staunend zusehen konnte. Sie peitschte mich ins Leben, soweit das mit meiner Sozialphobie vereinbar war. Ich begann mich zu schminken, auszugehen und mit Jungs rumzumachen und ersetzte Essen durch Rauchen und Trinken. Wunderbar enthemmt durch Alkohol wurden die dämmrigen Kneipen und Discos zu einer Welt, in der ich mich entspannen und meinen Lebenshunger stillen konnte. Und ich hatte plötzlich Freundinnen, die mich bewunderten.

Ich distanzierte mich nicht nur zusehends von meinen Eltern, sondern verlor generell den Respekt vor Autoritäten und gesellschaftlichen Normen. Ich setzte mich über geschriebene und ungeschriebene Gesetze hinweg und glänzte durch provokante Umgangsformen und ein dazu passendes Erscheinungsbild. Meine Selbstentfremdung führte zu einer Angstlosigkeit und Risikobereitschaft, die andere als Mut auslegten. Aber grade dieser Ruf von Coolness, der mir endlich Anerkennung und Zugehörigkeit einbrachte, potenzierte meinen Leidensdruck. Um ihm gerecht zu bleiben, musste ich alle Situationen vermeiden, in denen ich ins Zentrum der Aufmerksamkeit vieler Personen geriet und mit rotem Kopf in sprachloser Hilflosigkeit erstarrte. Ich hatte keine Ahnung, dass es für diese Form der Sozialphobie einen Namen, Erythrophobie, gab und wähnte mich als einzige Vertreterin dieses absolut peinlichen Phänomens, das mir wie ein psychisches Gebrechen erschien.

Nüchtern und bei Tageslicht war die Angst vor der Blamage mein ständiger Begleiter und folgte meinem lässigen Auftreten wie ein übermächtiger Schatten. Aber das Gefühl, eine wandelnde Lüge zu sein, ging tiefer. Ohne Schminke fühlte ich mich hässlich. Meine wachsende Unfähigkeit, etwas intensiv zu fühlen, außer Angst, überzeugte mich vollends, ein psychischer Krüppel zu sein. Ich versteckte mein ungeschminktes, peinliches, nacktes Selbst, für das ich mich so abgrundtief schämte, ganz tief im Keller meiner Seele, und irgendwann spürte ich seine Einsamkeit und Traurigkeit nicht mehr und verlor vollends die Fähigkeit, überhaupt etwas körperlich und emotional zu empfinden, sowohl für mich als auch für andere. Ich traktierte meine Unterarme mit dem elektrischen Küchenmesser, weil ich Narben verwegen fand, und meine häufigen Unfälle schienen einem fremden Körper zuzustoßen. Meine emotionale Gefühllosigkeit versuchte ich durch die intensive Beschäftigung mit Ethik und Idealen zu kompensieren, denn aus irgendeiner Tiefe meines Seins kam der Wunsch, ein guter Mensch zu sein. Über den Mangel an Empathie empfand ich Schuldgefühle, vor allem meinen nahen Freundinnen gegenüber, die ich mit meinem gespielten Interesse an ihren Problemen täuschte. Über meine eigenen Probleme sprach ich mit niemandem, diese Blöße hätte ich mir niemals gegeben. Ich war der festen Überzeugung, dass sich jeder, dem ich meine Schwäche gestand, von mir abwenden würde.

Aber zumindest nachts fühlte ich mich wohl, und so war diese Zeit zwischen vierzehn und siebzehn eine vergleichsweise glückliche. Jeden Abend schlich ich mich davon und machte Party. Ich lernte, in der Schule mit offenen Augen zu dösen. Und ich spürte die seltsame Verpflichtung, mit jedem Mann, der sich um mich bemühte, ins Bett zu gehen. Und das ohne jeden Lustgewinn für mich. Es schien, als ob meine Daseinsberechtigung von meiner sexuellen Verfügbarkeit abhinge, aber ich kam damals gar nicht auf den Gedanken, diesen seltsamen Zwang zu hinterfragen. Zu meinem Glück waren die jungen Männer um mich herum meist viel zu wohlerzogen, um sich mit mir einzulassen.

Dann lernte ich meinen ersten festen Freund kennen. Er ertrug meine Eskapaden und Lieblosigkeiten und stärkte mir den Rücken gegen meine Eltern. Nachdem meine Schwester mein Sexabenteuer im elterlichen Ehebett gepetzt hatte, behandelten mich meine Eltern wie eine Aussätzige. Mein Vater sprach drei Jahre lang kein einziges Wort mit mir. Meine Eltern hatten meine Verzweiflung und Verrohung geflissentlich übersehen und nahmen sich jetzt das Recht, mich zu verachten? Ich hasste meine Mutter genauso tief, wie ich sie früher geliebt hatte. Und die ganze bürgerliche Bagage, mit der sich meine Eltern umgaben, hasste ich auch, diese Horde klüngelnder Hyänen, die jeden zerrissen, der eine Blöße zeigte. Ich klaute meine Kleider, trank die herrenlosen Biere an der Theke und klaubte Kippen vom Trottoir, damit ich meine Eltern nicht um Geld bitten musste.

Nach zwei Jahren langweilte ich mich mit meinem Freund und machte Schluss. Meine Schulfreundinnen verließen die Schule, begannen Ausbildungen und führten ein braves Leben. Plötzlich war ich wieder allein und versank erneut in eine tiefe Depression.

Ich versuchte, mich irgendwie durchzuhangeln, fand andere Mädchen zum Ausgehen, Männer, mit denen ich schlief oder eine Zeit lang zusammen war. Aber meine innere Welt verödete immer mehr, ich wurde hart und skrupellos, und mein Anspruch, ein Gutmensch zu sein, erstickte in dieser trostlosen Leere.

Durch geschickte Wahl meiner Leistungsfächer blieb ich mit einem Minimum an Anstrengung und einem Maximum an Fehlstunden auf der Zielgeraden zum Abitur. Nur: Was sollte danach kommen? In der Schule hatte ich meine Vermeidungsstrategien entwickelt, aber in neuen Lebensumständen wimmelte es von unkontrollierbaren Situationen. Mit meiner Sozialphobie war ich einfach nicht lebenstauglich. Meine Scham, diese Schwäche zuzugeben, und meine Angst vor Menschen ging so tief, dass ich mich nicht einmal einem Therapeuten anvertraut hätte. Aber das stand gar nicht zur Diskussion – ich hätte mich meinen Eltern niemals offenbart und um eine Therapie gebeten.

Die Zukunft war gleichermaßen angsteinflößend wie öde. Ich hatte weder Ehrgeiz noch Interessen, Karriere war mir völlig egal. Partnerschaft und Familie? Welcher Mann sollte mich lieben, wenn er erst mal erkannte, was für ein erbärmliches Geschöpf sich hinter der glänzenden Fassade verbarg? Und das würde ein Partner erkennen in einem Zusammenleben, das aus mehr als betrunkenem Sex und Clubbesuchen bestand.

Insofern wurde das Abitur zu keinem Freudenfest für mich. Ich immatrikulierte mich in M., wo schon meine Schwester studierte, für Philosophie. Mit einem Scheinstudium konnte ich erst mal Zeit schinden, hatte allerdings nicht vor, auch nur eine einzige Vorlesung zu besuchen. Ein Studium war ausgeschlossen – ich hätte vor anderen sprechen, Arbeitsgruppen besuchen und Referate halten müssen. Von meinen Eltern akzeptierte ich nur ein Minimum an Geld.

Bald fand ich ein winziges Zimmer in der Innenstadt von M. und über die Studenten-Job-Vermittlung gutbezahlte Jobs, die mit meiner Phobie vereinbar waren. Ich putzte bei einem gestörten Psychologen, stand am Band einer Fabrik und verteilte schließlich als Hostess für ein neu eröffnetes Kaufhaus Rosen an die Passanten.

Und hier ereilte mich mein Schicksal.

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Flucht nach vorn

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