Читать книгу Flucht nach vorn - Elva Neges - Страница 14
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Ioannis hatte die Nase längst voll vom Landleben, und über Yiayias alte Beziehungen fanden wir eine Wohnung in F. Ich war heilfroh, das Dorf zu verlassen, auch wenn das, was uns erwartete, nicht paradiesisch war: eine Zweizimmerwohnung mit kleinem Wintergarten an einer stark befahrenen Straße in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs von F. Ioannis ließ Mata decken, und zu Sophias großer Begeisterung tummelten sich bald auch noch sieben Schäferhund-Welpen in unserem engen Wintergarten. Zwei Rüden, Do und Re, behielt Ioannis, die restlichen fünf Hunde verkauften wir an die sympathischsten Interessenten.
Trotz des betäubenden Straßenlärms war die Anonymität der Großstadt wie ein Geschenk. Auch Ioannis entspannte sich. Täglich ging ich mit Sophia auf einen großen Spielplatz, um ihr Kontakte zu anderen Kindern zu ermöglichen. Ioannis begab sich mit der gleichen Regelmäßigkeit auf seine Streifzüge durch die Studenten-Cafes in Uni-Nähe.
Bald hatte Ioannis eine Frau gefunden, die zudem noch zur Schülerin geeignet schien. Er nannte sie Thalia. Ihr Vater besaß einen großen Gärtnereibetrieb und gewann Samen exotischer Pflanzen auf einer Finca auf Gran Canaria. Als sich Ioannis Thalias sicher war, entwickelte er die Idee, sie und mich auf dieser Finca arbeiten zu lassen. Als Schülerinnen würden wir Ioannis den größten Teil unseres Verdienstes überlassen. Gleichzeitig sollte ich Thalia in die Ideen Gurdjieffs und Ouspenskys einführen, und natürlich würden wir nach strengen Richtlinien leben, um diese Ideen praktisch umzusetzen.
Thalia konnte ihren Vater davon überzeugen, den Gärtner auf Gran Canaria durch unseren zuverlässigeren Arbeitseinsatz zu ersetzen und handelte ein gutes Gehalt aus. Bald sollte sie sich in ihrem Kombi mit den zwei halbwüchsigen Schäferhund-Rüden Do und Re auf den Weg nach Algeciras in Südspanien begeben. Dorthin würden Sophia und ich ihr im Zug folgen, um dann gemeinsam mit der Fähre nach Gran Canaria überzusetzen. Ich hatte Thalia noch nie gesehen, und das war wohl von Ioannis so beabsichtigt, damit es keine Möglichkeit gab, seine Pläne durch Animositäten zwischen ihr und mir im Vorfeld zu gefährden. Ich wusste nur, dass Thalia zwei Jahre älter war als ich, Romanistik studierte, fließend Spanisch sprach und ziemlich viel Geld mit Prostitution in einem Edelbordell verdient hatte, bevor sie Ioannis kennenlernte. Ihre ansehnlichen Ersparnisse waren bereits als Lehrgeld bei ihm gelandet.
Diese Entwicklung gab Ioannis mächtig Auftrieb. Endlich zeichnete sich für ihn ein Weg, der vierte Weg, ab. Tatsächlich war Thalia ein anderes Kaliber als seinerzeit Karin. Sie wollte mehr als Sex mit Ioannis. Vor allem wollte sie sich weiterentwickeln.
Am Tag nach Sophias drittem Geburtstag traten wir die Zugreise nach Spanien an. Als wir Thalia schließlich in Algeciras trafen, gefiel mir ihr markantes, intelligentes Gesicht, das von dunklen, auf Geheiß Ioannis kurz geschnittenen Haaren umrahmt war. Aber ihr Blick war seltsam unterkühlt und von meinem Anblick schien sie nicht begeistert. Vielleicht hatte sie eine ältere Frau erwartet, die eher wie eine Person mit Lehrauftrag und nicht wie eine jüngere weibliche Konkurrentin wirkte. Dabei fühlte ich mich neben Thalias gepflegter Erscheinung wie Aschenputtel. Ich vermied es tunlichst, kleidsame oder gar körperbetonende Kleidung zu tragen. Das wertete Ioannis sofort als Zeichen abtrünniger sexueller Absichten.
Sophia war von Thalia hellauf begeistert – ein neuer Mensch in ihrer Nähe! Sie wollte gar nicht mehr von ihr lassen. Auch Sophia hatte bis auf zufällige, kurze Begegnungen am Spielplatz und Yiayias Besuche keine sozialen Kontakte.
Während der Überfahrt war Thalia höflich, aber mürrisch und schweigsam. Nach der Ankunft machten wir uns sofort auf die Suche nach einer Unterkunft. Thalias Spanischkenntnisse erleichterten alles ungemein, und so hatten wir bald in einem Dorf in der Nähe der Finca ein fast neues, komplett eingerichtetes Haus für eine uns sehr günstig erscheinende Miete gefunden. Als Erstes ersetzten wir die Betten durch Deckenlager. Ioannis war der Meinung, dass dies die gesündeste Art des Schlafens war. Nur er selbst schlief auf Matratzen. Auch an die anderen, von ihm postulierten Regeln fühlte er sich nicht gebunden, wie zum Beispiel das Rauchverbot.
Unser Alltag war strikt reglementiert. Es sollten keine Freiräume entstehen, in denen wir auf dumme Gedanken kamen. Im ganzen Haus hatten wir an die Wände große Papierbögen mit Regeln gepinnt, die wir einhalten und die uns von geistigem Schlaf abhalten sollten. Natürlich hatte ich hier eine Vorbildfunktion zu erfüllen. Um unsere überschüssige Geschlechtsenergie und negative Gefühle abzuschöpfen, mussten wir mehrmals täglich anstrengende Körperübungen ausführen. Bestimmte Worte durften nicht benutzt werden, ganz besonders „Ich“, das durch die dritte Person und unseren Namen ersetzt werden musste. Letzteres sollte der Ent-Identifizierung unseres Egos dienen. Ich hatte noch einen zusätzlichen Aufgabenkatalog, was Sophia betraf. Ioannis wachte ehrgeizig über ihre geistige Entwicklung, und so übten wir jeden Nachmittag griechische und deutsche Buchstaben und Zahlen, und bald konnte die Kleine die ersten Worte lesen. Während der Arbeit auf den Feldern versuchte ich, Sophia mit Sprechspielen zu beschäftigen.
Am Abend sprachen Thalia und ich über die „Arbeit an sich selbst“. Ich nahm meine Funktion als erfahrenere Schülerin ernst. Das lag nicht nur an Ioannis‘ Erwartung, sondern vor allem an Thalias aufrichtigem Wunsch, weiterzukommen. Ihre durchdachten Fragen zwangen mich zu durchdachten Antworten, aber das gefiel mir. Thalia begann mich zusehends zu respektieren, und wir mochten uns auf eine herbe Art. Sophia gegenüber zeigte sich Thalia, eigentlich nicht der mütterliche Typ, überraschend freundlich und geduldig. Einmal in der Woche durften wir gemeinsam eine Haschischpfeife rauchen. Das war unsere einzige Zerstreuung. Endlich konnten wir all die Regeln vergessen und waren unglaublich albern. Thalia erzählte mir von ihren Freiern, darunter viele Araber, die ihr unter anderem die Perserteppiche geschenkt hatten, die sie im Kombi mitgenommen hatte und auf denen wir jetzt saßen. Über ihre Familie erzählte Thalia wenig, aber besonders liebevoll schien es in ihrem Leben auch nicht zugegangen zu sein.
Für Kontakte mit den Einheimischen gab es keine Freiräume. Wir grüßten unsere Nachbarn freundlich, und ich registrierte angenehm berührt, dass die Dorfbewohner unsere Präsenz mit scheinbarer Selbstverständlichkeit hinnahmen. Nirgendwo im Ausland hatte ich mich je so wohl gefühlt wie unter den Kanaren. Aber alle paar Wochen mussten Sophia und ich zu Ioannis fliegen.
Er war zufrieden mit der Entwicklung der Dinge und entsprechend entspannt und freundlich. Anfangs freute sich Sophia noch, ihren Papa wiederzusehen, bald wollte sie lieber bei Thalia bleiben. Sophia spielte jetzt ständig, sie sei wieder ein Baby. Außerdem begann sie, trotzig zu werden und nach mir zu schlagen und zu treten. Ich war bestürzt und ratlos. War das Kind von dem Hin und Her und den ständigen Veränderungen überfordert? Oder begann sie sich an Ioannis‘ Ausbrüchen ein Vorbild zu nehmen, auch wenn er mich in ihrer Gegenwart nur anschrie, aber nicht schlug? Mit der Rückkehr nach Gran Canaria hörte Sophias Jähzorn immer schlagartig auf, aber sie entwickelte Angst vor dem Alleinsein und die Angst, ich könne weggehen oder sterben. Ich hatte für diese Ängste keine Erklärung; Sophia wurde doch nie alleingelassen. Sie verband sich mit mir durch ununterbrochene Sprechspiele, in denen sie oft die Rolle eines strengen Polizisten übernahm.
Wenn Ioannis das Gefühl hatte, dass Thalia etwas Spezialzuwendung brauchte, ließ er sie für eine Woche zu sich kommen und ich blieb mit Sophia alleine auf Gran Canaria. Diese Zeiten waren wie Urlaub für mich.
Kurz nach Sophias viertem Geburtstag ging die Episode Gran Canaria auf Ioannis' Wunsch zu Ende. Wir flogen zurück, und Thalia folgte im Auto und zog zu uns.
Wir waren jetzt oft mit vier Personen und den großen Hunden in der kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung. Thalia teilte sich mit Sophia und mir das Wohnzimmer. Mich störte die Enge nicht. Für mich konzentrierte sich aller Stress auf Ioannis. Aber die eigenbrötlerische Thalia belastete diese Situation sicher, auch wenn sie es nicht zeigen durfte. Ihr eigenes geräumiges und sehr schönes Studentenzimmer in einem Altbau hatte Ioannis für sich als Refugium beansprucht. Er nutzte es als Abschlepp-Dependance und auch, um dem Gewimmel bei uns zu entkommen.
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