Читать книгу Das Klinikum - Emanuel Müller - Страница 11

Kapitel 7

Оглавление

Die Wochen vergingen. Das trübe Regenwetter blieb, dazu wurde es jedoch beständig kälter. Als Tom Ende November um die Mittagszeit aus dem Haus trat, um zur Arbeit zu fahren, regnete es in Strömen. Die Straße glitzerte vor Eis.

Na toll, dachte er. Da wird die Traumatologie alle Hände voll zu tun haben mit Stürzen. Die Chirurgie war zurzeit allerdings auch fast bis auf das letzte Bett belegt.

Vorsichtig lenkte er seinen Wagen auf die Umgehungsstraße Richtung Klinik. Der Verkehr ging nur zähflüssig voran. Wenigstens hatten die anderen Autofahrer ebenfalls Respekt vor der spiegelglatten Fahrbahn, auf welcher der Regen sofort zu einer Eisschicht gefror. Die Räumfahrzeuge schienen mit dem Streuen nicht hinterher zu kommen.

Trotz aller Befürchtungen kam Tom heil an, stellte das Auto auf dem Mitarbeiterparkplatz ab und lief zügig zum Personaleingang. Er hatte heute Spätdienst mit Monika und der Stationshilfe Doris.

Als die Krankenschwestern der Frühschicht nach der Dienstübergabe allmählich die Station verließen, wurde es ruhiger. Besucher waren bis jetzt auch kaum da. Wahrscheinlich traute sich keiner bei dem Wetter auf die Straße.

Im Dienstzimmer saß Monika und suchte die Akten der Patienten zusammen, die am nächsten Tag auf dem OP-Plan standen. Tom bereitete einen kleinen Rollwagen vor, um eine Runde durch alle Patientenzimmer zu unternehmen. Dabei wurden der Blutdruck und Puls gemessen und die täglichen Spritzen zur Thrombosevorbeugung verabreicht.

Da seine Kollegin noch mit den Patientenakten und unleserlichen Arztanordnungen kämpfte, fuhr er den Wagen schon zu Zimmer 1 und betrat es, bewaffnet mit Blutdruckmanschette und zwei Spritzen. Am Tisch saßen zwei Männer Mitte 50, die sich beide von einer Gallen-OP erholten. Sie machten sich gerade über ihre winzigen und staubtrockenen Kuchenstückchen her, welche die Stationshilfe zum Kaffee ausgeteilt hatte.

»Guten Tag«, rief er zur Begrüßung. »Bitte bereitmachen für die Spritzen!«

Die Männer, mit der Prozedur schon bekannt, begrüßten ihn und krempelten die Hemden hoch, damit er die subkutane Injektion in den Bauch verabreichen konnte.

»Und, hier ist alles in Ordnung?«, fragte er, während er einem der beiden Männer die Blutdruckmanschette um den Arm legte. Sie bejahten.

»Wunderbar!«, kommentierte Tom und notierte den gemessenen Wert auf einem Zettel. Dann wünschte er den Männern einen schönen Nachmittag, ehe er weiterging. Kurz bevor er Zimmer 2 betrat, sah er Monika aus dem Dienstzimmer kommen. Scheinbar war sie mit den OP-Kurven fertig und kam jetzt, um ihm zu helfen.

Zimmer 2 war ein Zweibettzimmer, doch nur ein Patient lag darin. Es handelte sich um einen verwirrten Mann im Alter von 69 Jahren namens Rudolf Jungk. Im Vergleich zu vielen anderen Patienten war er nicht sehr alt. Körperlich schien er recht fit, sein Verstand hatte jedoch unter jahrelangem Alkoholkonsum gelitten. Die Psychiatrie schickte ihn ins Krankenhaus, weil nach dem Erbrechen größerer Mengen Blut ein bösartiger Tumor im Magen festgestellt wurde. Wahrscheinlich hatte dieser längst Metastasen gebildet. Aber auf längere Sicht würde der Patient eh sterben, da er aufgrund des Alkoholabusus schon an einer fortgeschrittenen Leberzirrhose litt, welche zu ausgeprägten Ösophagusvarizen geführt hatte. So nannte man extrem erweiterte Blutgefäße in der Speiseröhre, die jederzeit platzen und zu einer lebensbedrohlichen Blutung führen konnten. Als der Mann in der Psychiatrie anfing, Blut zu erbrechen, befürchtete man das Schlimmste. Allerdings handelte es sich eher um kaffeesatzartiges Erbrechen, was auf eine Blutungsquelle im Magen schließen ließ. In der Tat fand man in der Notaufnahme des Maiwaldklinikums heraus, dass ein fortgeschrittenes Magenkarzinom der Übeltäter war. Was jedoch nicht ausschloss, dass allein durch den mechanischen Reiz eine der Ösophagusvarizen rupturieren könnte.

Für den nächsten Tag stand zunächst eine endoskopische Behandlung der Varizen auf dem Plan, um die Gefahr einer Blutung zu verringern. Im Anschluss würde eine operative Entfernung des gesamten Magens erfolgen. Bei kleineren Tumoren entfernten die Ärzte zwar häufig nur Magenanteile, aber die Krebserkrankung bei diesem Patienten befand sich in einem fortgeschrittenen Stadium. Die Überlebenschancen sahen so schon nicht gut aus.

Dem Frühdienst erschien Rudolf Jungk weder örtlich, noch zeitlich orientiert. Er war der Meinung, er lebe im Jahr 1982, werde von Stasibeamten gefangengehalten und er selbst sei ein Spion aus der BRD. Das zumindest hatten Toms Kollegen erzählt. Da Herr Jungk erst am Vormittag eingeliefert wurde, kannte er ihn noch nicht persönlich. Im Laufe des Nachmittags wurde die gesetzliche Betreuerin erwartet, die in sämtliche notwendigen Maßnahmen schriftlich einwilligen musste. Der Patient hatte leider keine Angehörigen mehr.

Auf richterliche Anordnung hatte man den Mann mit Händen und Füßen am Bett fixiert. Im Krankenhaus gab es dafür spezielle Gurte, die mit Magnetclips verschlossen den Fixierten an Ort und Stelle hielten.

Vor der Tür nahm der Pfleger eine Spritze vom Rollwagen und lauschte kurz. Alles ruhig. Die Kollegen vom Frühdienst hatten berichtet, Herr Jungk schreie und rufe ununterbrochen. Aber jeder wird irgendwann müde, dachte Tom, als er sacht und leise die Tür öffnete und ins Zimmer schaute. Bevor er etwas sah, kam ein Gegenstand geflogen, verfehlte ihn nur um Haaresbreite und zerschellte neben ihm am Türrahmen. Heißer Kaffee spritzte durch den Raum.

Mit einem überraschten Aufschrei zuckte er zurück auf den Flur und stieß gegen den Wagen. Offenbar hatte die Stationshilfe dem Patienten eine Tasse auf den Nachttisch gestellt. Nur wie konnte der Mann diese im fixierten Zustand werfen?

Monika hatte gesehen, wie er rückwärts aus dem Zimmer sprang, und kam herbeigelaufen. »Was ist los?«

»Herr Jungk wirft mit Kaffeetassen!«

»Doris!«, brüllte sie den Flur entlang. Die Stationshilfe, eine zierliche kleine Frau in den fünfziger Jahren, steckte fragend den Kopf aus der Teeküche.

»Hast du Jungk einen Kaffee hingestellt?«, donnerte die Schwester unverwandt weiter. Ihr sonst fröhliches Gesicht wirkte jetzt eher bedrohlich.

»Äh ... glaub schon ...«

»Ich sagte doch, der soll nüchtern bleiben!«

Die Stationshilfe kam über den Flur gelaufen. »Echt? Das muss ich überhört haben ... Tut mir wirklich leid ...«

Tom riskierte einen Blick in das Zimmer. Der Patient lag im Bett, welches er mit mindestens 1,90 Metern längenmäßig komplett ausfüllte. Allerdings wirkte er abgemagert, ohne das dünne Krankenhaushemd hätte man mit Sicherheit jede einzelne Rippe sehen können. Die Bettdecke des Mannes lag auf dem Boden. Die Fixierungen sahen intakt aus.

Der Krankenpfleger trat einen Schritt in den Raum. Herr Jungk hob den Kopf und schaute über das Bettgitter. Seine grauen Haare standen wirr und verschwitzt in alle Richtungen ab. Die blutrot unterlaufenen Augen starrten ihn bösartig mit verengten Pupillen an. Bis auf die Nase war das Gesicht kalkweiß. Diese durchzog ein rotes Geflecht geplatzter Äderchen. Einen Moment lang hätte Tom fast gelacht, weil er sich an einen weißgeschminkten Clown mit roter Nase erinnert fühlte. Auch die abstehende Frisur passte dazu. Nur die eingefallenen Wangen und die böse funkelnden Augen verfälschten den Eindruck. Vielleicht hätte man ihn am ehesten mit diesem Clown aus einem Stephen-King-Film vergleichen können.

Er warf einen besorgten Blick auf den Nachtschrank, doch dort stand zum Glück nichts weiter. Ein Kaffeering markierte den ehemaligen Standpunkt der Kaffeetasse, deren Scherben jetzt in einer braunen Lache neben der Tür lagen.

Er trat noch ein paar Schritte ins Zimmer. »Guten Tag, Herr Jungk!«

Eine Hand schoss aus dem Bett hervor und patschte auf den Nachtschrank. Nur, dass da zum Glück keine anderen Wurfgeschosse standen. Offenbar war der Patient am rechten Handgelenk nicht mehr fixiert. Ein Gesprächsfetzen der Diskussion zwischen seiner Kollegin und Doris auf dem Flur verriet ihm, warum: »... dachte, ich binde eine Hand los, damit er den Kaffee trinken kann. Er war doch artig und bekommt doch auch Beruhigungsmittel ...«

»Der Mann ist desorientiert und aggressiv! Du hättest uns fragen müssen!« Monika war sauer, was sonst nur selten vorkam.

»Tut mir leid ... ehrlich ...«

Herr Jungk umfasste mit der freien Hand das Bettgitter und rüttelte heftig dran, was im Zimmer lautstark widerhallte. Tom trat ans Bett und griff nach der leeren Handfessel, die daran herunterhing. Der Patient holte weit aus, um ihm eine zu knallen, doch er wich im letzten Moment beiseite. »Monika! Jetzt hilf mir mal bitte!«

»Hau ab, du rotes Arschloch! Meine Politiker werden mich freikaufen! Und dann erschießen sie dich!« Gerötete Augen starrten ihm voller Hass entgegen.

»Bin schon da, ich eile!« Monika kam ins Zimmer gelaufen.

»Ich halte die Hand fest und du fixierst sie wieder!«

Sie kam ans Bett, während Tom mit Mühe Herr Jungks Arm zu fassen bekam, mit dem er wild ausschlug. Schnell wickelte sie den Fixierriemen darum und ließ den Magnetverschluss einrasten. »So, das wäre geschafft.« Erleichtert grinsten sich die beiden an.

»Lass Doris am Leben. Sie hat bestimmt nicht nachgedacht.«

»Allerdings! Sowas von gar nicht nachgedacht! Und nicht zugehört!«, brauste Monika auf.

Der Mann riss aggressiv an den Fixierungen und fluchte wie ein Berserker. »Das werdet ihr alle noch bereuen, ihr roten Schweine! Wenn meine Freunde mich hier finden ...«

Zu zweit schafften sie es, ihm die Spritze zu verpassen, obwohl der Patient heftig zappelte.

»Da haben wir uns ja einen eingehandelt ...«

»Naja, morgen nach der OP kommt er auf die Intensivstation, das heißt, wir müssen ihn erstmal nur heute ertragen«, meinte Tom. »Wir hängen ihm nachher die Infusion an und verabreichen ihm seine Medikamente und um den Rest soll sich der Frühdienst kümmern!«

Monika nickte zustimmend, während sie den Wagen zum nächsten Zimmer fuhr. Doch leider sollte es nicht so weit kommen.

Das Klinikum

Подняться наверх