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Siebte Woche

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Als ich vor zwei Wochen zum ersten Mal um diese Uhrzeit nach Hause gefahren war, dachte ich noch, all die Leute in der Bahn seien zu einer Veranstaltung unterwegs oder kämen von einem Kundinnenbesuch und seien auf dem Rückweg in ihre Firma. Als mir aufging, dass sie nach Hause fuhren, war ich wirklich verblüfft – so viele Menschen, die sich so früh auf dem Heimweg befanden und nicht einmal besonders froh darüber schienen. Kurz nach fünf Feierabend zu machen, war für sie offenbar normal.

Heute sah ich mir die Fahrgäste einmal genauer an. Ein Großteil war viel älter als ich, es gab aber auch eine Handvoll Frauen, die einige Jahre jünger waren. Die jungen Frauen blickten stumm auf ihre Handys und zupften ihre femininen Röcke zurecht. Sie waren besser geschminkt als meine Mitfahrerinnen am späten Abend. Bröckelndes Make-up schien ein Fremdwort für sie zu sein. Ihr Teint war frisch und ihre Wangen leuchteten blass rot, als hätten sie eben erst Rouge aufgetragen.

Dagegen waren die älteren Frauen überhaupt nicht geschminkt. Was sie kennzeichnete, war ihre Kleidung. Sie trugen fast ausnahmslos enganliegende »Langarmshirts«. Keine Hemden, Blusen oder Pullover, sondern etwas, das man nur »Langarmshirt« nennen konnte. Farblich war neben schwarz und weiß die gesamte Pastellpalette vertreten, von zartrosa über hellgelb bis hin zu fliederfarben. Weite Hosen und Sportschuhe rundeten das Outfit ab. Während ich in meine Betrachtungen versunken dastand, sah ich, wie eine Frau in pastellgrünem Langarmshirt eine Thermosflasche aus ihrer Tasche holte und unbekümmert kalten Tee trank. Es mussten Eiswürfel in der Flasche sein, denn beim Einschenken klirrte es leise.

Ich stieg aus der Bahn und ging in den Supermarkt, wo ich Fleisch und Gemüse für ein Gericht kaufte, das ich während der Heimfahrt im Internet herausgesucht hatte. Über ausverkaufte Zutaten musste ich mir nun ja keine Gedanken mehr machen. Ich konnte sogar Gemüse direkt vom Erzeuger und saisonalen Fisch ergattern. Als ich an der Kasse wartete, sah ich draußen eine Gruppe Jungen vor einem Takoyaki-Stand. Die einheitlichen Sporttaschen mit Schullogo, die sie über ihre Schultern geworfen hatten, verrieten, dass sie aufs Gymnasium gingen. Gierig verschlangen sie ihre Oktopus-Teigbällchen. Für mich sahen ihre gebräunten Gesichter alle gleich aus.

Schon wieder war es erst halb sieben, als ich zu Hause ankam. Ich trat auf den Balkon und hörte jemanden auf dem Klavier immer wieder dieselbe Passage spielen. Nachdem ich die Wäsche hereingeholt und die Wohnung gesaugt hatte, fing ich an zu kochen. Während Geflügel und Wurzelgemüse – die heutige Hauptspeise – in einer würzigen Fischbrühe vor sich hin köchelten, bereitete ich noch eine Misosuppe mit Aubergine und eine Beilage aus Spinat und Fischpastete zu.

Das Kochen war bereits zur Gewohnheit geworden. Ich hatte jetzt genug Zeit, um neue Rezepte auszuprobieren und auf eine ausgewogene Ernährung zu achten, wie es Schwangere so taten. Mein Hautbild hatte sich durch den neuen gesunden Lebensstil verbessert und ich hatte vom vielen Essen leicht zugenommen.

Gestern Mittag hatte mich der Kollege, der mir gegenübersaß, gefragt, wie es mittlerweile mit der Schwangerschaftsübelkeit aussähe.

»Nicht mehr so schlimm wie am Anfang«, antwortete ich.

»Ach, dann ist ja gut«, sagte er. »Ich hatte mich gewundert, was los ist, weil Sie in letzter Zeit gar keine Fertiggerichte aus dem Convenience Store mehr essen. Man muss in der Schwangerschaft wohl auf einiges achten.«

Er hatte recht. Seit letzter Woche machte ich mir täglich eine Lunchbox für die Firma.

Die Dunkelheit setzte ein, als ich mit dem Essen fertig wurde. Wie ein Vorbote der Nacht wehte ein Luftzug durch das geöffnete Fenster und strich über meine nackten Füße.

Ich stand auf und zog die Vorhänge zu. Dann ging ich ins Bad und ließ warmes Wasser in die Wanne einlaufen.

In letzter Zeit badete ich fast täglich und benutzte manchmal einen der Badezusätze, die ich im Laufe der Jahre geschenkt bekommen und im Schrank unter dem Waschbecken gesammelt hatte.

Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber diejenigen Zusätze, die teuer aussahen, kamen mir besonders erfrischend vor. In den wirklich stressigen Phasen, in denen ich erst spät nachts nach Hause gekommen und vor Erschöpfung zu nichts mehr fähig gewesen war, hätte ich sie wohl besser gebrauchen können als jetzt, aber damals hatte ich ans Baden gar nicht denken können.

Heute Abend würde sich meine Wanne in das Tote Meer verwandeln. Das Badesalz würde in meine Poren dringen, die Schweißdrüsen stimulieren und sämtliche Schadstoffe aus meinem Körper schwemmen – so zumindest versprach es der Verpackungstext. Ich legte meinen Kopf auf den Rand der Wanne und es kam mir vor, als triebe mich das Salzwasser nach oben. Während ich schutzlos im Toten Meer schwamm, musste ich unwillkürlich an einen Dugong denken, einen seltenen Vertreter der Seekuh, den ich ein einziges Mal in einem Aquarium gesehen hatte. Langsam war er durch das türkisfarbene Wasser geglitten und in seinen Augen hatte ich weder Berechnung noch die Angst, selbst Opfer einer Berechnung zu werden, erkennen können. Durch und durch gutmütig hatte er gewirkt.

Als ich mir nach dem Baden die Haare föhnte, wurde mir auf einmal ziemlich heiß. Das Meersalz zeigte seine Wirkung. Von der Straße wurden Stimmen von Schülerinnen, die an meinem Haus vorbeiliefen, hereingetragen. Während ich ihnen lauschte, stellte ich den Ventilator, den ich eigentlich schon im Schrank hatte verstauen wollen, in die Mitte des Zimmers. Ich setzte mich auf mein kleines Sofa. Musik machte ich keine an, obwohl ich mich eigentlich immer für musikaffin gehalten hatte.

Auf dem Weg zur Station und beim Warten auf Freundinnen oder die Bahn hörte ich ständig Musik über mein Handy und im Sommer besuchte ich regelmäßig Festivals. Aber seltsamerweise wusste ich jetzt, da ich Zeit zur Genüge hatte, nicht, wie ich in meiner leeren Wohnung unsichtbaren Künstlerinnen bei der inbrünstigen Darbietung ihrer Lieder lauschen sollte. Wo sollte ich meinen Blick lassen? Was für ein Gesicht müsste ich machen? Bei Bands mit vielen Mitgliedern war mein Unwohlsein am größten. Ich fragte mich, wie es andere machten, die Musik zu ihren Hobbys zählten. Schlossen sie beim Zuhören die Augen? Starrten sie Löcher in die Luft oder wippten sie leicht mit dem Kopf und schwangen ihre Hüften? Wie wenig ich doch mit meinen über dreißig Jahren von der Welt wusste.

Ich schaltete nur das warme Licht der Stehlampe ein und legte meinen Kopf auf die Armlehne des Sofas. In meiner Phantasie schrieb ich Sätze an die weiße Zimmerdecke. Dann fing ich an, eine Melodie zu singen, die mir spontan in den Sinn kam. Meine Stimme klang schwächer und kratziger als beim Reden, aber sie gefiel mir so. Es machte Spaß, also setzte ich dieses Spielchen noch ein wenig fort. Ich schaute auf die Uhr. In meinem früheren Leben hätte ich ungefähr jetzt mit dem Essen begonnen.

Der Abend war noch jung.

Frau Shibatas geniale Idee

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