Читать книгу Frau Shibatas geniale Idee - Emi Yagi - Страница 9

Vierzehnte Woche

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Ich wünschte, ich wäre zehn Minuten früher aufgestanden, während ich mir hastig die Schuhe anzog – vorsichtshalber Converse, denn Schwangere sollten Absätze vermeiden. Es war ein Segen, dass Sportschuhe mittlerweile fester Bestandteil des modischen Repertoires geworden waren. Wie sollte man auch sonst zehn Monate lang durchhalten?

In der verglasten Eingangstür zu meinem Apartmentgebäude sah ich aber nur eine Frau in Sneakers. Keiner würde auf die Idee kommen, dass sie schwanger war, denn ihr Bauch war nicht gewölbt. Noch nicht.

»Sie sollten sich ausruhen, Frau Shibata.«

Ich räumte gerade die Tische, die wir für die Besprechung umgestellt hatten, an ihren Platz zurück, als Herr Higashinakano plötzlich hinter mir stand.

»Noch geht es, danke.«

»In welcher Woche sind Sie jetzt?«

»Etwa im dritten Monat. Wenn Sie schon dort stehen, können Sie auch gleich den Tisch hierhertragen.«

»Diesen hier?«

»Nein, den daneben.«

»Oh, Verzeihung, Verzeihung!«

Die Kollegen, die bis dahin mitgeholfen hatten, gingen wortlos an ihre Plätze zurück. Sie wollten keine Minute der gerade begonnenen Mittagspause verpassen und überließen den Rest getrost uns. Ich schnalzte verärgert mit der Zunge, aber so leise, dass Herr Higashinakano es nicht hörte.

Aus dem Fenster des Besprechungsraumes sah ich einen endlos blauen Himmel. Das Laub der Gingkobäume an der Allee begann bereits, sich goldgelb zu färben. Es war kurz nach zwölf und viele Büroangestellte liefen nur mit einem Portemonnaie in der Hand die Straße entlang. Vor unserem Gebäude stand ein Lunchbox-Wagen, vor dem sich eine Schlange gebildet hatte. Seit Beginn meiner Schwangerschaft hatte ich dort nichts mehr gekauft.

»Frau Shibata.«

Als ich den letzten Stuhl zurückstellte, sprach mich Herr Higashinakano wieder von hinten an.

»Seien Sie bitte wirklich vorsichtig. Das Wegräumen der Tische können auch andere übernehmen. Um diese Uhrzeit verdrücken sich die meisten immer sofort, aber trotzdem … Bald müsste auch ihr Bauch größer werden, wissen Sie.«

Herr Higashinakano gestikulierte unbeholfen mit seinen Händen, indem er sich mehrmals an den Bauch fasste, und verließ den Besprechungsraum. In der Fensterscheibe betrachtete ich mein Spiegelbild und meinen flachen Bauch. Wieder schnalzte ich verärgert mit der Zunge, diesmal ohne Zurückhaltung.

Nach dem Baden googelte ich »Schwangerschaftsverlauf«. Es wurden medizinische Erklärungen, Schwangerschaftsblogs und mehrere Schwangerschafts-Apps angezeigt. Die Apps funktionierten wie Tagebücher, in denen man festhalten konnte, wie man sich während der Schwangerschaft fühlte und was man aß. Teilweise boten sie noch zusätzliche Inhalte wie Informationen zum Verlauf der Schwangerschaft und dem Zustand des Babys. Ich lud mir eine der Apps herunter, die allem Anschein nach von einem Windelhersteller entwickelt worden war. Ständig poppte Werbung für eine Verlosung auf, die dreißig glücklichen Gewinnerinnen Windeln für ein Jahr versprach. Das nervte etwas, aber mir gefielen das minimalistische Design und die niedlichen Babyzeichnungen.

Für jede Schwangerschaftswoche gab es eine Erklärung zum Entwicklungsstadium des Kindes und zu den körperlichen Veränderungen der Frau. Ich zählte nach und klickte auf Woche vierzehn. Laut App hatte ich die gröbste Schwangerschaftsübelkeit und auch die kritische Phase überstanden. Ein Glück!

Die Einträge für die Wochen davor und danach las ich mir ebenfalls durch und fand heraus, dass sich der Bauch ab der zwölften Woche leicht wölbte. Zu diesem Zeitpunkt wurde es mit der Übelkeit besser und es setzte bei vielen Schwangeren der Heißhunger ein, der naturgemäß eine Gewichtszunahme zur Folge hatte. In der vierzehnten Woche hatte der Fötus, gemessen von Kopf bis Hintern, eine Länge von circa neun Zentimetern und ein Gewicht von etwas mehr als vierzig Gramm. »In dieser Woche hat das Kind die Größe einer Pflaume«, las ich. Diese App stellte wöchentlich einen Obstvergleich an, um das Baby zu beschreiben. Letzte Woche war es »eine japanische Ume-Pflaume«, nächste Woche wäre es bereits eine »Grapefruit«.

Herr Higashinakano hatte recht gehabt. Langsam könnte sich mein Bauch ruhig etwas zeigen. Das Internet spuckte aus, dass es spezielle Bauchgürtel für die Rollen von Schwangeren in Film und Theater gab, doch diese wurden nicht im normalen Handel verkauft. Ich suchte trotzdem auf Amazon und dem Online Marktplatz Mercari danach, fand aber nichts. Wahrscheinlich wären solche Requisiten sowieso für einen kugelrunden Bauch kurz vor der Niederkunft, den ich ja noch nicht brauchte.

Ich gab die Suche auf und stopfte mir vor dem Spiegel Handtücher und Strümpfe unter die Kleidung. Es natürlich aussehen zu lassen und die richtige Größe zu finden, war nicht einfach. Gefaltet waren die Handtücher zu flach und gerollt zu dick, außerdem verrutschten sie leicht unter der Kleidung. Die Socken eigneten sich nicht, weil sie zu dünn waren. Überraschend brauchbar waren Feinstrumpfhosen. Sie ließen sich gut in Form bringen, hatten leider nur zu wenig Volumen. Ich müsste die dickeren mit 80 DEN aus der Box mit Winterkleidung hervorholen, die im Zwischenboden verstaut war, doch ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es schon nach Mitternacht war. Mir verging schlagartig die Lust. Mit dem Vorsatz, es am Morgen noch einmal zu versuchen, legte ich mich schlafen, doch auch am nächsten Tag klappte es nicht. Schließlich verließ ich das Haus wieder ohne Schwangerschaftsbauch.

In der Bahn, eingequetscht zwischen Menschenmassen, dachte ich noch einmal über die ganze Angelegenheit nach. Es gab doch auch Geschichten über Teenagerinnen, die ihre Schwangerschaft bis zuletzt vor Eltern und Lehrerinnen versteckt hielten, und das Kind heimlich auf einer Schultoilette zur Welt brachten. Vielleicht musste ich mich mit dem Bauch gar nicht so ins Zeug legen. Oft merkte die Frau selbst lange nicht, dass sie schwanger war. Vielleicht waren sogar einige in dieser Bahn schwanger, ohne es zu wissen.

Nur leider, fügte ich innerlich hinzu, habe ich einen neugierigen Kollegen mit viel mehr freier Zeit als die gestressten Eltern einer pubertierenden Teenagerin. Herr Higashinakano musste sich wirklich sehr langweilen, so wie er sich auf meine Schwangerschaft stürzte. Sollte er doch selbst heiraten und Kinder kriegen. Dann stünde ich weniger unter Beobachtung. Leider deutete nichts darauf hin. So wie die Dinge standen, würde mich Herr Higashinakano mitunter gewaltsam zur Frauenärztin schleppen, wenn mein Bauch nicht größer werden würde.

An diesem Tag packte Herr Higashinakano in der Mittagspause mal wieder seine Plastiklunchbox aus, die in ein buntes Halstuch gewickelt war und unheimlich kindlich aussah. Der Inhalt war immer derselbe: In labbrigen Seetang gewickelte Reisbällchen, dazu wahlweise Frühlingsrollen oder frittiertes Hähnchen aus der Tiefkühltruhe und irgendein grüner Schlamm, bei dem ich mich jedes Mal fragte, was um Himmels willen das sein könnte. Während die verformten Reisbällchen, die er vermutlich selbst machte, mit lautem Schmatzen in seinem Rachen verschwanden, überkam mich eine unbestimmte Wut.

Nachmittags musste ich das Büro kurz verlassen. Als ich zurückkam, stand ein großes Paket von einem unserer Kunden, einem Großhandel für Früchte und Süßwaren, auf meinem Tisch. In der Warenbeschreibung stand: »Süßigkeiten«. Ich öffnete den Karton und fand mehrere Reihen pfirsich-, orange- und olivfarbener Gelees in kleinen Plastikbehältern darin vor. Ihre Oberflächen glänzten und in ihrem Innern waren große Pfirsich- und Apfelsinenstücke eingeschlossen, die aussahen, als machten sie ein Mittagsschläfchen. »Ein Präsent für die ganze Abteilung«, stand auf einer Notiz.

Geschenksendungen von Kunden waren keine Seltenheit und jedes Mal landeten sie auf meinem Tisch. Einige Kollegen warfen bereits verstohlene Blicke zu mir herüber und ich wusste genau warum. Sie warteten darauf, dass ich wie immer die Runde machen und Gelees und Löffelchen mit einem freundlichen »Wie wäre es mit einem Dessert?« verteilen würde. Ich blickte auf die Uhr, schloss den Karton wieder und trug ihn in die Teeküche.

Dort warf ich zuerst das Küchentuch beiseite, das das bisschen Platz zwischen Spüle und Abtropfständer vollständig in Anspruch nahm. Ich fragte mich, wer es immer dorthin legte. Es stank so sehr, dass ich es nur mit den Fingerspitzen anfassen wollte. Heute roch es nach aufgewischter Milch. Ich stellte den Karton auf die Arbeitsfläche und fing an, ihn zu zerlegen. An den Ecken war das Klebeband so fest, dass ich mir beim Abreißen einen Fingernagel umknickte, also nahm ich den Cutter zur Hand, den ich von meinem Platz mitgenommen hatte. Cutter sind die Waffen der zivilisierten Welt, dachte ich. Jedes Mal, wenn ich ihn ansetzte, schlitzte ich vor meinem inneren Auge das Gesicht eines anderen Kollegen auf.

Ich entfernte die Papierschleifen und das hübsche Packpapier mit dem Obstmuster, das diese Firma jedes Mal verwendete. Kurz überlegte ich, es aufzuheben, aber was sollte ich damit? Als ich alles in die Altpapiertonne werfen wollte, musste ich feststellen, dass diese am Überlaufen war. Papierlawinen waren auf den benachbarten Plastikmüll gerollt und hatten die Sammelbox für leere Batterien umgeworfen. Ich stellte sicher, dass mich niemand beobachtete, und stopfte das Packpapier in eine Lücke am Rand der Tonne, doch schon bei der ersten Berührung gab es einen großen Erdrutsch, der den Fußboden der kleinen Teeküche unter einer Schicht aus Flyern und Kopierpapier begrub.

Ich hätte heulen können, sah aber nicht ein, für das Verteilen von Gelees Tränen zu vergießen. Während ich die verstreuten Zettel wieder einsammelte, kam der Leiter der benachbarten Abteilung in die Küche. »Sehr schön, dass Sie hier mal aufräumen, Frau Shibata«, sagte er und drückte mir eine frische Ladung Altpapier in die Hand. Am liebsten hätte ich ihm eine der alten Batterien an den Kopf geworfen, doch das hätte die Unordnung auch nicht beseitigt.

Nach zwanzig Minuten hatte ich das Altpapier endlich gebündelt und konnte zu den Gelees zurückkehren, als ich das nächste Problem bemerkte. Es gab drei Gelees zu wenig. Innerlich strich ich zuerst mich selbst, dann Herrn Higashinakano. Ich überlegte, ob jemand momentan bei einem Kundinnenbesuch war, als sich mir eine Frage aufdrängte. Warum hatte ich mich eigentlich selbst von Anfang an nicht mitgerechnet?

Meine Hand berührte etwas Weiches – das Füllmaterial, das in der Kiste mit den Gelees gelegen hatte. Ich hatte es nicht zum Altpapier getan, da es weder aus Papier noch Stoff zu bestehen schien. Es fühlte sich seltsam warm an und machte kein Geräusch, als ich es mit meiner linken Hand ein wenig zusammendrückte. Sobald ich die Hand losließ, dehnte es sich langsam wieder aus. Das Material war, passend zu den Gelees, dreifarbig und von Glitter durchzogen, der im kraftlosen Licht der Neonröhre schwach funkelte. Ich nahm es in beide Hände und drückte es an meinen Körper, wo es sich wieder größer machte und dabei beinahe lebendig anfühlte. Vorsichtig wickelte ich es in mein Stofftaschentuch und ging zur Toilette.

Mit einem grünen Gelee in der rechten und einem Löffel in der linken Hand kehrte ich an meinen Platz zurück. Den Rest hatte ich mit folgender Notiz in den Kühlschrank gestellt: »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Alle Mitarbeiter sind eingeladen, sich ein Gelee zu nehmen.« Beherzt riss ich die Plastikfolie ab, setzte meinen Löffel an die spiegelglatte Oberfläche und schob mir ein Stück Muskatellertraube in den Mund. Während ich die edle Frucht zerkaute, machten sich einige Kollegen schon auf den Weg in die Teeküche.

Unter meiner Bluse, direkt über meinem Bauch lachte sich ein dreifarbig glitzerndes Baby zufrieden ins Fäustchen.

Frau Shibatas geniale Idee

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