Читать книгу Weg aus der Einsamkeit - Emma zur Nieden - Страница 10
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Sarah saß an einem ihrer Lieblingsplätze an einem der zahllosen Seen, die die schottischen Lowlands überzogen. Einer der Gründe, aus denen sie sich in diesen abgelegenen Landstrich zurückgezogen hatte, war die atemberaubende Schönheit der Landschaft. Das Spiel von Licht und Schatten beeindruckte sie sehr. Ein anderer Grund war die Einsamkeit. Selten begegnete sie einer Menschenseele. Das war genau das, was sie wollte: In der Abgeschiedenheit zu sich selbst finden, ohne von jemandem gestört zu werden. Sie beobachtete das Licht-und-Schatten-Spiel, das nahezu jede Sekunde eine andere Nuance offenbarte. Sie liebte dieses unvorhersehbare Spiel von Hell und Dunkel, das der Landschaft eine besondere Form der Melancholie verlieh und ebenso viel Kraft wie Lebensfreude vermittelte. All ihre Sorgen und Ängste traten in den Hintergrund, wenn Sarah die Intensität der Natur spürte.
An einem dieser Lochs saß sie oft nach einem langen Spaziergang. Vor ein paar Wochen hatte sie einfach nur dort gesessen und beobachtet. Manchmal hatte sie lediglich ihre Aquarellutensilien dabei, um ein paar schnelle Aquarelle aufs Papier zu bringen. Mildred hatte ihr immer einige davon abgenommen, denn in ihrem Wohnzimmerrestaurant hatte sie ein kleines Eckchen für künstlerische Kleinode aus der Gegend reserviert. Und Sarah durfte dort ebenfalls ihre Bildchen ausstellen. Verkauft wurden die kleinen Werke außerdem, was ihrer mittlerweile mehr als leeren Geldbörse bisher zugutegekommen war. Es gab Zeiten, da rissen die Touristen Mildred die lokalen Kunstwerke geradezu aus den Händen, sodass Sarah mit dem Malen kaum nachkam. Sarah war Mildred sehr dankbar für diese Möglichkeit. In letzter Zeit aber hatte sie immer öfter ihren Skizzenblock dabei, um erste Entwürfe anzufertigen, die ihr später als Vorlage für eines ihrer Ölbilder dienen sollten.
Sie lächelte. Die Zeit der kleinen, jedoch nicht sonderlich herausfordernden Aquarelle war endgültig vorbei, weil sie auf deren Verkauf nicht mehr angewiesen war. Die Stelle in Rose MacGaddens Geschäft brachte ihr genug Geld ein, um bequem davon leben zu können. Zum Glück waren damit auch die kargen Zeiten zu Ende, sinnierte Sarah. Sie hatte das Gefühl, das Leben kehrte allmählich zu ihr zurück. Seit sie bei Rose arbeitete, ging es ihr nicht nur finanziell wesentlich besser. Auch ihre Stimmung hatte sich gehoben. Rose war eine tolle Chefin. Sarah mochte die Arbeit in ihrem Laden.
Dass Sarah ihre Skizzen in Bilder umsetzte, war eine unerwartete und erstaunliche Veränderung, seit Sarah in dem Whisky-Shop arbeitete. Es würde einige Zeit brauchen, bis sie mit ihrer Arbeit an dem Punkt angelangt war, an dem sie damals mit dem Malen aufgehört hatte, aber sie war auf einem guten Weg. Die Lust auf ihre wahre Kunst kam allmählich zurück, und Sarah konnte deutlich spüren, dass sich auch in ihrem Inneren etwas Grundlegendes veränderte. Ihre Schwermut wurde von Tag zu Tag weniger.
Lange Zeit war es ihr nicht möglich gewesen, den Pinsel auf der Leinwand zu schwingen – nach allem, was passiert war. Sie kam in Schottland nicht nur körperlich zu Kräften, sondern ihre Seele erholte sich ebenfalls.
Sarah atmete tief die wunderbare Luft der schottischen Lowlands ein. Sie war froh, am Leben zu sein und sich spüren zu können, das Leben in sich spüren zu können. Ein unvergleichliches Gefühl. Ihre ersten Ölbilder waren zwar noch nicht perfekt, aber es deutete sich bereits an, dass sie anders malte als vor dem Desaster. Etwas Neues war in den Gemälden. Sarah hatte den Eindruck, ihre Kunst war reifer geworden.
Heute saß Sarah ohne ihre Malutensilien auf einem höher gelegenen Felsen, blickte über den See, beobachtete das Spiel der Wolken, die sich im See spiegelten und langsam vorbeizogen. Diese Landschaft vermittelte ihr eine unendliche Ruhe, die sich seit einiger Zeit nach einer sehr langen Durststrecke in ihr ausbreiten konnte. Als sie damals gedacht hatte, ihr Leben wäre am Ende, hatte sie sich selbst nicht mehr spüren können. Das war äußerst beängstigend gewesen. Lange hatte sie nach einer solchen Gelassenheit gesucht, die sie nun an diesem See fand. Zuvor hatte sie sich nur selbst bei den Alltäglichkeiten zugesehen, als liefe sie neben sich her. Als wäre es nicht sie, die all die Dinge erledigt hatte, die angefallen waren. Ein merkwürdiges Gefühl. Unangenehm und erschreckend. Sie hätte diesen Zustand gerne früher beendet, wusste damals aber nicht, wie das funktionieren sollte.
Dass sie wieder eins mit sich selbst sein konnte, verdankte sie ihrer Arbeit bei Rose. Vielleicht sogar Rose selbst. Sie sah Sarah stets so warmherzig an. Sarah spürte, wie sich bei diesem Gedanken von Kopf bis Fuß eine Wärme in ihr ausbreitete. Sie lächelte unwillkürlich. Es schien sie endlich durchdrungen zu haben, dass Alkohol niemals Probleme lösen konnte.
Sarah holte tief Luft und atmete lang und langsam aus, wie ihre Yogalehrerin in der Reha es ihr beigebracht hatte. Und sie spürte, wie die innere Ruhe sich weiter vertiefte und eine Gelassenheit sich in ihr ausbreitete, die vollkommen neu für sie war. Ein großes Gefühl von innerer Sicherheit und verschüttet geglaubter Lebensfreude. Sie traute sich nicht, das Wort glücklich zu denken.