Читать книгу Weg aus der Einsamkeit - Emma zur Nieden - Страница 8

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Mit einer dicken Jacke bekleidet saß Sarah auf dem Bänkchen vor ihrem Cottage. Die Vorboten des Frühlings brachten zwar kalte Luft, aber sie war klar und frisch. Sarah atmete tief ein und aus. Heute war ein sehr anstrengender Arbeitstag gewesen. Rose und sie hatten Regale eingeräumt. Und weil das Befestigungssystem sehr zu wünschen übrig gelassen hatte, hatte Sarah dafür sorgen müssen, dass die Regale nicht umfielen und die vielen Kartons mit kostbaren Whiskyflaschen in flüssiger Form durch den Keller rannen. Sie hatte die lockeren Schrauben mit dem Akkuschrauber festgedreht. Sarah schloss die Augen und lächelte, als die Szene im Keller vor ihrem inneren Auge auftauchte. Sie und Rose waren sich nah gekommen. Sehr nah.

Sarah schüttelte den Gedanken ab und dachte daran, dass sie ausgesprochen skeptisch gewesen war, als Mildred ihr vor ein paar Monaten vorgeschlagen hatte, bei Rose im Geschäft zu arbeiten. Ausgerechnet in einem Geschäft voller alkoholischer Getränke … Außerdem war es ewig her, dass sie sich arbeitstechnisch hatte unterordnen müssen. Während ihres Studiums hatte sie sich den Unterhalt in einem Eissalon verdient. Das waren harte Zeiten gewesen. Ständig hatte die Chefin herumgemeckert, meistens grundlos. Sarah hatte sich vorgenommen, sofort zu kündigen, wenn ihre jetzige Vorgesetzte solche Anwandlungen haben würde, einerlei, ob sie deshalb kein Geld mehr verdienen würde. Das Gefühl, vor allen anderen bloßgestellt zu werden, wollte sie nie wieder erleben.

Aber es war alles anders gekommen. Rose war trotz Sarahs Anfangsschwierigkeiten ausgesprochen freundlich und umgänglich gewesen. Obwohl Sarah anfangs lediglich die Arbeit angenommen hatte, weil ihr Bankkonto tiefrote Zahlen geschrieben hatte, hatte sie mit zunehmender Dauer mehr Freude daran. Die Kolleginnen waren vergnügt und immer für einen Spaß zu haben wie übrigens die Chefin selbst. Und die schaffte es, die Anweisungen so zu geben, dass man sich nie herumkommandiert fühlte.

Auch heute nicht. Eigentlich war sie es gewesen, die die Anweisungen gegeben hatte, denn Rose mochte zwar eine gute Geschäftsfrau sein, aber was ihr handwerkliches Geschick anging, schien sie zwei linke Hände zu haben. Ohnehin war es ihr unerklärlich, wieso Rose bei der Innenausstattung des Kellers nicht Profis gefragt hatte, wie man die Regale so an den Wänden sicherte, dass man nicht ständig Angst haben musste, dass sie umkippten. Das Bild, das sich Sarah bei genauerem Hinsehen geboten hatte, war hanebüchen gewesen. Sämtliche Schrauben, mit denen die Regale an der Wand befestigt waren, hatten sich gelockert. Ein Wunder, dass Rose der Whisky nicht schon längst um die Ohren geflogen war.

Ein Lächeln zauberte sich auf Sarahs Gesicht, als sie sich daran erinnerte, wie sie Rose während der Befestigungsarbeiten dauernd unwillkürlich hatte berühren müssen, damit die Regale nicht wie Dominosteine umfielen. Hitze war in ihr aufgestiegen, als sie Roses ganzen Körper gespürt hatte, während sie an ihr vorbei gegriffen hatte, um eines der Regale am Umfallen zu hindern. Sie schob die Erinnerung erneut beiseite, denn Beziehungen waren für sie keine Option mehr, seit Regina sie verlassen hatte.

Sie wollte lieber daran denken, wie sehr ihr die Arbeit bei Rose im Geschäft gefiel, und sie mochte Rose. Als Sarah merkte, dass ihr Herzschlag davonzueilen drohte, mahnte sie sich erneut, dass ihr Rose bloß als Chefin sympathisch war. Die Frau war einfach nett. Alles andere schlug sie sich besser aus dem Kopf. Ein für alle Mal. … Wenn das so einfach wäre.

Sarah schloss für eine Sekunde die Augen und versuchte, auf andere Gedanken zu kommen. Sie genoss es zum ersten Mal seit Langem, auf dem Bänkchen zu sitzen und die Landschaft auf sich wirken zu lassen. Zwar hatte sie in dem Dreivierteljahr, in dem sie sich in Lochearnhead niedergelassen hatte, regelmäßige Spaziergänge unternommen, aber dabei war es nie um die Schönheit der Umgebung gegangen, sondern lediglich darum, ihre körperliche Fitness nicht zu verlieren. Die Bewegung rund um den Loch Earn konnte ganz schön anstrengend sein. Ein anderer Effekt dieser schweißtreibenden Wanderungen war, dass die Erinnerungen an Regina mit jedem Schritt mehr verblassten.

In dem Moment, in dem sie vor ihrem Cottage saß und die frische Luft einatmete, beschloss sie, am nächsten Tag zum See zu spazieren und ihren Skizzenblock mitzunehmen. Diese Idee erschreckte sie, hatte sie doch seit bestimmt drei Jahren keinen Stift oder Pinsel mehr in der Hand gehabt. Ohnehin war sie davon ausgegangen, nie wieder malen zu können. Die kleinen Aquarelle, die sie ab und an bei Mildred verkaufte, waren nicht mit den Werken zu vergleichen, die sie damals auf die Leinwand gebracht hatte. Die Benutzung von Aquarellfarbe hatte für sie nichts mit Kunst zu tun. Plötzlich packte sie eine unerklärliche Lust, den Pinsel neuerlich über die Leinwand tanzen zu lassen. Vielleicht war ihre Fähigkeit, ein Motiv auf dem Papier festzuhalten, nicht vollends in der Versenkung verschwunden. Sarah hoffte es inständig. Allein der Gedanke an den glatten Holzpinsel in ihrer Hand ließ ihre Finger vor lauter Freude kribbeln, an einer Skizze zu arbeiten, sich nur auf diesen Vorgang zu konzentrieren. Damals war ihr Kopf in solchen Augenblicken stets frei von anderen Dingen gewesen. Es hatte sich angefühlt wie Meditation.

Am Sonntag erwachte Sarah besonders früh. Sie hielt es im Bett nicht mehr aus, musste ihren Plan vom Vortag gleich in die Tat umsetzen. Sie musste wissen, ob das Skizzieren leicht von der Hand ging oder ob es einige Übung erfordern würde. Ihr kam der Spruch einer Dozentin der Akademie in den Sinn: „Malen verlernt man nicht. Es ist wie Radfahren. Das bekommt man ebenso hin, wenn man eine Weile nicht gefahren ist. Und so wird es mit dem Malen auch sein. Ab jetzt werden Sie es nicht mehr los.“ Während des Studiums war Sarah dieser Satz wie eine Offenbarung erschienen. Als sie mit dem Malen abschloss – das dachte sie jedenfalls nach dem Desaster mit Regina – war er ihr wie ein Fluch vorgekommen. Die inneren Bilder, die beim Skizzieren und Malen vor der Leinwand an ihr vorüberliefen, hatten sie lange Zeit nicht losgelassen und sie in Angst und Schrecken versetzt. Sie hatte nie wieder malen wollen, nie wieder einen Pinsel halten wollen, nie wieder Farben zum Leuchten bringen wollen, weil es ihrer desolaten Situation nicht angemessen erschienen war. Seit Regina sie verlassen hatte, war es ihr nicht mehr möglich gewesen, sich auf eine Leinwand oder ein Skizzenblatt zu konzentrieren.

Jetzt hoffte Sarah inständig, dass diese Phase vorbei war, denn alles in ihr brannte danach, den Pinsel zu schwingen. Sie wollte die Landschaften in ihrer eigenen Interpretation nicht nur skizzieren, sondern sie anschließend auf die Leinwand bannen und sie darauf lebendig werden lassen. Sarah selbst wollte sich wieder lebendig fühlen. Ihr Puls raste. Würde ihr all das gelingen? Wollte sie nicht zu viel auf einmal?

Sarah trat samt Skizzenblock und Stiften in die Sonne. Sie atmete tief ein. Herrlich, diese klare Morgenluft. Der Atem strömte durch ihren Körper und ließ ihn wacher werden. Mit großen Erwartungen ging sie hinunter zum See zu einer Stelle, die in der Morgendämmerung eine großartige Stimmung verbreitete. Dort würde sie mit den ersten Skizzen beginnen.

Sarah hatte den ganzen Tag am See verbracht, hatte Licht und Schatten an verschiedenen Plätzen am See skizziert. Als sie nach ihrer Rückkehr die Skizzen auf dem Esstisch nacheinander betrachtete, war sie mit dem Ergebnis mehr als zufrieden. Frau Professor Schön hatte recht gehabt: Man verlernte das Malen nicht. Diese Zeichnungen waren besser als alles, was sie bisher zustande gebracht hatte. Schon die Skizzen wirkten lebendiger als alles, was sie je in ihrem Leben geschaffen hatte.

Morgen würde sie damit beginnen, die besten Motive auf der Leinwand umzusetzen. Die Vorfreude ließ wiederum ihre Finger bis in die Arme hinauf vibrieren. Sie stieg auf den Dachboden, um die versteckte Kiste mit den Farben hervorzuholen. Wo war eigentlich die Staffelei abgeblieben?

Weg aus der Einsamkeit

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