Читать книгу Weg aus der Einsamkeit - Emma zur Nieden - Страница 13
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Mit stolzgeschwellter Brust stand Sarah in einiger Entfernung vor ihrem Bild. Sie hatte es soeben aufgehängt. Es nahm einen großen Teil der oberen Wandfläche über dem Tresen ein, auf dem die Kasse stand, und verbreitete eine besondere Stimmung in Roses kleinem Ladenlokal. Melancholie gepaart mit einer großen Kraft, erzeugt durch die intensive Darstellung von Licht und Schatten, die sich auf dem Glen Ogle spiegelten. Rose hatte Sarah gebeten, das Gemälde des Hausbergs der Gegend aufzuhängen statt des Motivs vom See. Und Sarah hatte ihr zugestimmt, denn schließlich zierte der Berg sämtliche Etiketten der verschiedenen Whiskysorten, passte also hervorragend zum Geschäft.
Sarah war vollkommen in ihrem Element gewesen, als sie die nötigen Vorarbeiten für das Aufhängen eines Gemäldes vorgenommen hatte. Wie lange hatte sie das nicht mehr getan? Es fühlte sich so wunderbar an. Es war, als wäre Sarah ganz sie selbst gewesen, weil sie endlich Dinge tat, die mit ihrer Kunst im Zusammenhang standen. Ihre Kunst überhaupt gab ihr Sicherheit. Die Sicherheit, allmählich in dem Leben anzukommen, in das sie gehörte. Die akribische Genauigkeit, mit der sie die Farben mischte, damit sie einem Bild eine besondere Note verlieh. Wie sie mit dem Pinsel Akzente setzte, um einem Gemälde eine einmalige Atmosphäre zu verleihen. Hätte sie jemand gefragt, hätte sie in genau dieser Sekunde gesagt, sie wäre glücklich.
Noch immer stand Sarah vor dem Gemälde. Ursprünglich wollte Rose dafür bezahlen, aber Sarah hatte sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, weil sie es Rose schenken wollte. Einem handfesten Streit waren sie durch den Kompromiss, dass es eine Leihgabe war, aus dem Weg gegangen. Somit stand dieses Bild nicht zum Verkauf, würde aber die Kunden im Laden sicherlich sofort in seinen Bann ziehen.
Außer dem Gemälde des Glen Ogle hatte Sarah zwei weitere für das Geschäft zur Verfügung gestellt, die sie allerdings zum Verkauf freigegeben hatte.
Gemeinsam mit Rose platzierte Sarah die kleinen Whiskypröbchen zwischen die Probiergläser, damit die seitliche Wand frei für Sarahs etwas kleinere Werke war.
„Schau!“ Rose hängte einen kleinen Rahmen mit einem gelben Blatt neben das eine Bild. „Da steht schon der Titel deines Gemäldes.“
Lächelnd betrachtete Sarah den Schriftzug: Einsamkeit, Sarah Stein, 2018.
„Fehlt nur noch der Preis“, sagte Rose und sah sie auffordernd an.
„Nein, den brauchen wir nicht“, entgegnete Sarah fest.
Rose stemmte die Hände in die Hüften. „Aber …“
„Wenn jemand interessiert ist, wird er schon danach fragen“, unterbrach Sarah und unterdrückte ein Grinsen. Aus Erfahrung wusste sie, dass jemand sich nur dann nach dem Preis erkundigen würde, wenn er echtes Interesse an dem Gemälde hatte.
„Und was antworte ich in dem Fall?“, fragte Rose und wirkte fast überfordert.
„Das sehen wir, wenn es soweit ist.“ Sarah blieb bei diesem Thema die Ruhe selbst. Erst vorhin hatte sie das Werk mit einem Paragrafenzeichen am rechten unteren Rand signiert – das Zeichen zweier ineinandergeschobener „S“, den Anfangsbuchstaben ihres Namens. Sie verwendete es seit ewigen Zeiten zum Signieren ihrer Bilder. Dieses Signet hatte sie während des Kunststudiums an der Akademie Düsseldorf entwickelt. Es war ein komisches Gefühl gewesen, es erneut zu benutzen, als wäre das Malen und Signieren etwas aus einem anderen Leben. Genau genommen war es das, dennoch fühlte sich die künstlerische Gestaltung einer Leinwand absolut richtig an.
„Und was ist, wenn du nicht da bist?“, muffelte Rose weiter und unterbrach Sarahs Gedanken.
„Lass den Kunden einen Preis vorschlagen. Und wenn du damit nicht zufrieden bist, verkaufst du nicht. So einfach ist das.“ Roses „Hmpf“ machte deutlich, dass sie mit dieser Lösung äußerst unzufrieden war, aber Sarah war nicht bereit, einen Preis festzulegen.
Als Rose die Tür des Ladens aufschloss, traten bereits die ersten Besucher ein, die seit einiger Zeit vor dem Shop gewartet hatten. Das Bild vom Glen Ogle zog sofort die Aufmerksamkeit der Eintretenden auf sich und saugte sie förmlich in das Geschäft, bevor sie sich den Whiskys widmeten. Das Motiv fand sich im Raum verteilt in den – etwas antiquierten Etiketten – der Whiskyflaschen, in den Probiergläsern, auf anderen Mitbringseln. Aus den Augenwinkeln konnte Sarah erkennen, dass Rose lächelte.
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Sarah ging in die Knie, um den nächsten Karton aufzuheben. Sie reichte Rose das Behältnis voller kleiner Whiskyflaschen. Die beiden sahen sich einen winzigen Moment tief in die Augen, bevor Sarah den nächsten Karton aufhob, um ihn Rose anzureichen. Nach einigen Hebeaktionen lehnte Sarah sich an das Regal. Schweißperlen rannen ihr über die Stirn hinab durch ihr Gesicht.
Rose hielt zwangsläufig inne, denn sie wartete auf Nachschub. „Es ist wirklich nett von dir, dass du mir außerhalb der Arbeitszeit beim Umräumen hilfst“, sagte Rose.
Sarah wagte erneut einen intensiven Blick in diese bezaubernden leuchtend grünen Augen. Sie hatte nach Ladenschluss ohnehin nichts anderes vorgehabt. „Das mache ich herzlich gern“, sagte sie lächelnd. „Außerdem bezahlst du mich dafür – du erinnerst dich dunkel?“ Ihr Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. Sarah stieß sich von dem Regal ab, um Rose den nächsten Karton anzureichen. Obwohl sie vor einiger Zeit die Wandverschraubung der Regale angezogen hatte, hatten sie sich wieder gelockert. Sie schwankten und drohten nach vorn zu stürzen. Hier mussten schwerere Geschütze aufgefahren werden, als nur Schrauben festzuziehen.
Geistesgegenwärtig stemmten sie sich gemeinsam Schulter an Schulter gegen das Regal, damit es nicht umfiel und die wertvolle Ware den Kellerboden in einen Alkoholsee verwandelte.
„Meinst du, du schaffst es allein, das Teil vom Fallen abzuhalten?“, fragte Sarah atemlos. „Ich bohre dann ein paar Winkel in die Wand und fixiere es, wenn du es hältst.“ Sie schüttelte innerlich den Kopf. Wenigstens lag noch eine Packung Winkel in der Ablage über dem Werkzeugkasten. „Wie konntet ihr nur all die Jahre ohne eine ausreichende Befestigung mit so viel Gewicht hantieren?“ Sie deutete mit dem Kinn zur einzigen Fixierung am Regal, die sich deutlich sichtbar gelockert hatte. „Ich habe mir damals schon gedacht, dass das bloße Festschrauben nicht reichen könnte.“
„Ich habe keine Ahnung.“ Roses Antwort kam sehr leise, als wäre sie sich ihrer Schuld bewusst. Sie atmete ebenfalls schwer, weil das Gewicht des Regals offensichtlich all ihre Kraft erforderte.
„Pass auf, wir machen es so: Ich lasse das Regal vorsichtig Stück für Stück los und du sagst mir, ob das Gewicht für dich zu halten ist. Auf diese Weise kann ich jederzeit zupacken.“
„Sonst kommen wir nie hier raus“, ächzte Rose. „Versuchen wir´s.“
Sarah zog sich nach und nach vom Regal zurück. „Geht es?“, fragte sie. Rose nickte. „Aber ich weiß nicht, wie lang ich das kann.“
„Okay. Ich nehme einfach die Kartons heraus, und du sagst mir, wenn du das Regal bequem halten kannst. Dann befestige ich zwei oder drei Winkel auf jeder Seite.“
„Gut.“
Schweißperlen auf Roses Stirn spiegelten ihre enorme Anstrengung wider. Die Erleichterung war ihr anzusehen, als Sarah bestimmt fünf Kartons vom Regal genommen hatte. So würde Rose gegenhalten können, bis Sarah das Regal sicher an der Wand befestigt hätte.
„Jetzt geht´s“, bestätigte Rose Sarahs Gedanken. „Ich glaube, ich kann das Regal eine Weile halten, ohne dass es uns auf den Kopf fällt.“
Mit großen Schritten durchquerte Sarah den Kellerraum, um die Bohrmaschine, die Winkel und ein paar Schrauben mit Dübeln aus dem Nachbarraum zu holen und in Reichweite zu legen. Sie musste die Werkzeuge und Hilfsmittel mühsam zusammensuchen. Im Werkzeugkasten herrschte eine große Unordnung. Sarah schüttelte den Kopf. Im Geschäft war Rose super organisiert, aber was die praktische Seite anging …
Sarah trat neben das wacklige Regal und setzte die Bohrmaschine an, um die erforderlichen Löcher zu bohren. Sie versenkte die Dübel in die Löcher und drehte die Schrauben an den Winkeln ein. Um sicherzugehen, wiederholte sie den Vorgang auf jeder Seite dreimal. Sie stellte sich neben Rose und sagte: „Lass mal vorsichtig los. Sollte das Regal nicht fest genug sein, stemmen wir weiterhin dagegen.“
Langsam lockerte Rose den Griff.
Die Dübel schienen es zu halten. Ängstlich stand Rose dicht davor, damit das Regal sich nicht selbständig machte. Sarah rüttelte leicht an dem Regal. Es bewegte sich nicht. „Scheint zu funktionieren. Vorsichtshalber verstärke ich die neuen Winkel mit einem weiteren Winkel darüber. Danach dürfte es wirklich fest sein.“ Gesagt getan. Die Erleichterung war Rose anzusehen. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Nach dem Fixieren der übrigen Regale lehnte sich Sarah gegen jenes, das sie soeben bombenfest mit der Wand verschraubt hatte. Rose tat es ihr nach und nickte bewundernd. „Woher kannst du so etwas?“, wollte sie außer Atem wissen. „Das habe ich mich schon gefragt, als du deine Bilder aufgehängt hast.“
Sarah zuckte mit den Schultern. „Ich kann es einfach. Ich hab mir mal eine Bohrmaschine geschnappt und konnte mit ihr umgehen.“ Erneut versank Sarah in Roses Augen. Was für ein Leuchten. Sarah wollte den Gedanken wegschieben, aber er blieb hartnäckig da. Obwohl sie innerlich den Kopf schüttelte, ließ ihre Hand sich nicht davon abhalten, Rose einen Schweißtropfen von der Stirn zu wischen und ihr die schweißfeuchten Haare hinter ihr Ohr zu schieben.
Plötzlich stand Rose ganz dicht neben ihr. Fast berührten sich ihre Münder. Sarah spürte den warmen Atem auf ihren Lippen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Wann war sie zuletzt einer Frau so nahe gewesen? Rose näherte sich Sarahs Mund millimeterweise. Und als sie nicht zurückwich, drückte Rose ihr einen sehr sanften Kuss darauf. Betörend. Statt die Lippen zu lösen, vertiefte Rose den Kuss, bat um Einlass. Völlig überrumpelt öffnete Sarah den Mund und ließ Roses Zunge ein, die ganz vorsichtig mit Sarahs spielte. Was tat sie hier? Bevor die Panik Sarah überwältigen konnte, befreite sie sich aus der Fast-Umarmung und ließ Rose schwer atmend wissen: „Ich muss gehen. Bis morgen.“ Wie von der Tarantel gestochen, erstürmte sie die Treppen und verließ fluchtartig den Laden. Sie hatte nicht einmal ihre Sachen aus dem Spind geholt.