Читать книгу Weg aus der Einsamkeit - Emma zur Nieden - Страница 11
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Rose war an einem Sonntagnachmittag zu einem ausgedehnten Spaziergang aufgebrochen. Der Brunch, den sie gewöhnlich am Sonntag gemeinsam mit ihrer Familie einnahm, hatte sie sehr aufgewühlt. Ihre Eltern hatten sie während des Hauptganges gefragt, ob sie nicht lange genug um Karen getrauert hätte und nicht jemand Neues in ihr Leben lassen wollte. Ihnen war wohl aufgefallen, dass Roses Fröhlichkeit nach Karens Tod nicht mehr nur aufgesetzt war, sondern dass eine neue Leichtigkeit sie umgab, was sie offensichtlich dazu animiert hatte, einen solchen Vorschlag zu wagen. Zwar zog Rose sich nach der Arbeit nach wie vor zurück und wiegelte alle Versuche ab, sie aufmuntern zu wollen. Dennoch war den Eltern scheinbar nicht entgangen, dass sich an Roses Verhalten in den letzten Wochen etwas verändert hatte.
Als Roses Eltern den Namen „Karen“ nur erwähnt hatten, waren vor ihrem inneren Auge augenblicklich die Erinnerungen an die letzten Tage mit Karen aufgetaucht. Rose hatte ihre Partnerin bis zu deren Tod gepflegt. Keine Sekunde hatte sie die geliebte Frau aus den Augen lassen wollen, hatte alle Arbeiten im Betrieb stehen und liegen lassen, um bei Karen zu sein. Die Familie hatte sie in all dem aufrichtig unterstützt.
Das wohlmeinende Angebot der Mutter, sie einmal an Karens Bett abzulösen, hatte sie stets dankend abgelehnt. Zu groß war ihre Angst gewesen, in der Stunde des Todes nicht mehr für die Geliebte da zu sein, sie in ihrem letzten Moment nicht halten zu können. Deshalb hatte sie sich kaum eine Pause gegönnt, hatte wochenlang einen sehr leichten Schlaf gehabt, um für alle Eventualitäten gerüstet zu sein. Bis an den Rand der Erschöpfung war sie für Karen da gewesen.
Eine tiefe Dankbarkeit erfüllte sie, dass es ihr vergönnt gewesen war, im Augenblick des Todes an Karens Seite gewesen zu sein. Sie hatte Karen im Arm gehalten, als der Tod kam. Die halbe Nacht hatte sie so mit der verstorbenen Karen gelegen, und um sie geweint.
Rose schnäuzte sich und wischte die Tränen aus ihrem Gesicht.
Als Rose ihre Lebensgefährtin gepflegt hatte, war sie auf ein Gerippe abgemagert. Mittlerweile hatte sie jedoch einiges an Gewicht zugelegt und fühlte sich so mollig wie zu ihren glücklichsten Zeiten mit Karen. Rose lächelte. Ihre Mutter hatte sie damals aufgepäppelt und ihr vorgeschlagen, in der Mittagspause des Ladens die Besprechungen mit einer Mahlzeit zu verbinden. Ihre Mutter packte seitdem einen Topf mit den leckersten Köstlichkeiten ein. Rose und ihre Mitarbeiterinnen waren begeistert.
Als sie sich beim Brunch an den Moment von Karens Tod erinnert hatte, waren die Tränen ungehindert geflossen, und sie hatte sofort an die frische Luft gemusst, sonst wäre sie vor Trauer explodiert. Im Esszimmer der Eltern hatte sie das Gefühl gehabt, nicht mehr atmen zu können. All die mitleidigen Blicke hatten es ihr unerträglich schwer gemacht. Außerdem wollte Rose nicht, dass ihre Familie die Tränen sah, die sie in der Erinnerung an Karens Tod nach wie vor vergoss. Bislang war es ihr so vorgekommen, als wäre nicht ein einziger Tag seit Karens Tod vergangen, als wäre es erst vor ein paar Minuten passiert. Aus den Augenwinkeln hatte sie gesehen, dass ihre Mutter die Tränen bereits bemerkt hatte. Um ihr Mitgefühl zu zeigen, hatte sie sanft Roses Arm gedrückt. Rose hatte sie von sich gestoßen und sich überstürzt vom Tisch erhoben und war in die Weite der Ebenen und Wälder des Lochs geflüchtet.
Erst allmählich fing sie sich. In der melancholischen Stimmung der Landschaft beruhigten sich ihre Gedanken. Sie konnte ihre Aufmerksamkeit auf die Natur lenken. Die Heftigkeit des Ausbruchs hatte sie selbst überrascht. Immerhin waren bereits zwei Jahre seit Karens Tod vergangen. Der Schmerz wurde trotzdem nicht geringer. Die Zeit heilte nicht alle Wunden, wenn Rose auch im Alltag funktionierte und agierte wie immer. Was das Verbergen ihrer Gefühle anging, war sie bisher eine gute Schauspielerin gewesen.
Allerdings hatte sie selbst in letzter Zeit bemerkt, dass sich tief in ihrem Inneren etwas zu verändern begann. Der heftige Ausbruch beim Essen entsprach nicht mehr vollständig ihren sich wandelnden Gefühlen. Sie konnte sich nicht erklären, warum sie sich plötzlich anders fühlte. Die vage Ahnung einer Ursache verbannte sie in die hintersten Gehirnwindungen. Der Ausbruch vorhin war der tiefen Trauer um Karen geschuldet, die trotz allem unaufhörlich in ihr war.
Rose war seit bestimmt einer Stunde unterwegs. Mit jedem Schritt wurde sie ruhiger. Die Natur verfehlte ihre wohltuende Wirkung auf sie nicht. Immer schon. Als Karen die Diagnose Brustkrebs bekommen hatte, waren sie zunächst gemeinsam gewandert und hatten auf diese Weise das Schreckgespenst verscheucht. Sie hatten besprochen, was passieren könnte und wie sie vorgehen würden. Als Karen nicht mehr in der Lage gewesen war, mitzugehen, hatte Rose auf ihren Wanderungen in der Natur Kraft für Karens Pflege gefunden und Stärke. Nur zum Schluss war sie rund um die Uhr für die Gefährtin da gewesen.
Als Rose in der Ferne eine Person vor einer Leinwand ausmachte, war sie überrascht, in der Einsamkeit jemandem zu begegnen. Die Überraschung nahm zu, als sie Sarah beim Näherkommen an ihrer Silhouette erkannte. Rose verharrte in einem großen Abstand zu ihr. Sie wusste nicht, ob sie sich ihr zu erkennen geben oder so tun sollte, als hätte sie sie nicht gesehen und ihre Wanderung fortsetzen. Privates hatten sie bisher nicht ausgetauscht, und Rose konnte überhaupt nicht einschätzen, ob es Sarah recht wäre, wenn sie in dieser Abgeschiedenheit auf ihre Chefin treffen würde. Bevor Rose eine Entscheidung traf, blieb sie stehen und beobachtete Sarah beim Malen. Das war die dritte Überraschung. Rose wusste, dass Sarah bei Mildred Aquarelle verkaufte, aber dass sie erheblich größere Motive auf Leinwände brachte, war ihr vollkommen neu. Sarah stand mit dem Rücken zu Rose vor der Staffelei und neben ihr auf der einen Seite ein kastenartiges Holzgestell, in dem scheinbar Leinwände steckten, und auf der anderen Seite ein großer aufgeklappter Koffer mit Ölfarben. Er diente Sarah offensichtlich als Tisch, denn Tuben und ein Marmeladenglas befanden sich darauf. Sarah schien sehr konzentriert die Farben von ihrer Palette auf die Leinwand aufzutragen. Da Rose nur Sarahs Rücken zu sehen bekam, war deren Gesichtsausdruck verdeckt. Aber Rose erkannte große Teile des Bildes, das die naturgetreue Wiedergabe des Lochs unter ihnen zeigte. Sarah hatte die Nachmittagsstimmung, die Licht und Schatten erzeugten, perfekt eingefangen: Zwischen Friedlichkeit und Melancholie lag das Loch von Wäldern umgeben da. Sarahs Bild erfasste genau das.
Erstaunlich, dass im Laden eher Sarahs praktische Veranlagung zutage trat und auch die kleinen Aquarelle bei Mildred zeigten nicht die tiefgründige künstlerische Seite, die Rose beim Blick auf die Leinwand zu spüren glaubte. Allerdings hatten beide bisher auch noch keine tiefer gehende Unterhaltung geführt. Aber davon, dass Sarah mit den Farben und dem Pinselstrich eine so intensive Stimmung erzeugen konnte, war Rose überrascht und überwältigt zugleich. Im Laden vergeudete Sarah augenscheinlich ihr Talent.
Bei einer Gewichtsverlagerung von einem Bein auf das andere, trat Rose auf einen Ast, der die friedliche Stille durch ein lautes Knacken durchbrach.
Sarah zuckte zusammen und blickte sich langsam um, offensichtlich verängstigt, was sie hinter ihrem Rücken erwartete. Als Sarah Roses Gesicht erkannte, wechselte es von entsetztem Erschrecken zu freundlicher Erleichterung. Gleichzeitig entspannten sich ihre Schultern und sanken herab.
Vielleicht verriet ihr Blick sogar verhaltene Freude. Das jedenfalls hoffte Rose. Sie setzte sich in Bewegung und ging auf Sarah zu. Leise begrüßte sie sie.
Sarah nickte zurückhaltend.
„Es tut mir leid, dass ich dich gestört habe“, entschuldigte Rose sich. „Ich war so fasziniert von deinem Bild. Ich musste einfach stehen bleiben.“
„Ich war so ins Malen vertieft, dass ich mich sehr erschreckt habe.“
„Tut mir wirklich leid“, wiederholte Rose.
„Ist schon gut.“ Sarah drehte sich um, um einen energischen Pinselstrich zu setzen.
„Du hast die Stimmung perfekt eingefangen“, lobte Rose das Bild. Sie wusste selbst nicht, warum sie den Malprozess schon wieder störte. Sie hätte einfach weitergehen können.
Langsam drehte sich Sarah erneut um. „Danke.“ Ein unsicheres Lächeln umspielte ihre Lippen. Sofort relativierte sie Roses Lob: „Die Natur zeigt sich in diesem Moment einfach von ihrer besten Seite.“
„Aber du hast sie realistisch auf deine Leinwand gebannt“, beharrte Rose auf ihrem Urteil. „Das ist ein fantastisches Bild. Du hast Licht und Schatten wirklich gut in Szene gesetzt. Die melancholische Stimmung ist zum Greifen nah.“
Sarahs Wangen zeigten eine leichte Röte und sie senkte den Blick, als wäre ihr Roses Lob unangenehm und angenehm zugleich. Sie begann damit, ihre Sachen zusammenzupacken.
„Ich habe dich so sehr gestört, dass du nicht mehr weitermachen willst?“, fragte Rose betroffen.
„Nein.“ Sarah lächelte sie zaghaft an. „Ich sitze seit Sonnenaufgang hier und bin jetzt mit dem letzten fertig. Es war nur noch dieser eine Strich.“
„Du hast noch mehr Bilder gemalt?“ Rose deutete auf den Holzkasten, in dem weitere Leinwände in luftigem Abstand steckten, ohne sich zu berühren.
Sarah nickte und säuberte die Pinsel in einem mit einer ölig wirkenden Flüssigkeit befüllten Glas, das sie anschließend verschloss und im Koffer verstaute. Rose lächelte ob Sarahs geordnetem Vorgehen, denn es passte zu dem Bild einer zuverlässigen Person, das Rose von Sarah nach dem holprigen Beginn bei ihr im Laden bekommen hatte.
„Darf ich sie sehen?“ Rose sah erwartungsvoll in Sarahs Richtung. Die aber konzentrierte sich auf das Zusammenpacken ihrer Utensilien. „Sicher“, antwortete sie mit Blick auf ihre Pinsel. Ihr Kopf war gesenkt, als hätte sie Angst vor Roses Urteil.
Rose ging einen Schritt auf den offenen Holzkasten zu und zog die erste Leinwand vorsichtig aus der Halterung nach oben. Erst dann drehte sie sie um, damit sie das Motiv sehen konnte. Es zeigte die Morgendämmerung mit den für diese Jahreszeit üblichen Nebelschwaden. Desgleichen hatte Sarah hier die morgendliche Stimmung perfekt erfasst. Auf dem zweiten Bild war ein Teil des rötlichen Sonnenballs zu sehen. Das dritte Bild schließlich zeigte die Sonne, während sie langsam ihren höchsten Punkt erklomm. Das Einfangen der Morgenstimmung, die Melancholie einerseits und die Klarheit der Farben andererseits berührten etwas tief in Roses Innerem. Sie hätte nicht benennen können, was genau es war, aber es ließ sie ihren Schmerz vergessen. Den Schmerz, den die Erinnerung an Karens Tod in ihr ausgelöst und der sie während ihrer Wanderung begleitet hatte.
„Das ist ein Triptychon“, erklärte Sarah, den Blick weiterhin auf die Pinsel gesenkt, die sie gewissenhaft in der Pinselmappe befestigte.
„Und ein unglaublich schönes und intensives.“ Roses durchfuhr Wärme beim Anblick der wunderbaren Gemälde. Und sie würden geradezu exzellent in die Eingangshalle ihres Hauses passen. Ob Sarah ihr eines verkaufte? Sie traute sich nicht, danach zu fragen. Vielleicht später.
„Sie gefallen dir?“ Sarah hatte die Mappe mit den Pinseln in ihren Rucksack gepackt und sah Rose von der Seite an.
„Sehr!“ Roses Blick ruhte versonnen auf den Bildern.
„Ich schenke sie dir.“ Sarahs Ton war leichthin, als ginge sie ihre Arbeit gar nichts an. Das versetzte Rose einen Stich, den sie nicht erklären konnte.
„Das kann ich nicht annehmen. Sie sind so gut. Du musst etwas dafür nehmen. Was willst du haben?“
„Gar nichts.“ Sarah blickte tief in Roses Augen und hielt sie über mehrere Sekunden fest. „Ich habe ewig nicht gemalt. Es ist nur ein erster Versuch, der weit entfernt von gewohnter Professionalität ist. Es wäre nicht richtig, Geld dafür zu nehmen.“
„Wenn das dein erster Versuch ist, wie sehen erst deine professionellen Bilder aus?“ Rose war mehr als beeindruckt. Mit einem Schlag traf sie die Erkenntnis. Sie schlug sich mit der Hand vor die Stirn. „Du bist eigentlich Malerin.“
Sarah sprach sehr leise, als sie sich aus Roses Augen löste. „Ich war es – vor sehr langer Zeit.“
„Nein“, rief Rose überzeugt. „Du bist es immer noch. Und zwar eine ganz einfühlsame. Du bist eine große Künstlerin.“
Obwohl Sarah sich rasch umdrehte, um die Staffelei zusammenzufalten, war Rose die tiefe Röte, die Sarahs Gesicht überzog, nicht entgangen.
Leiser als zuvor erklang Sarahs Stimme. „Lass sie mich dir schenken, bitte. Für all die Unannehmlichkeiten, die ich dir am Anfang in deinem Geschäft bereitet habe.“
„Das ist ausgemachter Unsinn.“ Rose machte eine wegwerfende Handbewegung, als wischte sie Sarahs Argument beiseite. „Wenn es überhaupt welche gegeben hat, hast du sie längst ausgebügelt. Ich möchte dir etwas für diese wunderbaren Kunstwerke geben. Wenn du schon kein Geld nehmen willst, schenke ich dir eine Flasche unseres besten Whiskys.“
„Nein! Auf gar keinen Fall!“ Sarah schrie fast. Ihr Brustkorb hob und senkte sich heftig von einer Sekunde auf die andere. Panik und Entsetzen lagen in ihren Augen. Sie atmete ein paar Mal langsamer tief ein und aus. Das schien sie zu beruhigen. „Dafür gebe ich sie dir nicht. Entweder ich schenke sie dir oder du bekommst sie nicht.“ Sie klang trotzig und verletzt gleichermaßen.
Rose fühlte sich kurz vor den Kopf gestoßen, konnte sich Sarahs heftige Reaktion, diese brüske Ablehnung, nicht erklären. Was hatte sie plötzlich so aus der Fassung gebracht? Hing es vielleicht mit Sarahs Vergangenheit zusammen, dass sie so emotional reagierte? Natürlich hatte sie eine Vergangenheit, eine als Malerin, wurde es Rose soeben erst bewusst. Und sie musste etwas erlebt haben, was sie davon abgebracht hatte. Sie wollte ihr um Himmels willen nicht wehtun. Es war, als machte sich plötzlich eine Zärtlichkeit für Sarah in ihr breit. Am liebsten hätte sie Sarah an der Schulter berührt.
„Ich will sie nicht geschenkt.“ Rose sprach voller Sanftmut. Sarah hatte mehr als gute Arbeit geleistet, ein Gegenwert stand ihr dafür unbedingt zu. Rose kam es so vor, als würde sie Sarah übers Ohr hauen, wenn sie ihr nicht eine angemessene Gegenleistung gab.
„Auch gut, dann behalte ich sie.“ Sarahs Stimme hatte sich normalisiert. Sie packte weiter ihre Malutensilien zusammen und schickte sich an, die Staffelei unter ihren Arm zu klemmen.
„Ich helfe dir beim Tragen, wenn du willst“, bot Rose in mildem Ton an, ließ ihr aber bewusst die Option der Ablehnung.
Sarah nickte und hielt ihr die Leinwände hin, die gut verstaut in dem Holzkasten steckten, in den sie oben eine Lederschlaufe eingehakt hatte. Mit dem Rucksack auf dem Rücken und der sperrigen Staffelei in den Händen machte Sarah sich auf den Rückweg zu ihrem Cottage.
Rose folgte ihr. Obwohl sie den langen Weg schweigend zurücklegten, fühlte sich Rose in Sarahs Gegenwart gut aufgehoben. Sie fand ihr Schweigen sogar wohltuend.
Am Cottage angekommen stellte Sarah die Staffelei im Flur auf und nahm Rose die Bilder ab. „Willst du mit reinkommen?“
Sarahs Tonfall ließ die Wärme vermissen, die Rose veranlasst hätte, auf einen Tee zu bleiben. Sie schüttelte den Kopf. „Ich muss los. Wir sehen uns übermorgen.“ Sie brauchte Bewegung und offensichtlich legte Sarah keinen Wert auf ihre weitere Gesellschaft. Dabei hatte Rose während des Rückweges das Gefühl einer stillen Übereinkunft gehabt. Scheinbar hatte sie sich getäuscht. Sie drehte sich um und trat den Heimweg an.
9
Nach einem langen Arbeitstag verschwand Rose in das Hinterzimmer ihres Shops. Sarah folgte ihr und fragte leise: „Hast du Lust, mich nach Hause zu begleiten? Ich habe gestern Abend Scones gebacken und könnte uns einen Tee kochen. Außerdem schmeckt Mrs Grindlers Marmelade dazu ausgezeichnet.“
„Wer ist Mrs Grindler?“ Rose kannte niemanden mit einem solchen Namen. Sie war überrascht und hatte nicht mit einer Einladung gerechnet. Zudem brauchte sie einen Augenblick, um zu überlegen, ob sie der Einladung folgen sollte. Sie erinnerte sich schmerzlich an die abweisende Sarah von Sonntag.
„Meine Vermieterin.“
Rose brach in unbändiges Lachen aus, als sie merkte, wen Sarah meinte. „Ich wusste nicht, dass Gillian mit Nachnamen Grindler heißt.“ Sie grinste und beschloss in dem Augenblick, in dem Sarah ein so verdattertes Gesicht machte, dass ihr am liebsten erneut ein unkontrolliertes Lachen entschlüpft wäre, der Einladung zu folgen. „Ich komme gern“, sagte Rose weich. Sie hatte heute kaum ein Wort mit Sarah gewechselt. Die starke Ablehnung, die ihr Vorschlag am Wochenende eingebracht hatte, Sarah das Triptychon abzukaufen, nagte an ihr. Außerdem war Sarah fast den ganzen Tag unterwegs gewesen, um Whisky auszuliefern.
„Fährst du mit mir? Dein Fahrrad nehmen wir auf der Ladefläche mit“, schlug Rose vor.
„Okay.“ Sarah zog ihren Mantel an und legte sich den Riemen ihrer Tasche auf die Schulter.
Die Fahrt zum Cottage verlief ebenso schweigsam wie der Rückweg vergangenen Sonntag. Es war, als würden sich beide Frauen fürchten, in der anderen so heftige Reaktionen hervorzurufen wie am Wochenende.
Nachdem Rose den Wagen auf dem Parkplatz abgestellt hatte, betraten die beiden den kleinen Fußweg zu den Cottages. Als sie an Sarahs Häuschen ankamen, bat Sarah Rose herein. Sie entledigten sich der Mäntel, und anschließend führte Sarah Rose in ihr Wohnzimmer, bevor sie in der Küche Tee zubereitete. Zwischendurch brachte Sarah ein Tablett mit Scones, Butter und Marmelade zu Rose, stellte es auf dem Couchtisch ab.
„Der Tee zieht noch, bin gleich wieder da“, sagte Sarah und ging zurück in die Küche.
Währenddessen schaute Rose sich im liebevoll eingerichteten Wohnzimmer um. Anscheinend hatte Sarah das Cottage möbliert übernommen, aber versucht, ihm eine individuelle Note zu verleihen. Den Tisch vor der Couch zierte ein farbenfroher Läufer, der das dunkle Zimmer etwas freundlicher wirken ließ. Dasselbe schaffte eine knallgelbe Decke, mit der die Couch überzogen war. Sie harmonierte mit dem Tischläufer.
Ein Regal schien Sarah selbst angeschafft zu haben. Es unterschied sich von der übrigen Einrichtung. Gillian hatte sicher nicht vorgesehen, dass ihre Mieter Bücher lasen. Jedenfalls quoll das Regal nur so über von Werken über Kunst und Literatur. Bildbände. Paula Modersohn war Rose gänzlich unbekannt. Das Cover des Bandes zierte ein düster gehaltenes Bild und passte so gar nicht in Sarahs freundliches Wohnzimmer. Die weiteren Kunstbände verrieten ein ebenso breit gefächertes Interesse wie die vielen verschiedenartigen Titel im Literaturbereich. Sarah schien sehr belesen zu sein. Sogar die englischen Klassiker waren zu finden. Virginia Woolfs Orlando. Das war eindeutig Roses Lieblingsbuch. Sie lächelte.
Sarah betrat den Raum mit einer Teekanne, die sie auf dem Tisch abstellte.
„Milch und Zucker?“ Sarah drehte sich zu Rose, die locker am Regal lehnte.
„Schwarz.“ Rose lächelte noch immer und begab sich zur Couch. „In diesem Fall bin ich wohl keine richtige Schottin. Ich mag meinen Tee am liebsten schwarz.“
„Da haben wir etwas gemeinsam.“ Sarah goss das dunkel leuchtende Getränk in die zwei Becher, die sie auf den Tisch gestellt hatte und verteilte die Teller mit den Scones. Sie öffnete die Marmeladengläser, bestückte sie mit Teelöffeln und nahm den Deckel von der Butterdose. Sarah setzte sich Rose gegenüber auf den einzigen Sessel im Raum, auf den im Kontrast zur gelben Couch ein Tuch in Lavendel drapiert war.
Die Komplementärfarben, stellte Rose fest und wunderte sich, dass diese lückenhaften Kenntnisse aus ihrem Kunstunterricht vor vielen Jahren übrig geblieben waren. Sarah war Künstlerin durch und durch.
„Du hast es dir richtig gemütlich gemacht.“ Rose deutete auf die Überwürfe für den Sessel und die Couch sowie den Tischläufer.
„Ich mag fröhliche Farben“, erklärte Sarah. „Und wenn du das düstere Zimmer ohne die Accessoires gesehen hättest, hättest du sicher gleichermaßen mit knalligen Farben versucht, es freundlicher zu gestalten.“
Rose traf ein tiefer Blick, der ihren Puls beschleunigte.
„Eine depressive Umgebung war so ziemlich das Letzte, was ich bei meiner Ankunft hier gebrauchen konnte.“
Rose versank in Sarahs Augen. Sie löste sich aus dem dunklen Blau, nickte zustimmend und bestrich den Scone auf ihrem Teller mit Butter und Marmelade. Sie nahm einen Bissen davon. „Mhhh! Der ist aber lecker.“ Genießerisch schloss sie die Lider.
„Freut mich, dass es dir schmeckt.“ Sarah hielt einen Moment inne, bevor sie weitersprach. Sie rutschte unruhig auf ihrem Sitzplatz hin und her, als hätte sie etwas auf dem Herzen. „Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, dich damit zu versöhnen. Ich habe am Sonntag wohl ein bisschen überreagiert und möchte mich für meine heftige Reaktion entschuldigen.“ Sarah senkte den Kopf.
Kauend erwiderte Rose etwas undeutlich: „Schuldigung annommen.“
Als Sarah aufsah, prustete sie los und hielt sich eine Hand vor den Mund.
Mit Mühe schluckte Rose den Bissen ihres Scones herunter, um in dieses herzerfrischende Lachen einzustimmen. Es war so ansteckend, dass sie gar nicht anders konnte. Sie verdeckte mit der Hand ihren Mund, damit der halb zerkaute Scone mit seinem Belag nicht sichtbar war. Als sie sich etwas beruhigt hatte, fragte sie: „Warum lachen wir?“
„Dein Gesicht hat wirklich lustig ausgesehen und zu deiner genuschelten Antwort gepasst.“
„Du brichst also in Lachen aus, wenn du mich ansiehst?“ Vergeblich versuchte Rose, zum Spaß einen rügenden Gesichtsausdruck aufzusetzen, denn sie stand selbst kurz davor, erneut einen Lachanfall zu bekommen. „Meine Mutter hat mir beigebracht, nicht mit vollem Mund zu sprechen. Manchmal höre ich einfach nicht auf meine Mum.“ Ein breites Grinsen kommentierte die Erziehungsmaßnahmen der Mutter.
Vor lauter Lachen konnte Sarah nur nicken und ein „Hmhm!“ murmeln.
Als die beiden sich beruhigt hatten, begann Sarah erneut ein Gespräch. „Ich wollte dir die Bilder wirklich schenken.“
„Und ich wollte für eine ausgezeichnete künstlerische Leistung bezahlen. Ich kann mir denken, wie knapp du bei Kasse bist.“
„Ich will keine Almosen von dir.“ Sarah sah gekränkt aus. Ihr Tonfall klang verletzt.
„Das wären keine gewesen. Du bist eine verdammt gute Malerin, und ich hätte für drei wahnsinnig gute Gemälde bezahlt.“
Sehr, sehr leise, fast resigniert sagte Sarah mit hängenden Schultern: „Ich hätte sie dir gern geschenkt.“
Rose konnte die Worte kaum verstehen, erkannte aber die tiefe Traurigkeit und Verletzlichkeit, die in ihnen steckte. Sie meinte, eine Träne in Sarahs Augen zu erkennen. Die wiederum mühte sich sehr darum, sie wegzublinzeln.
„Ich möchte dir einen Vorschlag machen“, sagte Rose sanft.
Sarah horchte auf, wischte sich die Tränen aus den Augen und sah gespannt in Roses Richtung.
„Ich nehme an, du hast vor, deine Arbeit als Malerin fortzuführen?“
Sarah nickte. So viel wusste Rose immerhin durch das Internet, dass Sarah Stein vor vielen Jahren eine bekannte Malerin in Deutschland gewesen war, die von ihrer Kunst gelebt hatte. Darüber, was der Grund dafür hätte sein können, dass Sarah vor etwa sechs Jahren von der Bildfläche verschwunden war, gab das World Wide Web keine Auskunft.
„Ich entdecke die Malerei in einem ganz anderen Licht für mich.“ Sarah blickte in die Ferne, als sähe sie dort eine Frau, die vor vielen, vielen Jahren eine geschätzte Künstlerin gewesen war. Sie räusperte sich, wie um sich in die Gegenwart zurück zu katapultieren, und sah Rose fragend an.
„Wie wäre es, wenn wir den Shop ein wenig umräumten, damit du dort deine Werke ausstellen kannst?“, schlug Rose vor.
Zuerst sah Rose einen ungläubigen Blick. Als Sarah offensichtlich begriff, was das für ihre Bilder bedeutete, strahlte sie über das ganze Gesicht.
„Das würdest du wirklich tun?“
Sie wusste anscheinend nicht, ob sie Roses Großzügigkeit trauen konnte. In ihrer Mimik spiegelten sich Zweifel wider. Rose hätte nicht sagen können, ob es Unsicherheit darüber war, ihre Bilder überhaupt der Öffentlichkeit zu präsentieren, oder etwas anderes dahintersteckte. Immerhin hatte sie ihre Aquarelle zum Kauf angeboten. Wahrscheinlich waren es aber für eine Künstlerin zwei verschiedene Dinge, Bilder auf Leinwände zu bringen oder kleine Aquarelle anzufertigen.
„Meinst du, ich würde so einen Vorschlag machen, wenn ich ihn nicht ernst meine?“ Rose wartete einen Augenblick, bevor sie weitersprach. „Und wenn du willst, zeichnen wir die Bilder aus, damit die Leute wissen, dass sie sie kaufen können. Du möchtest sie doch verkaufen?“
Mit Tränen in den Augen quetschte Sarah ein „Danke!“ heraus, bevor sie ein Schluchzen unterdrückte.
Rose erhob sich von der Couch, ging zum Sessel hinüber und kniete sich vor Sarah. Sie strich ihr sanft über den Arm. Als Rose bemerkte, dass ein Kribbeln ihre Hand erfasste, erschrak sie und zog sie abrupt zurück. Sie beeilte sich, schnell auf ihren Platz zurückzukommen und ihren Scone weiter zu essen. Ihr war, als hätte Sarah ihre Berührung gar nicht wahrgenommen. Das war sicher besser so.
Sarahs Tränen waren versiegt. Sie sah zu Rose auf und sagte leise: „Ich weiß nicht, ob ich schon so weit bin, meine Bilder zu verkaufen. Ich habe gerade erst wieder mit dem Malen angefangen.“ Sie senkte erneut den Kopf.
Rose blickte von ihrem Teller auf. „Ich will dich zu gar nichts zwingen. Ich dachte nur, es wäre eine gute Idee.“ Warum musste sie gleich mit der Tür ins Haus fallen?
„Aber vielleicht sollte ich es einfach wagen, ohne viel darüber zu grübeln“, sprach Sarah eher zu sich selbst als zu Rose. „Am Wochenende male ich weiter“, sagte sie entschlossen.
Nachdem Rose ihr Gegenüber eine Weile beobachtet hatte, schlug sie vor: „Was hältst du davon, wenn wir gleich morgen damit beginnen? Wenn du eine Stunde früher kommst, räumen wir das Regal mit den Whisky-Proben um und stellen es neben die Kommode mit den Probiergläsern. Das wollte ich die ganze Zeit über schon so machen. Jetzt habe ich endlich einen Anlass dafür. Und dann könnten wir das Bild mit der nachmittäglichen Seestimmung aufhängen.“ Irgendwie hatte Rose das Gefühl, Sarah würde das Triptychon mit den verschiedenen Morgendämmerungen nicht verkaufen wollen, deshalb hatte sie von dem letzten Gemälde gesprochen, das auf der Staffelei gestanden hatte, als Rose dazu gekommen war. Erleichtert sah Rose, dass Sarah ihr begeistert zunickte, und war zufrieden, genau diesen Vorschlag gemacht zu haben. Sarahs Bild würde ihrem kleinen Laden eine besondere Note verleihen, dessen war sich Rose absolut sicher.