Читать книгу Weg aus der Einsamkeit - Emma zur Nieden - Страница 6
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Rose blies das Streichholz aus, mit dem sie den Kamin angezündet hatte. Mildred saß in der einen Ecke des Sofas, das direkt davorstand. Eine wohlige Wärme verbreitete sich im ganzen Raum und zauberte orangerote Flammen auf Mildreds Gesicht. Kerzenlicht flackerte an den Wänden und vervollständigte die heimelige Atmosphäre.
Rose setzte sich in die andere Sofaecke und reichte ihrer Freundin ein Glas feinsten Single Malt Whiskys, den sie für besondere Gelegenheiten bereithielt: ein fünfzehn Jahre alter MacGadden, den ihr Vater in seinen besten Zeiten entwickelt hatte. Das war Roses Lieblingswhisky … mild und dennoch mit Charakter. Ihr Vater hatte ihn just im richtigen Moment aus dem Eichenfass abgefüllt, damit es den Geschmack im Whisky nicht zu dominant und scharf werden ließ. Und ein Abend mit Mildred war eine besondere und viel zu seltene Gelegenheit, diesen edlen Tropfen zu genießen. Außerdem schätzte Mildred den Whisky ebenso sehr wie sie selbst.
Mildred hob das Whiskyglas in die Höhe gegen das Licht. „Er hat genau die richtige Farbe“, urteilte sie fachmännisch, senkte das Glas und schwenkte es sanft hin und her. Fast ehrfürchtig hielt sie es anschließend unter ihre Nase und atmete den Duft ein, bevor sie vorsichtig ihre Lippen damit benetzte. Sie schloss die Augen, als die samtene Flüssigkeit ihre Kehle hinunterrann.
Rose beobachtete sie lächelnd. In gleicher Weise wie Mildred nippte sie an dem goldbraunen Getränk – das Meisterstück ihres Vaters. Inzwischen führte sie mit ihrem Bruder Ian den Betrieb. Ihr Vater stand ihnen allerdings weiterhin mit Rat und Tat zur Seite. Von klein auf war sie vertraut mit den Aromen der Brauerei und den Feinheiten der Zutaten, die man benötigte, um einen hervorragenden Whisky zu kreieren. Ihr Bruder und sie hatten dem Sortiment bereits einige eigene Kreationen hinzugefügt, die die althergebrachten Whiskysorten fabelhaft ergänzten.
„Mildred“, begann Rose das Gespräch, nachdem sie den Schluck auf ihrer Zunge hatte zergehen lassen. „Ich muss ein ernstes Wörtchen mit dir reden!“
Mildred drehte überrascht den Kopf in ihre Richtung und schob die Augenbrauen nach oben, als könnte sie kein Wässerchen trüben. „Was hab ich getan?“
„Die Aushilfe, die du mir empfohlen hast, hat heute angefangen“, sagte Rose.
„Ach ja?“ Mildred schwenkte das Glas in der Hand.
„Tu nicht so unschuldig, das weißt du ganz genau. Und sie hat nicht nur zwei linke Hände.“ Rose rief sich eine Szene in Erinnerung, die sich am Morgen in ihrem kleinen Whisky ´n All-Laden in der Stadt abgespielt hatte. Die Neue, Sarah, hatte zuerst beinah einen Karton ihres besten Whiskys, der für den Versand nach Übersee vorgesehen war, fallen gelassen. Allein Roses Reaktionsschnelligkeit war es zu verdanken gewesen, dass sie den Karton samt Flaschen in letzter Sekunde vor dem sicheren Auslaufen auf dem Fliesenboden gerettet hatte.
Danach – Rose dachte, es wäre eine gute Idee, Sarah lieber erst einmal in der Küche den Tee zubereiten zu lassen – war Sarah gestolpert und hatte das Tablett mit sämtlichen neuen, ziemlich teuren Whiskyprobiergläsern zerdeppert. Und zum krönenden Abschluss hatte sie wohl nicht richtig zugehört und statt zehn Teelöffeln Teeblätter zwanzig genommen und ein völlig ungenießbares Getränk hergestellt, das direkt in den Ausguss gewandert war.
Rose reichte Tee zwischen den Verkostungen der einzelnen Whiskysorten, die sie in ihrem Laden durchführte. Sie bildete sich ein, dass sich dadurch die verschiedenen Aromen neutralisieren ließen und man einen neuen Whisky unvoreingenommen probieren konnte, als hätte man nicht bereits drei oder vier unterschiedliche Sorten probiert. Auf diese Weise jedenfalls hatte sich der Verkauf all ihrer Produkte gesteigert. Der Tee musste von morgens bis abends frisch aufgebrüht werden, damit die Kunden stets davon nehmen konnten. Es schien sich herumgesprochen zu haben, dass Rose in ihrem Geschäft kleine Köstlichkeiten aus der Gegend bereithielt, die sie ebenfalls zum Probieren und zum Kauf anbot.
Die Szene am Morgen mit Sarah hatte durchaus etwas Groteskes, Absurdes, vielleicht sogar Bizarres gehabt.
Rose musste grinsen, als sie Mildred schließlich die Einzelheiten schilderte. Mittlerweile konnte sie darüber lachen, aber als es passierte, fühlte es sich wie eine Katastrophe an. Einmal hatte sie sogar kurz vor einer Explosion gestanden, eine Gefühlsregung, die sehr selten bei ihr vorkam. Sie erzählte äußerst amüsiert, als könnte sie letztendlich über sämtliche Missgeschicke ihrer neuen Mitarbeiterin hinwegsehen.
Mildred jedenfalls musste sich während Roses Erzählung mehrmals vor Lachen schütteln und sich die Tränen aus den Augen reiben. Immerhin war Rose durch den zeitlichen Abstand in der Lage, selbst darüber zu schmunzeln.
„Desgleichen hat sie zwei linke Füße und zwei linke Ohren“, schloss Rose ihren Bericht. Ihr standen inzwischen ebenfalls vor Lachen Tränen in den Augen.
Mildred konnte mit dem Amüsement gar nicht mehr aufhören, denn natürlich hatte Rose die Geschichte sehr ausführlich dargestellt, genüsslich jedes Detail ausgeschmückt und an der ein oder anderen Stelle maßlos übertrieben.
Mitten in ihr Lachen hinein fragte Mildred besorgt: „Du hast sie doch nicht gleich wieder rausgeworfen?“
„Sie wollte von allein gehen.“ Rose war ernst geworden, nachdem sie sich die Tränen aus den Augen gewischt hatte. Mit etwas Distanz – das musste sie eingestehen – waren die Episoden wirklich lustige Geschichten. „Aber ich habe ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass du dich sehr für sie eingesetzt hast und ich erwarte, dass sie morgen pünktlich ihren Dienst aufnimmt.“
„Glaubst du, das macht sie?“ Mildred runzelte die Stirn und wurde nachdenklich.
Offensichtlich kannte sie Sarah und sorgte sich, ob sie sich nach dem so misslungenen ersten Tag ein zweites Mal in den Laden trauen würde. „Ich weiß es nicht.“ Rose zuckte mit den Schultern. „Ich war sehr streng und bestimmend.“
„Ja, das kannst du sein.“ Mildred lächelte. „Danke, dass du sie überhaupt genommen hast, so ganz ohne Referenzen.“ Sie beugte sich zu ihr hinüber und legte kurz ihre Hand auf Roses Arm.
„Und außerdem eine Deutsche.“ Rose nippte erneut an ihrem Whisky. „Und von Whisky hat sie sicher nicht die geringste Ahnung.“ Sie seufzte, weil sie wusste, dass Sarah sie eine Menge Arbeit und Nerven kosten würde, und sie erklärte: „Ich hatte bisher keine Gelegenheit, mit ihr über unseren Whisky zu sprechen. All die kleinen Begebenheiten haben mich davon abgehalten.“ Sie grinste, als würden die Szenen vom Morgen vor ihr wie in einem Film ablaufen. Es hatte etwas von Mr. Bean. Roses Grinsen wurde breiter.
„Hast du was gegen Deutsche?“ Mildred hob überrascht die Augenbrauen. Einen rassistischen Zug hätte sie ihrer Freundin augenscheinlich nicht zugetraut.
„Natürlich nicht!“, wehrte Rose vehement ab. „Aber wenn ich sie tatsächlich vorne im Laden einsetzen will, muss ich sicher sein, dass sie sich auf die Bestellungen in der ihr fremden Sprache konzentriert, wenn sie sich schon die Zahlen zehn und zwanzig nicht merkt.“ Bei der Erinnerung an den ersten Schluck des ungenießbaren Tees verzog Rose vor Ekel das Gesicht, bevor sie sich vor Unbehagen schüttelte.
Dieser Anblick brachte Mildred zum Lachen. „Ich finde, sie spricht ganz gut Englisch!“, urteilte sie, denn sie kannte Sarah immerhin schon einige Monate.
„Sprechen ja, aber verstehen?“, zweifelte Rose. „Und Schottisch ist ja ein anderes Kaliber als Oxford-Englisch, das offensichtlich in deutschen Schulen gelehrt wird!“
„Du hast Kunden aus aller Welt in deinem Laden“, gab Mildred zu bedenken. „Und Deutsche rennen dir die Bude ein.“
„Da hast du natürlich recht“, stimmte Rose zu. „In dem Fall wird sie bei der Beratung sicher ein echter Gewinn sein, wenn ich ihr erst einmal alles erklärt habe und sie nicht den halben Laden zu demolieren droht.“ Sie runzelte die Stirn, bevor sie einschränkte: „Wenn sie alles richtig verstanden hat und es einigermaßen korrekt an die Kunden weitergeben kann.“
„Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie dumm ist“, versuchte Mildred, Rose zu besänftigen.
„Da hatte ich heute Morgen aber einen etwas anderen Eindruck.“ Rose war sehr nachdenklich geworden. Ihre Zweifel an den Kompetenzen ihrer neuen Mitarbeiterin waren ihr sicherlich anzusehen. Sie wäre allenfalls überzeugt von den Qualitäten ihrer neuen Mitarbeiterin, wenn sie in den nächsten Tagen eine tadellose Leistung zeigen würde. Aber vielleicht sollte Rose ihr tatsächlich eine zweite Chance geben. Wenn Mildred sich für jemanden dermaßen ins Zeug legte, musste etwas Besonderes hinter dieser Person stecken. Und möglicherweise gelänge es Rose, diese verborgenen Qualitäten zutage zu fördern.
„Ich danke dir jedenfalls, weil du es eine Weile mit ihr versuchen willst!“ Mildred erhob ihr Glas, um mit Rose anzustoßen. „Es liegt mir viel daran. Sie ist so ein netter Mensch und die Zuverlässigkeit in Person. Das wirst du schon sehen, wenn du sie erst einmal richtig kennengelernt hast. Sie hat über lange Zeit hinweg sehr zurückgezogen gelebt. Ich kann mir vorstellen, dass all die Missgeschicke allenfalls ihrer Aufgeregtheit zuzuschreiben waren.“
2
Rose war dabei, den Transporter auszuladen. Tom hatte sie versetzt. Er hatte eigentlich die Kartons mit den kleinen Probierfläschchen schleppen und in die Regale einräumen sollen, die ihr Bruder gestern in der Destillerie bis weit in die Nacht hinein abgefüllt und verladen hatte. Ihr war nichts anderes übrig geblieben, als selbst mit dem kleinen Transporter zu ihrem Geschäft zu fahren.
Die Kisten waren verdammt schwer. Und die meisten davon mussten in den Keller getragen werden, weil höchstens der Inhalt von vier oder fünf Kartons in den Laden passte, ohne dass er unaufgeräumt wirkte und die Kisten eine Lagerhallenatmosphäre erzeugten. Rose benötigte jedoch unbedingt den großen Vorrat, weil die Touristen ihr diese kleinen Flaschen förmlich aus der Hand rissen. Mit den Flaschen im Lager konnte Rose die Bestände auf den Tischchen im Laden schnell auffüllen. Die Probierfläschchen waren neben den erlesenen Whiskysorten in Flaschen im Normalformat ihr lukrativstes Geschäft. Oft nahmen die Touristen mehrere Sorten ihres edlen Destillats mit. Das kam sie günstiger, als je eine große Flasche zu kaufen.
„Morgen!“, hörte sie eine Person, die sich von hinten näherte. Zum Glück hatte Rose gerade keinen Karton in der Hand, sonst hätte sie sich maßlos erschreckt und ihn vielleicht fallen lassen. Sie drehte sich um und erkannte Sarah, die tollpatschige Aushilfe, die gestern bei ihr angefangen hatte. Na prima. Das war genau die Hilfe, die sie gebrauchen konnte. Rose rollte im Geiste ihre Augen und sah bereits die komplette Ladung der kleinen Whiskyflaschen die Straßen von Aberfoyle hinunterrinnen und die Luft auf Tage mit dem Aroma ihrer erlesensten Whiskysorten schwängern, statt in ihren Kartons im Keller zu lagern und auf den Verkauf zu warten.
„Morgen!“, antwortete Rose verhalten.
„Kann ich beim Tragen helfen?“, kam die zaghafte Frage von der Neuen.
Sie war viel zu früh dran. Das Bloß nicht! schluckte Rose hinunter und antwortete stattdessen wagemutig: „Sicher!“
Sarah schnappte sich zwei Kartons auf einmal, die sogar heil im Keller ankamen, obwohl Rose das Schlimmste befürchtet hatte. Im Keller musste Sarah ihren dicken Mantel ausgezogen und zusammen mit ihrer Tasche in ihrem Spind verstaut haben, weil sie ohne Mantel und Tasche die Kellertreppe nach oben hastete und zwei neue Kartons nach unten beförderte. Rose selbst trug immer nur einen, weil sie ihr zwei einfach zu schwer und zu sperrig waren. Sie wunderte sich ein wenig darüber, dass ihre Aushilfe offensichtlich über Bärenkräfte verfügte, obwohl deren schlanke Gestalt eine solche Stärke gar nicht vermuten ließ.
Mit Sarahs Hilfe dauerte die Ausladeaktion nicht so lange, wie Rose zuvor befürchtet hatte. Außerdem fühlte sie sich längst nicht so ausgelaugt, als wenn sie die Ladeaktion allein hätte durchführen müssen. Bis ihr Geschäft öffnete, war genügend Zeit. Das hatte sie Sarah zu verdanken. Zum Dank lud Rose sie auf einen Tee ein. Wenigstens konnte die Neue schwere Sachen tragen, ohne dass etwas zu Bruch ging.
„Es tut mir leid, dass gestern so viel schiefgelaufen ist“, entschuldigte sich Sarah. „So etwas ist mir noch nie passiert. Auch zwei linke Hände habe ich normalerweise nicht.“ Sie zeigte ihre Hände vor und zuckte mit den Schultern. Vorsichtig schaute Sarah zu Rose herüber. „Ich war gestern ausgesprochen nervös, nur so kann ich mir meine extreme, temporäre Tollpatschigkeit erklären. Ich könnte verstehen, wenn Sie …“
„Wir versuchen es erst einmal miteinander! Das hatte ich gestern ja bereits gesagt, und ich habe meine Meinung nicht geändert“, unterbrach Rose in einem Befehlston, der keinen Widerspruch zuließ. Und beim Ausladen hatte Sarah sich ja tatsächlich als ganz brauchbar und hilfreich erwiesen. Nein, als ausgesprochen brauchbar und hilfreich.
3
Leicht war die Einarbeitungszeit mit Sarah nicht. Rose brauchte viel Geduld mit ihr, weil sie die vielen Whiskysorten zunächst nicht auseinanderhalten konnte. Oft verwechselte sie den Blended mit dem Single Malt Whisky. Und sie weigerte sich beharrlich, die Whiskys einmal zu kosten, damit die Unterscheidung leichter fiele. Zumindest war Sarah nach einiger Zeit so weit, dass Rose sie abends den Laden allein absperren lassen konnte, wenn sie anderen Verpflichtungen in der Brennerei nachgehen musste. An manchen Tagen war nachmittags ohnehin kaum etwas los. Da konnte Rose Sarah durchaus den Laden schmeißen lassen, ohne befürchten zu müssen, am nächsten Tag ein heilloses Durcheinander beseitigen zu müssen. Und bis auf Sarahs Ungeschicklichkeiten am ersten Tag war danach nichts mehr zu Bruch gegangen. Den Tee bereitete sie inzwischen perfekt zu. Rose musste zugeben, dass er sogar besser schmeckte, als wenn sie selbst ihn anrichtete, denn Sarah fügte ab und an irgendein frisches Kraut hinzu, das sie aus dem Garten ihres Hauses mitbrachte. Das Cottage, in dem sie wohnte, verfügte über einen großen Garten, mit dessen Hilfe sich Sarah zum großen Teil selbst versorgte, wie sie Rose erzählt hatte. Insgeheim bewunderte sie Sarah sogar für den offensichtlich grünen Daumen. Die Bepflanzung im Garten ihres eigenen Cottages war nur deshalb so ansehnlich, weil sie ein Gartenbauunternehmen beschäftigte.
Sarah hatte vielleicht zu Beginn der Arbeit zwei linke Hände gehabt, von denen danach jedoch keine Rede mehr sein konnte. Und ihr Kopf funktionierte einwandfrei. Sie konnte nicht nur gut rechnen, sondern dachte mit. Einmal hatte Sarah mitbekommen, dass Tom sich krankgemeldet hatte – Rose hatte ihn zähneknirschend wieder in den Kreis der Mitarbeiter aufgenommen, nachdem sie ihn zuerst gefeuert hatte, weil er mehrmals nicht zum Dienst erschienen war. Sofort hatte Sarah angeboten, mit dem Kleintransporter die Whiskylieferungen in der Gegend auszufahren. Mit einem Stirnrunzeln hatte Rose ihr die Aufgabe übertragen, weil sie niemanden sonst dafür hätte entbehren können.
Das schien eine Tätigkeit zu sein, die Sarah richtig Spaß machte. Nicht nur, dass kein einziger Karton beim Ausliefern zu Schaden gekommen war, sie erwies sich als ausgezeichnete Meisterin im Small Talk. Das hatte Rose ihr gar nicht zugetraut. Die Kneipenwirte, die Sarah beliefern sollte, waren außerordentlich erfreut, denn Tom galt als maulfaul und war stets auf dem Sprung, wenn er die Lieferung ausgeladen hatte.
Rose war nahezu euphorisch gewesen, als einige der Wirte am nächsten Tag angerufen hatten, um erstens weitere Kartons Whisky zu ordern, zweitens darauf zu bestehen, dass Sarah die Lieferung übernahm, und drittens die Lieferantin über den grünen Klee hinweg zu loben. Solch eine Geschicklichkeit im Umgang mit den eher als schwierig zu bezeichnenden Wirtsleuten der Umgebung hätte Rose Sarah unter keinen Umständen zugetraut. Ihre Bewunderung für Sarah wuchs weiter. Sie selbst hätte Derartiges in einer fremden Sprache niemals fertiggebracht. Ein Verkaufstalent schien sie ebenfalls zu besitzen. Der Umsatz der Auslieferungen war rasant gestiegen, seit Sarah diesen Dienst übernommen hatte.
„Was haben Sie mit den Gastwirten gemacht?“, hatte Rose eines Abends gefragt.
„Was meinen Sie?“, hatte Sarah arglos entgegnet.
„Die Jungs sind ganz scharf auf unseren Whisky und sie wollen, dass Sie die Auslieferung übernehmen.“
Auf Sarahs Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, das ihre Züge gleich viel lebendiger wirken ließ. Ihr gefiel augenscheinlich das Lob. Sie hätte längst eins verdient, schalt Rose sich selbst.
„Ich war nett zu ihnen“, beantwortete Sarah Roses Frage. „Und es hat mir großen Spaß gemacht, ein wenig mit ihnen herumzualbern.“
Rose wunderte sich darüber, dass Sarah mit den unzugänglichen schottischen Schankwirten herumalberte. Dass ihre Mitarbeiterin offensichtlich in der Lage war, eine offenherzige Freundlichkeit an den Tag zu legen, hätte Rose niemals zu hoffen gewagt. Rose hätte Sarah eher als zurückhaltend bis scheu eingeschätzt. Und sie alberte mit den Pubbesitzern herum? Fast hätte Rose vor Unglauben den Kopf geschüttelt. Aber die Verkaufszahlen sprachen für sich. Daran gab es nichts zu rütteln.
In ihrer täglichen Zusammenarbeit hielt die neue Mitarbeiterin sich sehr zurück mit dem Sprechen. Das hatte Mildred Rose von vornherein auf den Weg gegeben, dass Sarah nicht gerade redete wie ein Buch. Aber mit den Wirten aus der Gegend schien sie gut zurechtzukommen. Sie galten als besonders schwierig im Umgang mit Fremden, weil sie die Zähne nicht auseinanderbekamen, doch wahrscheinlich lagen sie mit Sarah auf derselben Wellenlänge und kamen deshalb so gut mit ihr aus, vermutete Rose. Ihr sollte es recht sein. Sie klopfte sich selbst auf die Schulter, weil sie Sarah nach ihrem ersten Tag in ihrem Laden eine zweite Chance gegeben hatte. Rose gab sich einen imaginären Klaps auf den Hinterkopf und fuhr mit der Abrechnung fort.
Bei einer weiteren Verladeaktion mit einer Lieferung gerade ausgereifter Whiskysorten räumte Sarah den Keller gleich so geschickt um, dass viel mehr Lagerraum entstand. Das sparte Rose eine Lieferung im Monat und damit Zeit, Arbeit und viel Mühe. Die neue Aushilfskraft entwickelte sich ganz allmählich zu einem Glücksfall für Rose. Dass sie so etwas nach dem unglücklichen Beginn mit ihrer neuen Kraft sagen würde, hätte sie nie und nimmer zu hoffen gewagt.
Rose beobachtete Sarah, als sie den Lieferwagen für eine Lieferrunde umräumte. Der Wagen wurde aus den Beständen des Lagers in der Brennerei direkt beladen. Sarah hatte die Tour in einer anderen Reihenfolge geplant als Tom, deshalb sortierte sie die bereits geladenen Kartons um. Auf Nachfrage erklärte Sarah, dass einer der Wirte sie gebeten hatte, etwas später zu kommen. Sie hatte für ihn die Tour geändert. Das war sicher ein Grund dafür, warum die Wirte sie so mochten.
Rose war begeistert, dass Sarah mittlerweile zu einer wichtigen Kraft für ihr Geschäft avanciert war, denn manchmal musste Rose sie den ganzen Tag im Laden allein lassen, weil ihre Anwesenheit in der Destillerie erforderlich war. Sarah bewältigte die Aufgaben inzwischen mit Gelassenheit und Geschäftssinn. Bei der Abrechnung war Rose stets äußerst zufrieden mit der Summe und vor allem mit Sarah.
Außerdem beobachtete Rose, dass Sarah sich zwar sehr zurückhaltend im Umgang mit anderen Menschen verhielt, man sich aber vollkommen auf sie verlassen konnte. Und die Whiskysorten der eigenen Brennerei kannte sie inzwischen auswendig. Darüber hinaus erklärte sie anschaulich deren Geschmacksrichtungen. „Der Whisky zergeht auf der Zunge wie ein aufgehendes Rosenblatt!“, hatte Rose Sarah einmal einen recht jungen Single Malt beschreiben hören. Sie selbst hätte den Whisky nicht treffender charakterisieren können, hatte sie während ihrer Beobachtung gedacht. Rose war entzückt gewesen, weil Sarahs blumige Sprache exakt das Gefühl auf der Zunge und im Mund beschrieb, dass die Whiskys der MacGadden-Brennerei hervorriefen. Die Kunden rissen ihr daraufhin den Whisky förmlich aus der Hand.
Sarah konnte außerdem die Herstellungsarten wunderbar erklären. Sie wusste, welcher Whisky wie lange in welchem Eichenfass gelagert gewesen war und welche Sorte eher in einem Metallfass lagern musste, um seine Aromen zu entfalten. Allein – sie hatte bislang keinen einzigen Tropfen des Whiskys probiert. Weder bei den Verkostungen, die Rose regelmäßig im Laden für die Touristen anbot, noch bei den mittäglichen Zusammenkünften. Rose war sich nicht sicher, ob es eine gute Werbung war, wenn ihre beste Mitarbeiterin gar keinen Whisky zu sich nahm. Aber sie konnte Sarah natürlich nicht zum Probieren zwingen. Woher sie allerdings das Gefühl eines Whiskys auf der Zunge und im Mund beschreiben konnte, war zunächst ein Geheimnis für Rose. Vielleicht lüftete sie es bald. Irgendwann.
„Sei doch froh“, hatte Mildred gemeint. „Besser als James, der dir den ganzen Laden leer gesoffen hat.“ Drastisch, aber wahr, hatte Rose ihr in Gedanken zugestimmt und nicht weiter nachgefragt. Ob Mildred etwas über Sarahs Abstinenz wusste?