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ОглавлениеTag 1
Eine Fotografin auf Reisen
Zoe Burger, ihres Zeichens Fotografin von Beruf, erreichte mit Mühe und Not das Versorgungsschiff, das für zwölf Tage sowohl ihr Arbeitsplatz als auch ihr Zuhause sein sollte. Eine der Mitarbeiterinnen der Linie, die wie am Flughafen als einzige hinter dem Check-in-Schalter die Stellung gehalten hatte, wartete, um Zoe als Letzte auf das Schiff zu lassen. Die Wartehalle war leer. Die Passagiere waren längst auf ihren Kabinen und packten ihre Koffer aus oder beobachteten den Ladevorgang.
Die Frau am Check-in klopfte mit ihrem Zeigefinger auf das Zifferblatt ihrer Armbanduhr, um zu verdeutlichen, dass Zoe viel zu spät war. Die Fotografin hörte die Schiffsmotoren bereits auf Hochtouren laufen, um sofort ablegen zu können. Das ohrenbetäubende Geräusch des Schiffes vibrierte durch Zoes Körper. Aus den Augenwinkeln konnte sie beim Aussteigen aus dem Taxi beobachten, dass einige Passagiere auf dem Oberdeck standen und erwartungsvoll dem Ablegen entgegensahen. Die Helfer hatten ihren Platz eingenommen, um die Leinen zu lösen. Das Schiff würde pünktlich den Hafen verlassen, denn sonst geriet der gesamte Fahrplan durcheinander.
Insgesamt vervollständigten bestimmt zehn Schiffe die Flotte der historischen Versorgungsroute in Norwegen. Aus Platzgründen sollten sie nicht zusammen in einem Hafen eintreffen, weil die Schiffe der Flotte im Laufe der Jahre immer größer geworden waren. Der Beliebtheitsgrad der Postbudruten stieg von Jahr zu Jahr.
Im Laufschritt eilte Zoe auf den Schalter zu. Sie mühte sich mit ihrem schweren Gepäck ab, das an ihr zerrte. Ihr Rücken schmerzte erbarmungslos. Sie murmelte eine Entschuldigung und checkte ein. Die Verspätung ihres Fliegers von Kopenhagen nach Bergen hatte Zoe überhaupt erst in diese missliche Situation gebracht. Sie hasste Zuspätkommen an einem ihr unbekannten Ort. Vorzugsweise bezog sie Tage vor einem Shooting ein Hotel am Zielort. Dieses Mal allerdings hatte ein unaufschiebbarer Termin mit ihrer Anwältin ihren Plänen einer frühen Anreise einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Planänderung bezahlte Zoe nun mit einer verspäteten Ankunft, hinderte sie daran, Fotos vom Einchecken und dem Beladen des Schiffes zu machen.
Sicher gab es für die Mitarbeiterin am Schalter die Anweisung, auf Frau Burger zu warten, die im Auftrag der Postbudruten an Bord ging. Normalerweise transportierten die Helfer das Gepäck zu den Kabinen, doch Zoe musste ihr schweres Gepäck sowie den Rucksack den langen Weg auf das Schiff über die Passagierbrücke ohne Hilfe schleppen. Die Fotos, die ihr durch ihre Verspätung entgangen waren, würde sie nach der Reise nachholen.
Ächzend schleppte sich Zoe mit den Koffern zu ihrer Kabine. Zum Glück gab es einen Aufzug. Auf diese Weise konnte sie ein paar Kräfte sparen. Schnelles Handeln sollte ihr zumindest noch ein paar Schnappschüsse vom Ablegen ermöglichen. In weiser Voraussicht hatte sie auf der Taxifahrt ihren Koffer mit der Fotoausrüstung mit in den Fond genommen und ihre Systemkamera in den Rucksack gepackt. Zoe benutzte sie, wenn schnelles Handeln erforderlich war und manuelle Einstellungen die Arbeit behinderten.
Sie hechtete die Treppe zum Sonnendeck hinauf – es war keine Zeit gewesen, einen detaillierteren Bick in die Kajüte zu werfen. Dafür boten sich später genug Gelegenheiten. Der entsprechende Fahrstuhl schien ihr nicht schnell genug zu sein, um ans Sonnendeck zu gelangen. Zoe suchte einen freien Platz an der Reling und drückte auf den Auslöser, was das Zeug hielt. Sie bekam noch das Lösen der letzten Leinen mit.
Durch ihre Auftragsarbeiten vor allem an Bildbänden war sie es gewohnt, in aller Regelmäßigkeit unterwegs zu sein. Im Moment wäre sie ohnehin nicht scharf darauf gewesen, in ihrer leeren 150 m2 Wohnung zu sitzen und über ihre derzeitige vertrackte Situation nachzudenken. Zum Monatsende war diese Wohnung ohnehin Geschichte. Nach ihrer Rückreise aus Norwegen war sie quasi wohnungslos.
Das Schiff fuhr den Fjord entlang, um später über das offene Meer zum nächsten Meeresarm zu gelangen. Je weiter es sich von Bergen entfernte, desto mehr zeigte sich die Stadt in ihrer vollen Größe. Zoe setzte die Kamera an und fotografierte am Panorama entlang. Der Berg Fløyen bildete den Hintergrund. Zoe beschloss, nach der Reise noch ein paar Tage Urlaub in Bergen einzulegen, bevor sie sich an ihre Auftragsarbeit setzte. Vom Fløyen aus hätte sie sicher einen fantastischen Blick auf den Hafen. Solche Fotos stellten einen guten Einstieg in den Bildband dar.
Ein paar Tage ausspannen und Abstand gewinnen von den Geschehnissen während des Shootings wären ohnehin eine gute Idee, bevor Zoe sich an die Auswahl und Bearbeitung der Fotos machte. Kurz vor Weihnachten würde ihre modernere Variante des in die Jahre gekommenen Journals der bekannten Postschiff-Gesellschaft auf den Markt kommen. Als Zoe das aktuell zum Verkauf stehende Buch vorlag, sah sie ein altbackenes Journal mit Fotos aus den 50er und 60 Jahren. Das Journal vermittelte ein äußerst unmodernes, gar antiquiertes Bild von der Reise auf den Postbudruten. Die Texte lasen sich wenig flüssig, waren in einem recht hölzernen Stil abgefasst. Alles an diesem uralten Journal wirkte rückständig und überholt. Zoe hatte nicht nur über die Kleidung und Frisuren der sechziger Jahre schmunzeln müssen, sondern ebenso über die Technik der Fotoapparate, mit denen die Aufnahmen gemacht worden waren. Sie konnte mit der dieses Jahrhunderts nicht Schritt halten. Für Zoe stellte das Voranschreiten in Sachen Fototechnik einen Jahrhundertsprung dar. Die alten Fotos hielten einem Vergleich mit den digitalen Aufnahmen von heute nicht stand. Zoes Plan war, die Vielfalt der Technik einzusetzen, die ihr heutzutage zur Verfügung stand. Schon allein deshalb bekäme das Journal ein viel modernes Flair.
Zoe war eine Meisterin ihres Fachs. Zahlreiche Urkunden für ihre Reisefotos und -reportagen zierten die Wände ihres Ateliers in Münster und zogen die Bewunderung ihrer Kunden auf sich, wenn sie die Modalitäten für einen Auftrag besprachen. Diese Auszeichnungen sicherten ihr ein volles Auftragsbuch das ganze Jahr über.
Allerdings unterlag der Auftrag der Postbudruten einem besonderen Druck. Das Shooting musste angesichts ihrer unangenehmen finanziellen Lage ein Erfolg auf der ganzen Linie werden. Mehr denn je brauchte Zoe einen klaren und wachen Kopf, eine hervorragende Ausrüstung und einen funktionierenden Körper, um den Erwartungen ihrer Auftraggeber zu einhundert Prozent zu entsprechen.
Der Reederei stellte ihr eine Suite mit Balkon zur Verfügung, um damit die besten Voraussetzungen für großartige Fotos zu schaffen. Ausgesprochen nobel. Beim Betreten der Suite stockte Zoe der Atem. Sie pfiff durch die Zähne, als sie den großzügig geschnittenen Wohn-Schlafbereich und erst den Balkon betrat, der zu der Suite gehörte. Solch eine Behausung kostete ein Vermögen. Diese Außenkabine mit Balkon bot dafür aber auch unendliche Möglichkeiten für ihre Außenkameras. Nachdem sie das Ablegen in genügender Anzahl mit Bildern festgehalten hatte, installierte Zoe zwei Kameras in verschiedenen Ecken des Balkons, die alle paar Minuten auslösen konnten. Zoe würde zumindest auf dieser Seite des Schiffes kein Detail der Landschaft verpassen. Am Ende könnte sie sich zwar vor der Bilderflut kaum retten, doch erfahrungsgemäß entstanden dabei immer einige fotografische Highlights, die den hohen Aufwand allemal rechtfertigten.
Die Automatik, alle paar Minuten ein Foto zu schießen, hatte sie selbst entwickelt. Der Auslöser betätigte sich ohne Zutun einer Person. Zoe hielt einen Augenblick inne. In Afrika hatte sie diese Arbeitsweise zum ersten Mal eingesetzt. Eine der Kameras hatte sie an einem Baumstamm in der Nähe eines Wasserlochs befestigt und von allen Tieren, die sich an der kleinen Wasserstelle aufhielten, einzigartige Fotos erhalten. Die andere Kamera vor der Lodge, in der sie und Petra Quartier bezogen hatten, zeigte unglaubliche Aufnahmen der freien Wildbahn. Neben dem Wahnsinnssonnenuntergang zierten grandiose Tierbilder bei Nacht die SD-Karte. Eine Sensation, denn niemand hatte die Tiere je so nah bei der Lodge gesehen. Die Leiterin der familiären Anlage legte den Gästen nah, ab 21 Uhr keinen Fuß mehr vor die Tür zu setzen, da niemand einschätzen konnte, wie weit die Tiere tatsächlich an die Lodge herankamen.
Einen kurzen Moment blitzte Petras hämisches Grinsen vor Zoes innerem Auge auf. Wenn sie es genauer betrachtete, hatte Petra ihre Arbeit noch nie wertgeschätzt. Von Anfang an hatte ihre Freundin sie despektierlich eine „Knipserin“ genannt. Dennoch hätte Zoe bis vor kurzem ihre Beziehung als perfekt bezeichnet. Zoe liebte Petra und ging davon aus, dass sie zusammen mit ihr alt werden würde. Einer von Zoes vielen Trugschlüssen. Erst allmählich begann sie zu begreifen, wie wenig Respekt die Frau, mit der Zoe zusammen gewesen war, ihr selbst entgegengebrachte. Zoe schüttelte sich, um Petras Bild aus ihrem Kopf zu verbannen. Sie versuchte, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.
Frau Johansens Zielvorgabe nach sollten endlos viele Landschaftsaufnahmen entstehen, um aus einer Menge an Material für das neu zu gestaltende Journal schöpfen zu können. Darüber hinaus sollte Zoe bei so vielen Ausflügen wie möglich dabei sein, die die Postbudruten zu Nebenschauplätzen auf dem Reiseweg anboten. Künftige Passagiere sollten sich einen perfekten Überblick über das außergewöhnliche Zusatzangebot der Reederei samt ihrer Ziele verschaffen können. Frau Johansen stellte in Aussicht, die neu zu gestaltenden Flyer der Gesellschaft ebenfalls mit Zoes Fotos zu bestücken. Das wäre am Ende ein erkleckliches Zusatzgeschäft – ein dringend nötiges.
Nachdem Zoe sich in die Materie eingearbeitet und gesehen hatte, dass es nicht möglich sein würde, sämtliche zum Teil parallel stattfindende Ausflüge mitzumachen, einigte sie sich mit Frau Johansen auf eine Handvoll davon. Die Postbudruten hatten zugesagt, Zoe bei den Ausflügen mit einem eigenen Führer auszustatten. Dadurch konnte verhindert werden, dass Passagiere ihre Köpfe vor Zoes Linse hielten und die Fotos ruinierten. Es ging vor allem um die Schönheit und Schroffheit der Landschaft. Personen passten nicht ins Bild – außer an Stellen, an denen sich viele Menschen aufhielten, wie zum Beispiel in einer Stadt. Ohne Menschen würden solche Orte karg und öde wirken, hatte auch Frau Johansen eingesehen.
Während sie an der Reling ihres eigenen Balkons lehnte und hin und wieder ein paar Fotos schoss, spürte Zoe Ruhe in ihren Körper und Geist einkehren. Der Dauerstress der Anfahrt einschließlich eines exorbitant hohen Pulsschlages lösten sich soeben in Luft auf. Allerdings hatte ihr die Anstrengung den Auftrag gesichert, der futsch gewesen wäre, hätte sie das Schiff nicht erreicht. Mehr als nur eine mittlere Katastrophe. Zoe atmete durch und streckte sich. Die frische Luft tat gut.
Dass sie es in buchstäblich letzter Sekunde an Bord geschafft hatte, nahm sie als gutes Omen und vertraute darauf, dass das Glück auf der gesamten Reise nicht von ihr weichen würde. Es würde alles gut werden. Und da die Landschaft so aufreizend langsam an Zoe vorüberglitt, genoss sie die Ruhe und Gelassenheit, die sich in ihr einstellte. Die Erledigung eines Auftrags war stets verbunden mit permanentem Druck. Deshalb genoss Zoe dieses Gefühl der seltenen Entspannung während der Arbeit in vollen Zügen. Gelänge es ihr nicht, ein fotografisch vollkommenes Bild der Postbudruten zu zeichnen. wäre die Pleite vorprogrammiert. Zoe schob diesen äußerst unangenehmen Gedanken zur Seite. Sie sollte sich auf ihre Aufgaben konzentrieren und Motive für das perfekte Foto auftun.
Allerdings dämmerte es bereits, bis zum Mitsommer dauerte es noch ein paar Wochen. Da Zoe nicht mit Blitz arbeiten wollte – solche Fotos musste sie stets aufwändig nachbearbeiten – konnte sie auf dem Stativ Aufnahmen mit langer Belichtungszeit machen.
Zoes Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass sie heute außer dem Frühstück keine weitere Mahlzeit zu sich genommen hatte. Sie suchte das Restaurant auf, um sich mit einer reichhaltigen Mahlzeit zu belohnen. Alle Arbeit für heute sollte ruhen – zumindest die mit dem Fotoapparat.