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Tag 3

Ein Stolperer mit großer Wirkung

Nachdem Zoe den ganzen Morgen über ein Foto nach dem anderen vom Be- und Entladen verschiedener Anlaufhäfen der Postbudruten auf ihrer Speicherkarte festgehalten hatte – sowohl vom Sonnendeck als auch vom Pier aus – bereitete sie sich für den mehrstündigen Ausflug in Trondheim vor. Grandioses Wetter erwartete sie: blauer, wolkenloser Himmel. Zoe sah einer Fotosession der ganz besonderen Art entgegen – in zweierlei Hinsicht, wie sich später herausstellen sollte.

Sie verstaute drei Kameras mit unterschiedlichen Objektiven in ihrem Rucksack, um für alle Eventualitäten gerüstet zu sein. Die Zeitplanung für den Ausflug war knapp bemessen, deshalb begab sie sich zeitig zur Rezeption, um die erste zu sein, die das Schiff verließ.

Die Damen hinter der Empfangstheke begrüßten sie freundlich nickend. Zoe nestelte nach ihrem Bordausweis, den man beim Verlassen des Schiffes durch das automatische Erfassungsgerät ziehen musste. Damit konnte festgestellt werden, wer von Bord ging und bestenfalls auch wieder zurückkehrte. Ob Passagiere bei der Abfahrt fehlten oder nicht, spielte keine Rolle. Das Schiff legte pünktlich ab, ob nun mit oder ohne die registrierten Passagieren. Es ging vor allem darum, bei einer Havarie zu wissen, wie viele Menschen gerettet werden mussten.

Als die Luken sich öffneten, sah Zoe ihre Vermutung bestätigt. Ein kleiner RAV 4 mit geöffnetem Verdeck wartete im Hafen. Zoe hastete mit dem schweren Rucksack auf das Fahrzeug zu, verstaute die Kameras auf dem Rücksitz und stieg auf der Beifahrerseite ein. Zu ihrer Überraschung saß eine Frau hinterm Steuer, die noch dazu vollendetes Deutsch sprach.

„Guten Tag, Frau Burger!“ Die Fremde reichte Zoe die Hand. „Ich bin Tuva und werde Ihnen die schönsten Plätze in Trondheim zeigen.“

Zoe schüttelte Tuva die Hand. „Bitte sagen Sie Zoe.“

„Okay, Zoe. Meine kleine Sightseeing-Tour wird Sie hoffentlich begeistern.“ Tuva startete den Wagen und fuhr los. „Wir werden uns zuerst ein wenig an der Peripherie der Stadt umsehen, bevor wir in ihr Innerstes vordringen. Ich führe Sie zu den schönsten Fotomotiven, die wir in Trondheim zu bieten haben. Zum Schluss zeige ich Ihnen den Nidarosdom, eines der Wahrzeichen der Stadt. Mit ein wenig Glück ist die Sonne schon herum und erleuchtet das atemberaubende Kirchenfenster. Beim Durchscheinen der Sonne entsteht eine ganz besondere Atmosphäre im Dom.“

Tuva fuhr zügig und sicher durch die Straßen Trondheims. Noch dazu entpuppte sie sich als die perfekte Reiseführerin. Sie erklärte, in welchem Stadtteil sie sich befanden oder welche Besonderheiten die Fotografin erwarteten. Sie hielt an den entsprechenden Stellen an, damit Zoe fantastische Aufnahmen machen konnte.

Der Kanalhafen fand Zoes besonderes Interesse. Die weiß leuchtend herausgeputzten Boote vermittelten vor dem Hintergrund des tiefblauen Wassers Urlaubsfeeling pur. Auch gefielen ihr die Industrieanlagen, die Zoe aus den unterschiedlichsten Perspektiven in Szene setzte. Die Skansenbrücke zum Beispiel, die Norweger nannten sie Skansenbrua, wie Zoe von Tuva erfuhr, bestand aus einer eigenwilligen Eisenkonstruktion. Die Klappbrücke erinnerte sie an die beschaulich wirkenden Brücken in Holland. Wenn ihr auch der romantische Charme der niederländischen Bauwerke fehlte, strahlte die Skansenbrua ein industrielles Flair aus. Fast könnte man sie eine Schönheit nennen. Detailaufnahmen von technischen Einzelheiten vervollständigten die Aufnahmen rund um die Brücke.

Zoe verliebte sich in die für Trondheim typischen Lagerhäuser mit ihrer ganz eigenen Ausstrahlung. Solch einzigartige Motive vor der Linse veranschaulichten ihr einmal mehr, warum sie ihren Beruf so liebte, warum sie sich völlig in ihren Motiven verlor, wenn sie so etwas Wunderbares ablichten konnte.

Etwas weiter in die Stadt hinein konnte Zoe am Kanal die sich bunt im Wasser spiegelnden Wohnhäuser im Bild festhalten, die in zig verschiedenen Farben den Kanal säumten. Eine Wahnsinnsaufnahme nach der anderen. Diese unglaublichen Motive, die eine tiefe Ruhe ausstrahlten, ließen Zoes Fotografinnenseele höherschlagen. In jenen Momenten war sie vollkommen im Flow, sie und ihre Kamera bildeten eine Einheit. Die Zeit spielte keine Rolle. Zoes SD-Karte füllte sich schnell. Sie gewann einen äußerst positiven Eindruck von der drittgrößten Stadt Norwegens. Dieses Faktum aus dem Steckbrief der Stadt hatte sie behalten. Tuva breitete die ganze Fahrt über ihr Wissen über die Stadt aus und untermalte sie mit amüsanten Anekdoten.

„Unsere letzte Station ist der Nidarosdom“, sagte Tuva mit einem Blick auf die Uhr und parkte unweit des Gebäudes ein. Ihnen blieb eine knappe Dreiviertelstunde für diesen imposanten Bischofssitz. „Das dürfte sich mit Ach und Krach ausgehen.“

Zoe schnappte sich lediglich ihre Kompaktkamera für die Aufnahmen im Dom. Ohne das schwere Gerät konnte sie sich freier bewegen und sich überall umschauen. Außerdem kostete der Umgang mit dem schweren Equipment immer Zeit, die ihr gerade nicht zur Verfügung stand. Als sie die Kirche betrat, mussten sich ihre Augen erst an die schummrige, fast dunkle Atmosphäre gewöhnen. Das Schummrige verbreitete eine Düsternis in dem Gebäude, die Zoe enttäuschte, erwartete sie doch einen lichtdurchfluteten Kirchenraum mit einem fantastischen Farbenspiel eines einzigartigen Kirchenfensters – zumindest malte Tuva es ihr während der wenigen Meter zum Dom in den buntesten Farben aus. Die Kirche erweckte den Anschein, als würde eine Nebelmaschine die leichten Rauchschwaden produzieren, die das Sehen erschwerten und eine schwere Stimmung verbreiteten.

Als Zoes Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, umrundete sie den Altar im Eiltempo und klickte ständig auf den Auslöser, um die bestmöglichen Motive in der knappen Zeit im Dom festzuhalten. Am Ende des Rundgangs näherte sie sich dem unglaublich interessanten Mosaikfenster, das im Moment nur erahnen ließ, in welch schillernden Farben es den Dom erleuchtete, wenn die Sonne hereinschien. Inzwischen fehlten nur noch wenige Zentimeter, bis Zoe einen guten Standpunkt mit Blick auf das Fenster erreichte. Wenige Augenblicke, bis die gesamte Kirche mit Licht überflutet wurde, sie gleich gänzlich erstrahlen lassen würde. Zoe konnte bereits erahnen, was für unglaubliche Aufnahmen dabei herauskommen würden. Der Auslöser stand nicht still, um jede sich verändernde Nuance des Lichts festzuhalten. Vollkommen fixiert auf das Motiv entging ihr die kleine Gruppe von Touristen, die sich mitten auf ihrem Weg versammelte, um das atemberaubende Lichtspiel des Fensters nicht zu verpassen. Zoe steuerte geradewegs, sich seitlich nach rechts bewegend, auf eine Sporttasche zu, die ihrer unaufhaltsamen Bahn ein jähes Ende setzte.

Zoe stolperte über die Tasche just in dem Moment, in dem die Sonne mit ihrer vollen Kraft das Mosaikfenster erleuchtete. Sie hörte das allseitig ausgesprochene „Oh!“ und knallte in voller Länge auf den Boden. Wie sie es schaffte, sich während des Fallens so zu drehen, dass sie auf dem Rücken landete und trotz des Sturzes weiterhin – wenn auch unkontrolliert – den Auslöser betätigte und auf diese Weise gleichzeitig die Kamera vor dem Zerschellen auf dem harten Fliesenboden der Kirche rettete, würde sie später nicht mehr rekonstruieren können. Wie sich bei der Durchsicht der SD-Karten auf dem Schiff wenig später herausstellte, hätte sie sich auf die Schulter klopfen können, denn ein paar fantastische Aufnahmen zierten die Karte.

Als sie sich auf dem Boden liegend mit ihrem linken Arm aufstützen wollte, um aufzustehen, gellte ihr Schrei durch die Kirche und erzeugte ein widerhallendes Echo. Wie auf ein vereinbartes Zeichen verstummten alle Gespräche. Für den Bruchteil einer Sekunde herrschte absolute Stille im Dom. Gleichzeitig drehten sich sämtliche Besucher der Kirche zu Zoe um und sahen sie am Boden liegen. Ein Schmerz durchfuhr ihren ganzen Körper. Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr. Tuva hielt sich während ihres Falls in der Nähe auf. Sie trat auf Zoe zu und half ihr beim Aufstehen durch beherztes Zupacken an Zoes rechtem Arm. Tuva schien zu wissen, dass Zoes rechte Seite schmerzfrei war. Zoe überprüfte die Kamera. Wie durch ein Wunder funktionierte sie einwandfrei – im Gegensatz zu Zoes Arm. Sie wollte mit dem Fotografieren weitermachen. Der beste Moment war ihr ohnehin schon durch die Lappen gegangen. Allein ihr linker Arm schmerzte so sehr, dass sie noch nicht einmal die Kamera damit halten konnte.

Zoe bat Tuva, noch ein paar Aufnahmen für sie zu machen, bevor die Sonne der Kirche ihren Zauber erneut entzog. Tuva kam dem Wunsch nach, hielt die Kamera auf das Fenster und drückte sekündlich auf den Auslöser. Ob die Fotos ihrem eigenen Standard entsprachen, würde Zoe später sehen. Notfalls konnte sie sie noch bearbeiten. Zoe bat ihre Stadtführerin, sie zum Schiff zurückzufahren. Jemand sollte sich dringend um den Arm kümmern und irgendwie dieses höllisch schmerzende Teil fixieren.

Zoe zog sich auf ihre Kabine zurück. Sie legte sich hin und versuchte die starken Schmerzen zu ignorieren. Außerdem hielt sie krampfhaft die Tränen zurück, die nach draußen drängten. Die Erinnerung an die Rückfahrt zum Schiff ließ Zoe aufstöhnen. Jeder Hubbel eine Tortur, jedes Schlagloch die Hölle für ihren Arm, obwohl Tuva merklich vorsichtiger fuhr als zu Beginn der Fahrt. Die Schmerzen ließen auch nicht nach, als sie sich längst in ihrer Kabine auf das Bett geworfen hatte. Ihr war nicht danach zumute gewesen, einen Umweg über die Krankenstation zu machen. Sie wollte sich heute Nacht gesund schlafen – spätestens übermorgen käme ein Tag auf sie zu, der mit mehr Highlights gespickt war, als der Tag Stunden hatte.

Obwohl Zoes Magen nach fester Nahrung verlangte, würde er heute jedoch darauf verzichten müssen, denn sie wollte und konnte sich keinen einzigen Millimeter mehr vorwärts bewegen. Jede Bewegung schmerzte wie verrückt und verursachte einen Weinkrampf. Sie biss in die Knöchel der Hand des unverletzten Arms. Kaum auszuhalten. Von Sich-gesund-schlafen würde heute Nacht keine Rede sein. Sie würde kein Auge zu tun. Mit schmerzverzerrter Grimasse hielt sie ihren lädierten Arm so gut es ging ruhig und hoffte, dass morgen früh wie durch ein Wunder alles wieder in Ordnung wäre.

Was für ein Trugschluss. Am nächsten Morgen verfestigte sich ihr Eindruck, die Schmerzen hätten sich verschlimmert. War das möglich? Zoe hätte noch ein paar Schnappschüsse vom Be- und Entladen im aktuellen Hafen machen wollen. Dieses Vorhaben konnte sie sich abschminken. Es gab keine Position mehr, in der sie ihren linken Arm schmerzfrei hätte halten können. Wenn nicht bald etwas geschah, das den Arm funktionstüchtig machte, könnte sie gleich von Bord springen.

Gegen acht Uhr quälte sie sich aus dem Bett und machte sich auf zur Krankenstation. Eine schnelle Gesundung musste gelingen, sonst befand sich ihr Leben finanziell, psychisch und physisch am Abgrund.

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