Читать книгу Liebe im Fokus - Emma zur Nieden - Страница 9
ОглавлениеTag 4
Ein Unglück kommt selten allein
Zoe betrat mit schmerzverzerrtem Gesicht, den linken Arm am Ellbogen stützend, die kleine als Krankenzimmer ausgestattete fensterlose Kabine. Eine Frau in weißem Kittel stand mit dem Rücken zu ihr an einer Art Arbeitsplatte. Sie schien Tablettenpackungen in einen geöffneten Schrank einzusortieren.
Zoe klopfte zaghaft mit der gesunden Hand an den Türrahmen. Dabei musste sie ihren verletzten Arm loslassen, was einen Schmerzensschrei verursachte. Die Frau, vermutlich die Krankenschwester, zuckte zusammen und drehte sich abrupt um.
„Sie haben mich vielleicht erschreckt“, sagte die Schwester mit weit aufgerissenen Augen.
„Tut mir leid. Das wollte ich nicht, aber der Arm schmerzt doch mehr, als ich mir selbst eingestehen wollte.“ Zoe sprach mit belegter Stimme. Sie war kurz vor einem Weinkrampf. „Guten Morgen!“
„Guten Morgen!“ Die Krankenschwester legte eine Tablettenschachtel zur Seite. „Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Äh, ja …“ Zoe hielt den linken Arm in die Höhe und schrie abermals vor Schmerzen auf.
„Ich sehe mir den Arm einmal an. Bitte setzen Sie sich auf die Liege. Ich bin übrigens Schwester Malin.“
Zoe gehorchte. „Zoe Burger.“
„Frau Burger, können Sie die linke Hand bitte auf Ihrem Oberschenkel ablegen?“ Schwester Malin breitete ein Tuch über Zoes Beinen aus, vermutlich, damit die Jeans unbeschadet blieb, bei was immer die Schwester vorhatte. Als Zoe den verletzten Arm auf ihren Oberschenkel legte, kamen ihr vor Schmerzen die Tränen.
„Meine Damen und Herren, in Kürze legen wir in Bodø an. Aufgrund eines erheblichen Aufkommens an Ladung wird sich das Auslaufen auf dreieinhalb Stunden ausweiten. In der Zeit können Sie sich gerne ein wenig in der Stadt umsehen. Die Verspätung holen wir in der Nacht wieder auf.“ Zoe nahm die Durchsage der Reiseleitung nur wie durch Watte wahr, die den nächsten Halt in verschiedenen Sprachen mitteilte.
Schwester Malin durchtrennte Zoes schönstes Holzfällerhemd mit einer Schere, um besser an die Wunde heranzureichen. Der Verlust des Hemdes trat in den Hintergrund, weil dieser Vorgang wahnsinnige Schmerzen auslöste. Sie biss die Zähne zusammen, denn sie wollte vor der Schwester nicht als Weichei gelten. Malin drückte vorsichtig an Zoes linkem Unterarm entlang bis zu der Stelle, an der der Druck einen dieses Mal spitzen Schmerzensschrei auslöste.
„Der ist gebrochen“, stellte Malin sachlich fest und ließ von Zoes Arm ab.
„Dann legen Sie einen Gips an und geben mir eine Packung Schmerztabletten“, forderte Zoe. „Ich muss ein paar Fotos in Bodø machen.“
„Daraus wird nichts. Erstens gipse ich keinen Arm ein, der nicht mindestens eine Röntgenaufnahme gesehen hat und zweitens muss unbedingt eine Ärztin einen Blick auf die Aufnahme und ihren Arm werfen, bevor sie den Gips anordnet. Wir haben kein Röntgengerät an Bord.“ Schwester Malin zuckte entschuldigend mit den Schultern.
„Das können Sie nicht machen. Ich habe einen Auftrag zu erfüllen. Wenn ich in Bodø keine Fotos machen kann, bin ich erledigt und kann Insolvenz beantragen.“ Während des Sprechens hampelte Zoe mit ihren Armen herum, was den nächsten Schrei provozierte. Sie hatte schlichtweg ihren gebrochenen Arm vergessen, denn der Supergau würde eintreten, wenn sie nicht schnellstens an einen Gips kam und ihre Arbeit fortsetzen konnte.
„Sie merken selbst, dass Sie mit diesem Arm wohl in der nächsten Zeit nicht mehr werden fotografieren können?“ Ein stirngerunzelter Blick traf Zoe. Ihr wurde schwindlig bei dieser unverblümten Wahrheit, die ihr Ende als Fotografin besiegelte. Sie drohte bewusstlos zu werden. Mit sanftem Druck legte Schwester Malin Zoe auf die Liege. Zoe schloss die Augen. Ihr Kopf fühlte sich an, als säße er in der Gondel eines Karussells. Der einzige klare Gedanke, den sie treffen konnte, drehte sich um ihre Existenz.
„Ich muss.“ Zoe kämpfte mit den Tränen. Die Krankenschwester rieb vorsichtig Zoes unversehrten Arm. Zoe seufzte. Eine tröstende Geste, aber wenig hilfreich für ihr Dilemma.
„Wissen Sie was?“ Schwester Malin zog den weißen Kittel aus und schnappte sich ihren Rucksack. „Ich kenne jemanden im örtlichen Krankenhaus. Ich telefoniere kurz und kündige uns an.“
„Sie kommen mit?“ Zoe machte große Augen.
„Glauben Sie, ich lasse Sie mit einem Armbruch allein irgendwohin gehen?“
Zoe schüttelte den Kopf und schöpfte Hoffnung, dass sich doch noch alles zum Guten wenden konnte. Vor ihr stand eine Frau der Tat. Was für ein Glück. Von den Worten, die bei dem Telefonat gewechselt wurden, verstand Zoe kein Wort. Schwester Malin beendete das Gespräch.
„Welche Kabinennummer haben Sie? Wir sollten Ihnen ein paar Sachen packen. Ingrid will Sie ein paar Tage zur Beobachtung auf ihrer Station behalten.“
„Ich werde nicht im Krankenhaus bleiben. Ich komme wieder mit aufs Schiff, nachdem Ihre Freundin meinen Arm eingegipst hat.“ Zoe hielt sich gerade noch zurück, ihre Arme vor der Brust zu verschränken.
„Sie wissen, dass diese Handlungsweise unverantwortlich ihrem Arm gegenüber ist, der womöglich steif bleibt, wenn sie ihm keine Ruhe gönnen?“
Tränen liefen ungehemmt über Zoes Wangen. „Ich muss einen Auftrag erledigen. Und das heißt nun mal, dass ich unendlich viele Fotos von der gesamten Strecke der Postbudruten brauche.“ Sie sprach mit schluchzender Stimme, weil die Insolvenz bereits vor ihren Augen tanzte und ihr die Kehle zuschnürte. Sie schnappte nach Luft.
Malin kam auf sie zu und streichelte vorsichtig Zoes gesunden Arm. „Kommen Sie erst einmal mit. Nach Ingrids Befund sehen wir weiter.“
Malin nahm ihr Smartphone aus dem Rucksack und tätigte einen weiteren Anruf auf Norwegisch. Zoe verstand nur Bahnhof. Immerhin führte die zärtliche Geste der Krankenschwester dazu, dass Zoes Tränen versiegten.
„Mit wem haben Sie telefoniert?“, wollte Zoe auf dem Weg zum Ausgang wissen. Schwester Malin hatte Zoes Arm fixiert, so dass er nicht bei jeder kleinsten Bewegung schmerzte. Als Schwester und Patientin am Ausgang des Schiffes ankamen, konnten sie das Schiff ungehindert verlassen, denn die übliche Schlange, hatte sich bereits in Luft aufgelöst. Malin machte kurz an der Rezeption halt. Zoe konnte sich denken, dass sie dort Bescheid gab, dass sie eine Patientin zum Krankenhaus begleitete.
Draußen wartete ein Taxi auf sie. Malin half Zoe auf den Rücksitz, damit der verletzte Arm so wenig wie möglich schmerzte. Die Schwester nahm neben ihr Platz.
„Das ist der Grund des zweiten Anrufs. Ich habe die Taxizentrale gebeten, mir Laurin so schnell wie möglich zu schicken.“
Sie klopfte dem Taxifahrer auf die Schulter. „Morn, Laurin.“
„Morn, Malin. Til sykehus?“ Der Taxler drehte sich zu Malin um.
„Ja, takk.“ Malin zeigte auf Zoe. „En syk passasjer.“
Der Taxifahrer nickte und konzentrierte sich auf den Straßenverkehr. Zoe fiel ein, dass ihre Geldbörse im Rucksack in ihrer Kabine lag. Malin würde den Betrag nach der Fahrt auslegen müssen, und Zoe würde selbstverständlich den Betrag zurückerstatten.
Malin zeigte auf den Fahrer und flüsterte: „Laurin ist ein alter Freund von mir. Er lässt alles stehen und liegen, um mir zu helfen. Ich habe ihm mal aus der Patsche geholfen. Unter Umständen wartest du in Bodø über eine halbe Stunde auf ein Taxi. Das hätte uns zu viel Zeit gekostet.“
Zoe seufzte in sich hinein. Schwester Malin schien ihr dabei helfen zu wollen, wieder mit zurück an Bord zu kommen. Warum sonst hätte sie die Ankunft des Taxis beschleunigen sollen? Und sie war zum Du übergegangen, üblich in Norwegen. Daran fand Zoe nichts auszusetzen.
Nachdem die beiden Frauen auf dem Krankenhausgelände ausgestiegen waren, steuerte Malin sofort die Orthopädische Abteilung an. Eine Frau im weißen Kittel begrüßte sie freundlich.
„Ich bin Ingrid, deine behandelnde Ärztin.“ Ingrid hielt Zoe ihre Hand hin. Sie ergriff sie, stellte sich vor und bedankte sich, dass sie ohne lange Wartezeit behandelt wurde.
„Ich nehme dich mit zur Röntgenabteilung. Wenn die Aufnahme entwickelt ist, wissen wir, ob dein Arm tatsächlich gebrochen ist. Malin hat bereits die nötige Untersuchung vorgenommen, die ich auch mache, um einen Bruch festzustellen. Es ist deshalb nicht nötig, dir ein zweites Mal Schmerzen zuzufügen. Komm bitte mit.“ Ingrid ging voraus. „Ich habe uns bereits angekündigt. Es dürfte nicht lange dauern.“
Zoe konzentrierte sich darauf, Ingrid nicht zu verlieren, die mit strammem Schritt vorauseilte.
„Wir sind da. Nimm doch einen Moment Platz. Ich gebe die Anweisungen für den Winkel der Aufnahme.“ Ingrid verschwand in einem Raum, an dessen Tür ein Schild mit den Worten „Adgang forbudt“ klebte.
Ingrid kam wieder heraus und steuerte die kleine Sitzgruppe an. „Folge bitte der Schwester. Ich warte hier auf dich.“
Zoe tat, wie ihr geheißen. Die Dame aus der Radiologie sprach Englisch mit ihr. Liv, so stellte die Frau sich vor, gab die Anweisungen für insgesamt drei Röntgenaufnahmen aus verschiedenen Perspektiven. Schwester Liv verabreichte ihr ein leichtes Schmerzmittel, so dass sich die Tortur verschiedener Haltungen des Arms während des Röntgens in Grenzen hielt. Nach der letzten Aufnahme begleitete Zoe Ingrid zu ihrem Arztzimmer in der Orthopädie. Malin wartete in einem der bequem wirkenden Sesseln davor. Zoe bat sie mitzukommen, damit auch sie über die Art der Verletzung Bescheid wusste, um bei Schmerzen reagieren konnte. Das hoffte Zoe zumindest. Sie seufzte so laut, dass sich sämtliche Personen in weißen Kitteln auf dem Flur umdrehten.
Sich nicht weiter mit Zoes Befinden aufhaltend grinste Ingrid in sich hinein und führte die beiden in einen Behandlungsraum der Orthopädischen Abteilung.
„Entschuldige, aber bei dem schweren Seufzer vorhin musste ich einfach grinsen.“
„Kein Problem. Ich würde selbst gerne über das hier grinsen“, sagte Zoe und zeigte mit ihrem Kinn auf den gebrochenen Arm.
„Setz dich bitte auf die Liege.“ Ingrid nahm die Aufnahmen aus dem Umschlag, den Liv ihr vorhin überreicht hatte, und befestigte sie an der von hinten beleuchteten Leiste an der Wand. Zoe und Malin traten näher heran.
„Sieh hier,“ Ingrid deutete mit dem kleinen Finger ihrer rechten Hand auf die beiden Knochen des Unterarms, die vollständig durchtrennt waren. „Das sind glatte Durchbrüche sowohl bei der Elle als auch der Speiche. Man spricht von einer kompletten Unterarmfraktur.“
Ingrid sah Zoe mit einem verschmitzten Lächeln an. „Herzlichen Glückwunsch. Es ist sehr selten, dass gleich beide Unterarmknochen brechen und dann auch noch so schön gleichmäßig.“
„Was bedeutet das jetzt?“, fragte Zoe unsicher.
„Ich werde den Arm eingipsen. Du solltest mit dem Gips keine großen Anstrengungen unternehmen. Ausruhen ist angesagt. Bettruhe wäre angemessen, aber du darfst es dir auch an Deck auf einem der Liegestühle der Polarsirkel bequem machen. Es wäre ja eine Schande, diese herrliche Reise nur vom Bett aus zu erleben.“
Zoe runzelte die Stirn.
„Das ist mein voller Ernst. Solltest du gegen diese Anweisung verstoßen, wäre es durchaus möglich, dass die beiden Knochen nicht richtig zusammen wachsen. Das wiederum würde bedeuten, dass du den Arm nie wieder würdest schwer belasten können. Ganz abgesehen davon, dass dir ein Leben lang Schmerzen bevorstehen würden. Es gibt also gute Gründe, sich an meine Anweisungen zu halten.“ Ein sehr strenger Blick in Richtung Zoe deutete an, dass Ingrid nicht zu Scherzen aufgelegt war.
„Das heißt, ich kann das Fotografieren während der Reise vergessen?“
„Das solltest du, wenn dir die Funktionsfähigkeit deines linken Unterarms lieb ist. Ich könnte dich auch vorsichtshalber für ein paar Tage zur Beobachtung hier im Krankenhaus behalten. Dann wäre ich sicher, dass du nichts unternimmst, das deinem Arm schadet. Aber ich nehme nicht an, dass das in deinem Sinne wäre. Malin hat am Telefon sehr deutlich gemacht, dass sie dich wieder mitnehmen würde. Ich schlage vor, du kommst auf der Rückfahrt des Postschiffes noch einmal bei mir vorbei, und ich sehe mir den Heilungsfortschritt an. In Deutschland solltest du unbedingt einen Orthopäden deines Vertrauens aufsuchen, der schließlich den Gips entfernt, wenn er festgestellt hat, dass der Bruch – ich sollte besser sagen die Brüche – gut verheilt sind.“
Angesichts dieser Hiobsbotschaft konnte Zoe ihre Tränen einfach nicht mehr zurückhalten. Noch während Ingrid sprach, spürte sie jede einzelne ihre Wangen hinunterrinnen. Sie weinte lautlos und drehte sich weg. Wie peinlich. Als erwachsene Frau sollte sie ihre Gefühle unter Kontrolle haben, sagte zumindest ihre Mutter. Aber Bilder ihres Ruins gingen durch ihren Kopf. Das war doch ein Grund zum Weinen. Zoe spürte eine warme Hand, die sich auf ihre rechte Schulter legte. Malin. Für einen Moment fühlte sie sich getröstet.
„Ingrid legt jetzt den Gips an. Bitte dreh dich nochmal um.“ Die Stimme sprach so mitfühlend mit Zoe, dass sie nicht anders konnte, als der Bitte Folge zu leisten. Malin reichte ihr ein Taschentuch. Sie schnäuzte sich mit einer Hand. Eine gute Übung für die nächsten Wochen. Die andere Hand würde sie nicht mehr benutzen können.
Ingrid stellte die zum Anlegen eines Gipses nötigen Utensilien zusammen. Sie lagen wohlgeordnet auf der Liege, auf der Zoe saß. Zuerst legte Ingrid zum Schutz der Haut ein Polster aus Frottee um den Arm. Zoe verzog ein paar Mal das Gesicht vor Schmerzen.
Ingrid erklärte, dass sie eine Glasfaserbinde benutzen würde. Sie arbeitete schnell, weil das Material innerhalb von wenigen Sekunden auskühlte. Nachdem der Gips angelegt war, griff sie mit den Händen um das Handgelenk, um sicherzugehen, dass es durch den sich aushärtenden Stoff nicht zusammengedrückt wurde.
„Steht dir ausgezeichnet“, urteilte Ingrid. Ihr Lächeln wirkte so ansteckend, dass Zoe nicht anders konnte, als zumindest ihren Mund zu verziehen.
„Du solltest mit der linken Hand möglichst nirgendwo anstoßen oder hängen bleiben. Das Material braucht zirka eine Stunde, bis es vollständig ausgehärtet ist. Normalerweise würde ich dich hier warten lassen, aber ich weiß ja, dass euer Schiff in weniger als 30 Minuten ablegt. Euer Taxifahrer Laurin steht schon bereit.“
Zu Malin gewandt fügte Ingrid hinzu: „Wenn ihr an Bord seid, zeigst du ihr, wie sie mit der Armschlinge umgehen soll, ja.“
„Vielen, vielen Dank, dass alles so reibungslos geklappt hat.“ Zoe schüttelte Ingrid zum Abschied kräftig die Hand. „Hätte nicht eigentlich eine Krankenschwester den Gips anlegen müssen?“
„Da hast du recht. Aber wenn alles seinen normalen Gang gegangen wäre, wärt ihr jetzt nicht auf den Weg zum Hafen.“ Ingrid zuckte mit den Schultern. „Sonst würdet ihr nicht rechtzeitig wieder an Bord sein. Eine Rechnung bekommst du aber trotzdem. Ich faxe sie aufs Schiff.“ Ingrid zwinkerte Zoe zu.
Zoe lächelte. „Selbstverständlich. Und noch einmal vielen Dank. Farvel og vi sees!“ Sie hoffte, den Abschiedsgruß Auf Wiedersehen und bis bald! richtig ausgesprochen zu haben.
„Vi sees!“ Ingrid umarmte Malin und richtete noch einige norwegische Worte an sie, bevor sie sich voneinander lösten und Malin Zoe zum Ausgang begleitete.
Wenige Sekunden vor dem Ablegen erreichten sie das Schiff– die Leinen waren schon gelöst und der dritte Ruf Minuten vorher erfolgt. Der erste Offizier – eine Frau – wartete an der Rezeption und klopfte mit dem Finger auf ihre Uhr. Gleichzeitig sprach sie in ihr Funkhandy und gab wahrscheinlich an den Kapitän durch, dass sie nun ablegen konnten.
„Wo wart ihr denn so lange? Wir haben schon überlegt, ohne euch abzulegen.“ Jorna Magnussen, wie Zoe dem Schild am Revers entnahm, hielt inne, als sie Zoes Arm in Gips gewahr wurde. „Was ist denn mit Ihnen passiert?“ Schrecken zeigte sich in ihren Augen.
Bevor Zoe zu einer Erklärung ansetzen konnte, hatte Malin Lorna schon in wenigen Worten auf Norwegisch die Sachlage erklärt. Wenigstens vermutete Zoe das. Mitleid zeichnete sich auf Frau Magnussens Zügen ab.
„Das tut mir sehr leid.“ Ein weiterer mitleidiger Blick traf Zoe. Mitleid fand sie in ihrer Situation völlig unangemessen. Sie brauchte jemanden, der für sie das Fotografieren übernahm. Sie seufzte wohlweislich innerlich, um nicht die nächsten mitleidigen Blicke zu ernten.
„Komm bitte mit ins Krankenzimmer“, forderte Malin Zoe auf. „Ich gebe dir noch eine professionelle Armschlinge und zeige dir, wie du sie festzurren kannst. Das wird dir das Halten des Arms mit der rechten Hand abnehmen und ihn ein wenig fester fixieren. Ich soll dir ein Schmerzmittel geben, für den Fall, dass der linke Arm sich meldet.“
„Takk“, sagte Zoe. „… für alles.“
„Gern geschehen.“ Malins tiefblauer Blick traf Zoe unerwartet mitten ins Herz, das plötzlich in einem rasenden Rhythmus pulsierte. „Ich verabschiede mich auch gleich von dir, weil ich morgen für drei Wochen Freizeitausgleich habe. Bei Schwester Viktoria, die mich ablöst, bist du in den besten Händen. Ich werde sie bitten, ein Auge auf dich zu haben. Mach´s gut.“ Malin streckte die Hand zur Verabschiedung aus.
Diese Information versetzte Zoe für einen Augenblick in eine Schockstarre. Das durfte nicht wahr sein. Ihre Retterin verließ das Schiff? Nein! Zoe musste das um jeden Preis verhindern. Innerhalb des Bruchteils einer Sekunde bildete sich eine Idee in ihrem wirren, überforderten Hirn. Sie brauchte Malin. Unbedingt. Zoe verweigerte ihr die rechte Hand.
„Du kannst nicht gehen.“ Zoe klang sehr eindringlich und verschränkte die Arme vor der Brust und ließ sie sofort wieder hängen. Ein stechender Schmerz schoss durch ihren gebrochenen Arm. Den Schrei unterdrückte Zoes so gut es ging. „Du bist die einzige, die mich retten könnte. Ohne dich verliere ich meinen Auftrag, und damit ist meine Existenz ruiniert.“
„So dramatisch wird es schon nicht sein.“
„Du ahnst ja nicht, um wie viel dramatischer die Situation sich darstellt. Ich würde dich gerne nach deinem Dienst in meine Kabine einladen.“ Zoe sah Malin flehend an. „Auf einen Kaffee oder Tee, was auch immer du magst.“
Malin schwieg. Zoe konnte sehen, wie es in ihrem Kopf ratterte. Doch plötzlich löste sich Malins ernste Miene in ein fröhliches Lächeln.
„Ich komme zum Tee in der Hoffnung auf lose Teeblätter.“
Zoe fiel ein Stein vom Herzen. Nun würde es sich doch noch auszahlen, dass sie neben ihrer schweren Ausrüstung ebenso wenig auf ein dickes Paket Darjeeling verzichtet hatte. Einen frisch aufgebrühten Tee für zwei würde sie so gerade noch hinbekommen mit einer Hand, hoffte sie wenigstens.
„Lass dich überraschen.“ Zoe lächelte verschmitzt. „Du findest mich auf dem Deck 7 in Kabine 775.“
„Das ist eine der Suiten mit Balkon, oder?“ Malin runzelte die Stirn. Zoe konnte ihr geradezu ansehen, dass sie sich darüber zu wundern schien, dass jemand, der eine solche Suite bewohnte, sich am Existenzminimum befinden sollte. Zoe nickte. Malins Irritation würde sie aufklären, wenn Malin sie besuchte.
„Dann bis nachher.“ Zoe winkte mit der unversehrten Hand.
„Schon dich einstweilen.“
„Mach ich“, rief Zoe schon ein paar Schritte vom Krankenzimmer entfernt. Sie würde sich gute Argumente zurecht legen müssen, um Malin davon zu überzeugen, ihr während ihres wohlverdienten Freizeitausgleichs zu helfen. Zuvor würde sie eine Ausbildung als Fotografin im Zeitraffer durchlaufen. Nur wusste si noch nichts davon.