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ОглавлениеTag 2
Ankunft in Ålesund
Nach einem fantastischen Abendessen schlief sie tief und fest wie lange nicht mehr. Das ständig im Hintergrund vorhandene Motorengeräusch ermöglichte offensichtlich eine Tiefenentspannung bei Zoe, die enorm zu dieser besonderen Schlafqualität beitrug. Sie hoffte auf einen so intensiven Schlaf wie in der ersten Nacht nach jedem weiteren anstrengenden Tag auf der Reise. Zu ihrer eigenen Überraschung trug die erste traumlose Nacht dazu bei, seit langer Zeit so gut erholt und erfrischt wie in den Anfängen ihrer Laufbahn als freischaffende Fotografin zu sein. In den letzten Wochen suchten sie wirres Zeug in ihren Träumen heim, die sie unruhig hin und her wälzen ließen.
Nach der Dusche saß Zoe ausgeruht und entspannt am Frühstückstisch, während sich die Landschaft in Zeitlupe an ihrem Fensterplatz vorbei bewegte. Der Kapitän begrüßte Zoe an ihrem Tisch per Handschlag und wünschte ihr gutes Gelingen für ihre Arbeit. Er bot an, ihr jederzeit für Fragen zur Verfügung zu stehen. Die Crew nahm die Mahlzeiten ebenfalls im Speiseraum ein. Der Kapitän winkte ihr zu, als er den Raum verließ. Zoe winkte lächelnd zurück. So nett wurde sie selten an einer vorübergehenden Wirkungsstätte aufgenommen. Ein wohliges Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus.
Zoe rührte in ihrem Kaffee, während sie die Stationen auf dem Plan überflog, die das Postschiff am heutigen Tag ansteuern würde. In etwa zwanzig Minuten legte das Schiff in Ålesund an. Eine heikle Angelegenheit, wie sie dem von Frau Johansen zusammengestellten Dossier entnahm. Das Papier versorgte sie zudem mit zusätzlichen Besonderheiten, damit Zoe sich darauf einstellen konnte, an welchen Stellen mit spektakulären Aufnahmen zu rechnen wäre. Das erleichterte ihr die Auswahl der Kameras enorm, die sie gleich mit nach draußen nehmen würde.
Als Zoe auf dem Sonnendeck stand, konnte sie bereits von Weitem erkennen, dass es in dem kleinen Hafen keine einzige freie Anlegestelle mehr gab. Lediglich eine winzige Lücke zwischen zwei Frachtern tat sich auf. Zoe bezweifelte, dass dieser kleine Platz für das riesige Motorschiff ausreichte, denn auch beim Näherkommen zeichnete die Lücke sich nicht durch ihre Großzügigkeit aus. Das Schiff passierte die Hafenmauern und steuerte dennoch darauf zu. Der Kapitän drehte das sperrige Fahrzeug auf der Stelle, vermutlich, um später beim Ablegen in einer besseren Position zu sein. Der Teil der Mannschaft der Polarsirkel, der verantwortlich für die An- und Ablegemanöver zeichnete, lief geschäftig an der Reling auf und ab. Jeder Handgriff musste sitzen, wenn das Schiff sich der Hafenmauer näherte. Der Auslöser an Zoes Kamera kam nicht zur Ruhe. Vor der Laderampe des Postschiffes wartete bereits eine Armada von Menschen in Overalls, um die bis obenhin beladenen Palletten in einem kurzen Zeitfenster an Bord zu bringen. Später beobachtete Zoe, wie eingespielt die Teams arbeiteten. Jeder Arbeitsgang wurde mit der Präzision eines Uhrwerks ausgeführt.
Einmal stockte Zoe während des Landemanövers der Atem, als nicht nur durch den Sucher ihrer Kamera die Häuser der Stadt bedrohlich nah kamen. Es entstand der Eindruck, als führe das Schiff mit voller Kraft auf die Häuserreihe zu. Dieser Vorgang dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, denn der Kapitän drosselte die Geschwindigkeit des Motorschiffs. Es trat eine Bremswirkung ein. Die Vibration der gewaltigen Kraft des Motors, der die Polarsirkel von der Havarie mit den vermutlich bewohnten Gebäuden in Ålesund abhielt, konnte Zoe in jeder Pore ihres Körpers spüren. Nicht auszudenken, was passieren würde, gelänge dieses Manöver nicht. Zoes Kopfkino ratterte los. Ganze Familien wurden von ihren Stühlen am Esstisch geschleudert. Ihr Frühstück landete sehr zur Freude der Möwen im Hafenbecken, während die Menschen schließlich vom Schutt ihrer Häuser begraben wurden. Manchmal neigte Zoe dazu, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen. Das alles passierte nicht, denn der Kapitän parkte das sperrige Motorschiff perfekt ein.
In der Sekunde, in der Zoe den Blick von der Kamera löste, bemerkte sie, dass die Anspannung der anderen Passagiere nachließ, die offensichtlich genau wie sie auf einen Aufprall gewartet hatten. Ein deutlich hörbares, kollektives Ausatmen dokumentierte die Erleichterung aller an der Reling stehenden Menschen. Der Kapitän verneigte sich auf der Brücke vor den in euphorisches und freudiges Klatschen ausbrechenden Zuschauern. Ein Zeichen des höchsten Respekts. Mit so einem großen Pott so filigrane Manöver zu vollziehen grenzte nicht nur für Zoe an die hohe Kunst des Navigierens.
Schließlich lag das Schiff sicher im Hafen und das Löschen sowie das Einladen der Ware konnte beginnen. Die Häuser reihten sich direkt an den Hafen, zum Greifen nah, und symbolisierten damit die Enge des Anlegeplatzes, der sicher nur ausnahmsweise für das Postschiff freigegeben worden war.
Auf dem Weg zur Rezeption, von der aus man von Bord gehen konnte, dachte Zoe über die Priorität ihrer Arbeit nach. Ihr blieb höchstens eine halbe Stunde Zeit, um sowohl ein paar Bilder von dem extrem nah geparkten Schiff an der Häuserzeile als auch von der Stadt zu machen. Die knapp bemessene Liegezeit reichte nicht, um sich Ålesund ausführlicher anzusehen.
Das Städtchen brillierte vor allem durch die vielen Jugendstilbauten, die sich im Zentrum ansammelten. In der knappen halben Stunde des Aufenthalts erhaschte Zoe lediglich einige flüchtige Eindrücke von der Stadt und hielt sie auf zahllosen Fotos fest.
Frau Johansen hatte Zoe eingeschärft, bei kurzen Aufenthalten in einem Hafen in der Nähe des Schiffes zu bleiben und bei dem ersten Signal des Nebelhorns zur Polarsirkel zurückzukehren. Deshalb stand sie schon längst wieder auf dem Sonnendeck, als der Kapitän befahl, die Leinen zu lösen. Sie hielt nun auch das Ablegemanöver in Bildern fest. Wie vermutet, erschien es Zoe gegenüber dem Anlegen kinderleicht. Auch die sich zeitlupenartig entfernende Stadt hielt Zoe im Bild fest.
Ein weiteres Highlight der Tour folgte kurze Zeit später: der Eingang zum Geiranger Fjord, einem der bekanntesten, aber auch über Gebühr frequentierten Fjord Norwegens. Der beliebte Geiranger Felsen mit einem atemberaubenden Blick auf das Wasser, wie Zoe aus einem Bildband über die schönsten Fjorde Norwegens wusste, befand sich am Ende einiger anderer Fjorde oder Seitenarme, die das Schiff passierte, um den besagten Geiranger zu erreichen. Als die Polarsirkel in den Meeresarm einbog, konnte Zoe sofort nachvollziehen, warum er zum UNESCO-Weltnaturerbe gehörte. Die Schönheit und Kargheit gleichermaßen, die diesen schroffen Felsen auszeichnete, überwältigte sie. Zoe drückte ohne Unterbrechung auf den Auslöser der Kamera.
Das Schiff setzte seinen Weg unaufhörlich fort. Bei den Sieben Schwestern hielt Zoe den Atem an. Sieben nebeneinanderliegende Wasserfälle stürzten hinunter, die sie alle auf zahllose Bilder bannte, während sie aufmerksam zuhörte, was die Reiseleitung über die Lautsprecher von der Sage über die Schwestern erzählte. Weil ein Bewerber um die Hand einer Schwester nach der anderen anhielt und jedes Mal abgewiesen wurde, verfiel er dem Alkohol. Zoe setzte die Kamera ab, um die Flaschenform zu erkennen, die die Wasserfälle symbolisieren sollten. Naja, mit viel Fantasie konnte Zoe eine Flasche erkennen. Einige der sieben Wasserfälle entzogen sich dem Auge, weil das Wasser versiegte, je wärmer es wurde. Im Sommer zeigten sich gar nur vier von ihnen. Die Passagiere drängelten sich auf der Backbordseite an der Reling. Zoe hoffte, das Schiff verfügte über eine Art Pendelmechanismus, der die Verlagerung des Gewichts ausglich, wenn sämtliche Passagiere sich auf eine Seite zu einem sehenswerten Highlight begaben.
Von ihrer Position auf dem Sonnendeck aus eröffnete sich Zoe ein atemberaubender Blick auf den Zauber der Natur, den die Landschaft des Fjords ausstrahlte. Eine Gänsehaut lief über ihre Arme.
Als Zoe später ihre Kamera in der Kabine verstaut und die Bilder von der SD-Karte auf ihren PC übertragen hatte, begab sie sich zu einer der Bars, die sich über das Schiff verteilten. Eine Belohnung für die gute Arbeit heute, wie sie beim Überfliegen der Aufnahmen sehen konnte. Nur wenige Passagiere saßen dort, um ein Bier oder etwas Antialkoholisches zu trinken. Ihre Hoffnung, die süße Barkeeperin mit den raspelkurzen Haaren anzutreffen erfüllte sich. Zoe war ihr bereits auf ihren Spaziergängen über das Schiff begegnet. Sie kletterte auf einen der Barhocker.
„Hi“, begrüßte Runa sie – ihr Name stand auf dem Schild an ihrer Uniform. „Was kann ich für dich tun?“
„Hi Runa.“ Zoe lächelte sie an. „Ich hätte gern eine antialkoholische Piña Colada, er du snill.“
Runa strahlte. „Kommt sofort.“
Zoe sah der Barfrau zu, wie sie mit traumwandlerischer Sicherheit die wenigen Zutaten für den Cocktail mit einstudierten Showeinlagen in den Shaker beförderte. Das Mark einer halben Vanilleschote wanderte zusätzlich hinein. Mmmhhh. Das sah lecker aus. Runa schüttelte das Gefäß hin und her, im Wechsel dicht vor Zoes Nase und weiter entfernt. Gekonnt füllte sie ein Glas randvoll mit diesem erfrischenden Getränk, verzierte den gezuckerten Rand des Glases mit einer Ananasscheibe, setzte vorsichtig eine Physalis auf die Oberfläche, versenkte einen Strohhalm aus Bambus und stellte das Glas in schwungvollem Tempo vor Zoe ab, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten. Zoe reichte ihr die Bordkarte, um das Getränk ihrer Liste hinzuzufügen, die sie am Ende der Fahrt begleichen würde.
„Vær så god.“
„Takk.“ Zoe führte den Strohhalm zum Mund und zog daran. Köstlich und erfrischend. Sie schloss die Augen und schmeckte Ananassaft, Kokos, Vanille. Eine wunderbare Mischung. „Sehr, sehr lecker.“ Zoe öffnete die Augen und sah Runa an.
„Freut mich, dass dir der Cocktail schmeckt.“ Schließlich wandte die Barkeeperin sich ab, um den nächsten Gast zu bedienen, der sich zu ihnen gesellte. Schade!
Nach dem Hochgenuss der Piña Colada saß Zoe mit ihrem Laptop auf dem Schoß und einem zweiten Cocktail zum Mitnehmen auf dem Balkon ihrer Kabine. Ab und zu zog sie an dem Strohhalm, während sie gleichzeitig die Fotos von heute auf deren Niveau prüfte und die allerbesten in einen neuen Ordner speicherte.
Als sie die Vorauswahl der Fotos für heute als abgeschlossen betrachtete, gönnte Zoe sich eine Auszeit von ihren Kameras. Die nächsten Tage würden stressig genug werden, da könnte sie ihre Ausrüstung einmal ruhigen Gewissens zur Seite legen. Sie nahm eine schnelle Mahlzeit im Restaurant, schmuggelte eine Mousse in ihre Kabine und verspeiste sie auf dem Balkon, während die Landschaft einmal mehr beruhigend an ihr vorüberzog. Sie genoss die Stille. Entdeckte hin und wieder ein kleines Detail in der Landschaft wie ein Bauernhaus, in dem Licht brannte. Sie stellte sich vor, dass eine Großfamilie am Tisch saß und die Abendmahlzeit gemeinsam einnahm. Sie ignorierte ein aufkommendes Einsamkeitsgefühl. Mahlzeiten zusammen mit einer vertrauten Person einzunehmen, mit der sie sich gut verstand, fehlten ihr manchmal. Zoe schob diesen sehnsuchtsvollen Gedanken beiseite.
Hin und wieder schlich sich ihr abgeräumtes Konto in ihre Gedanken. Das auf nimmer Wiedersehen verschwundene Vermögen sorgte dafür, dass Zoe in den letzten Wochen ständig am Offenbarungseid entlangschlitterte. Dieses Schreckensszenario ergriff Besitz von ihr. Zoe musste nicht nur die Kränkung und die tiefe Wunde der Verletzung durch Petras Handeln verschmerzen, sondern rutschte außerdem an den untersten Rand des Existenzminimums.
Zoe mahnte sich, sich zu beruhigen und sich nicht in diese negative Stimmung hineinzusteigern, die den Ärger, die Wut und die Verzweiflung der letzten Wochen wieder lebendig werden ließen. Bisher verlief die Reise zu ihrer Zufriedenheit. Der Auftrag der Postbudruten würde sie in letzter Minute vor dem sicheren Absturz retten.
Zoe liebte das Fotografieren, seit sie denken konnte. Die Fotografin, die die Foto AG in der Schule geleitet hatte, war von Anfang an ihr großes Vorbild gewesen. In vielerlei Hinsicht. Viktoria stellte sich für Zoe als begnadete Künstlerin hinter der Kamera heraus. Sie wusste bereits vor dem Auftauchen eines Motivs, dass ihr etwas Überwältigendes vor die Linse käme, jederzeit vorbereitet auf das perfekte Motiv. Dieses Gespür und erst recht ihre Begeisterung für ihr Instrument, die Kamera, hatten Zoe augenblicklich angefixt und nie mehr losgelassen. Von da an hatte Zoe ein Ziel, auf das sie zielstrebig hinarbeitete. Sie wollte Fotografin werden.
Viktoria hatte Zoe außerdem in die Welt jenseits der Heterosexualität eingeführt. Erst durch deren Offenheit wurde Zoe bewusst, dass es im Leben vielfältige Arten der Erfüllung geben konnte. Schließlich verliebte Zoe sich in Viktoria, die selbst lesbisch und in einer gefestigten Partnerschaft lebte. Sie eröffnete ihr die lesbische Welt, nahm sie mit zum Lesbenschwof, stellte Zoe ihre Partnerin vor und zeigte ihr, dass eine Beziehung mit einer Frau glücklich machen konnte. Viktorias Erklärungen und ihr vorbildhaftes Beispiel nahmen Zoe quasi im Vorbeigehen die Angst vor ihrer eigenen Sexualität. Zoe lernte von ihr, zu ihrer eigenen Person und vor allem zu ihrer Sexualität zu stehen. Viktorias sehr einfühlsame, charmante Art ließen die Ablehnung ihrer Avancen nicht ganz so schmerzhaft erscheinen.
Als ihre Eltern Zoe kurz vor dem Abitur aufgrund ihrer Homosexualität der Wohnung verwiesen hatten, um es freundlich auszudrücken, war es Viktoria gewesen, die ihr zusammen mit ihrer Partnerin nicht nur ein Dach über dem Kopf gewährt, sondern ihr Sicherheit gespendet und Verständnis entgegengebracht hatte. Viktoria und ihrer Frau verdankte Zoe es, dass sie trotz aller Probleme, die von außen auf sie einprasselten, gestärkt aus der Situation hervorging und ihr Abitur mit Bravour bestehen konnte.
Zwar gab es heute einen spärlichen Kontakt zu ihren Erzeugern, doch Zoe empfand ihn als äußerst unterkühlt. Ihre Eltern missbilligten Zoes Lebensweise zutiefst und ließen sie es bei jedem ihrer seltenen Besuche spüren. Dass Zoes Weg inzwischen eine bilderbuchartige Karriere als Fotografin pflasterte, bedeutete den Eltern nichts. Sie ignorierten Zoes beruflichen Erfolg mit einer Hartnäckigkeit, die schon an Unverschämtheit grenzte.
Als sie von Zoes Trennung von Petra erfuhren, ritten sie bei jeder Gelegenheit während der häufiger werdenden Anrufen auf diesem Misserfolg herum. Zumindest betrachteten sie die Trennung aus dieser Perspektive. Als schmerzte Petras Verrat nicht schon genug, setzten ihre Eltern mit ihrer Häme und dem ´Wir haben´s dir doch gleich gesagt, dass du dieser Person nicht trauen kannst` noch einen drauf. Statt Zoe zu unterstützen, stocherten sie kontinuierlich in der Wunde herum und ignorierten Zoes Tränen darüber mit großer Beharrlichkeit. Warum Zoe dieses Mal den Kontakt nicht endgültig abbrach, konnte sie sich nicht erklären.