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ОглавлениеBald eine Woche später kam der Briefträger Pankraz in der Morgenfrühe bedächtig über das Katzenkopfpflaster des Spreewinkels, ging durch den Küterhof und bog in die Friedrichsgracht ein. – Von jedem Fenster und aus jeder Haustür spähten neugierige Augen, wohin er wohl seine Schritte lenken werde. Vor dem Häuschen, in dem Frau Lorenzen wohnte, blieb er stehen und klopfte an die Scheibe. Als die Witwe aus dem Fenster sah und Pankraz erblickte, bekam sie einen gewaltigen Schreck: Briefe brachten ja ihrer Ansicht nach stets Unglück. Aber Pankraz hatte heute gar keinen Brief für sie, sondern eine mündliche Bestellung. Ja – von Meister Kranold, dem Schuhmacher, rein aus Gefälligkeit. Pankraz schnupfte schnell noch einmal und fragte die Witwe, die ganz rot geworden war, ob er einen Bescheid mitnehmen solle. Meister Kranold wolle heute Schlag drei der Witwe Lorenzen einen Besuch machen. Ob es ihr passe oder ob sie etwa Wäsche habe, und welcher Tag ihr dann sonst für seinen Besuch angenehm wäre?
Anna Lorenzen entschied sich schneller, als ihr nachher lieb war. Denn kaum, daß Pankraz fort war, bekam sie Bedenken und bereute es heftig, daß sie den Besuch so rasch angenommen hatte. Aber sie wußte ja längst, daß Kranold ein Auge auf sie geworfen hatte. Nun war er also entschlossen, ihr seinen Antrag zu machen. Lange genug hatte er damit gewartet ... Obwohl ihre Stube sowieso blitzblank war und noch nach grüner Seife roch, bekam Anna doch plötzlich das Reinemachfieber. Es hätte nicht viel gefehlt, daß sie noch rasch einmal die Gardinen abgenommen und gewaschen, obwohl die Vorhänge kaum vor drei Tagen frisch aufgehangen waren. Erst als Lore aus der Schule kam, dachte sie an das Mittagbrot. Na – an solch einem Tage fehlte es einem ja doch an dem rechten Appetit; die Aufregung war viel zu groß. Und so machte die Mutter nur für das Mädel einen Eierkuchen, dicker als sonst mit Zucker bestreut. Lore riß die Augen auf, als sie diese Gunst gewahr wurde. Sie sah die Mutter verwundert an – sie ahnte ungewöhnliche Ereignisse. Aber wenn die Mutter auch Lores Staunen bemerkte, so hatte sie doch nicht Lust, sich jetzt mit ihr in Auseinandersetzungen einzulassen. „Wenn du fertig bist, werde ich dir das Haar machen!“ Das Haar machen ...? Lore machte Stielaugen, aber sie sagte nichts, sie wußte, abwarten war in solcher Lage das beste. Da begann sich Anna Lorenzen plötzlich über ihre Tochter zu ärgern: „Siehste vielleicht ein Jespenst, daß du so jlotzt ...?“ „Ein Jespenst? Nee, aber mir ist so unheimlich zumute!“ erwiderte Lore etwas kleinlaut. „Damals, als Tante Amalie gestorben war, hast du auch solche roten Backen jehabt – und denn hat es auch Eierkuchen jejeben – und ...“ „Ja – und du bist ’ne dumme Gans! Denn damit du es nun weißt: Ein jroßes Glück steht uns bevor, weil Meister Kranold kommen und dein zweiter Vater werden will. Kiek nich so dämlich, Mädel, mach die Klappe zu!“ Das tat Lore denn auch nach einer Weile, aber gescheiter sah sie trotzdem nicht aus. „Muß ich dann zu dem Schuster Vater oder Stiefvater sagen? Das bring’ ich nicht fertig – nee, nich so und nich so!“ „Herr Kranold is ein sehr netter und freundlicher Mann!“ „Aber er hat einen schwarzen Daumen wie ein Mörder ...!“ „Wa–at!“ Die Mutter hielt es für nötig, ihrer Tochter wieder einmal zu zeigen, daß sie noch immer die resolute Frau von früher war, die mit einem einzigen Griff so ein kleines, ungezogenes Ding über das Knie ziehen konnte ... Und dann saß Lore in der Kammer und heulte zum Gotterbarmen und hörte erst auf, als es klingelte und nebenan in der Stube die zaghafte Rede des Schuhmachers Kranold laut wurde. Lore konnte ihn genau durch das Schlüsselloch sehen. Wenn er nur nicht diesen Daumen gehabt hätte, der so bösartig von den anderen Fingern abstand ...! Dann sähe er in dem blauen Sonntagsrock mit dem hohen weißen Kragen wirklich ganz stattlich aus. Und jetzt sprach die Mutter ... Aber ganz anders als sonst, ebenso feierlich, wie Kranold gesprochen hatte. Nein, noch feierlicher! Und dabei machte sie ab und zu eine Art Knicks ... Aber was war das? Was sagte die Mutter ...? „Es jeht nich – da is ein Hindernis! Lore, meine Tochter, die sich nicht fügen will!“ Dann ging die Rede wieder hin und her. Bald schien es, als wollten die beiden sich umarmen, dann aber wieder, als seien sie einander wildfremd. Meister Kranold wurde immer hitziger und röter und fuchtelte mit dem Daumen, aber dann schrie er plötzlich mit schrecklicher Stimme: „Dieses Hindernis wird beseitigt! – Ick werde es beseitigen ...!“ Und damit kam er auf die Kammertür zu.
Als Lore das bemerkte, riß sie die Tür auf und stürmte mit einem Satz an dem Manne vorbei in die Stube. Dort sprang sie zum offenen Fenster hinaus auf die Gasse und rannte weg, heulend und keuchend, denn morden wollte sie sich nicht lassen ... Das sagte sie auch Herrn Bertram, als sie an seinem dicken Bauch anprallte, und auch Herrn Semper, dem sie bald zwischen die Beine lief, und schließlich auch dem Lehrer Klaus, den sie auf ihrer Flucht vor dem schrecklichen Kranold traf.
„Ja – ich bin ein Hindernis und soll beseitigt werden, damit der Schuster meine Mutter heiraten kann!“ Alle wollten das Mädel aufhalten, aber es rannte weiter. Dann kam ihr noch Kapitän Gundermann in den Weg. Hier aber ging die Sache schief. Er verstand sie nicht gleich wegen seiner Schwerhörigkeit – und dann geriet er selbst in Wut, weil ihm Kranold einmal zu enge Stiefel gemacht hatte. Als Lore nun auch hier eiligst weiter wollte, schob er ihr seinen gelben Bambusstock zwischen die Beine. Bums – da lag sie! Dann faßte er sie beim Zopf und ließ sie nicht mehr los. Die Sache müsse doch gründlich untersucht werden, sagte er. Und wenn Lore jetzt nicht gleich mit Brüllen aufhöre, würde er ihr sein großes Taschentuch in den Mund stopfen. Kapitän Gundermann konnte wegen der Gicht in seinen Knochen nicht so schnell vorwärts, und weil es doch bis zur Friedrichsgracht ein ganzes Stück Weg war, nahm er eine Droschke. Aber Kranold war nicht mehr da, und mit der aufgeregten Witwe hatte Kapitän Gundermann nichts weiter zu schaffen: hier sei ihre Tochter – und sie, Frau Lorenzen, solle auf sie aufpassen, wenn sie das Ding in die Welt gesetzt habe! Ob es an einer solchen Jöre nicht schon genug sei. Der Teufel aber solle dreinschlagen und dem verdammten Kerl, dem Kranold, in die Gedärme fahren! Nun wisse man ja, warum er zu enge Stiefel mache – wenn er mit solchen Gedanken ’rumliefe! Und sie, Lorenzen, solle sich schämen. Sie wäre doch bisher eine ganz reputierliche Person gewesen. Aber daß bei ihr auch etwas nicht in Ordnung sei, hätte er, Kapitän Gundermann, schon bei der letzten Wäsche bemerkt. Blau sei sie gewesen wie der Stille Ozean! Und so ging das noch eine ganze Weile fort, und es nutzte auch nichts, daß die Witwe Lorenzen hoch und heilig versicherte, daß sie den Antrag Kranolds abgelehnt habe. Der Kapitän wurde nur noch wütender. Als er in seiner Droschke endlich wieder abgefahren war, wußte man im ganzen Viertel, daß an der Witwe Lorenzen und am Schuhmacher Kranold kein gutes Haar war. Denn der Kapitän Gundermann, wenn er auch alt war, hatte immer noch eine Stimme, die straßenweit reichte. Im „Nußbaum“ besprach man später die Angelegenheit ebenfalls. Der Steuermann Jens machte niederträchtige Witze über den forschen Kranold, und Briefträger Pankraz, der sich gar nicht ganz unschuldig an dem Unheil wußte, stand dabei und grinste über das ganze Gesicht. Die anderen sagten „Hm“ und „Tja“ und schnalzten vor Vergnügen ein ums andere Mal. Gut nur, daß es auch noch Frauen gab, die es schändlich fanden, wenn Männer so wie die alten Weiber klatschten, ohne zu begreifen, daß eine so ehrbare Person, wie die brave Lorenzen, durch solch einen Kerl wie den Kranold doch nicht ins Gerede kommen dürfe. Diese Frauen waren kurze Zeit danach im „Gemüsekeller“ versammelt. Man nannte ihn so, obwohl es nur Heringe und Kartoffeln dort zu kaufen gab, abgesehen davon, daß an der Treppe, auf einem Bindfaden aneinandergereiht, auch einige klobige Holzpantoffeln hingen. Auch an hellen Tagen brannte hier unten immer eine Petroleumampel, die an der Decke schaukelte und stets blakte, so daß der obere Teil des zersprungenen Zylinders stark verrußt war, denn die dicke Frau Niclas hatte es längst aufgegeben, diesen Zylinder zu putzen. Die Kartoffeln lagen, als großer Berg aufgeschichtet, in einer durch schwere Holzbretter abgetrennten Bucht und die Heringe in riesigen Fässern voll brauner, schuppendurchsetzter Salzlake. Da Frau Niclas immer aufgesprungene Hände hatte, mußte es für sie eigentlich ein wahres Martyrium sein, die Fische aus dieser scharfen Salzlake herauszuholen. Doch sie war mit den Jahren unempfindlich dagegen geworden, nur ihre Lebensanschauung hatte etwas Salziges bekommen. Auf dem Ladentisch, neben der kleinen Waage, standen zwei runde, irdene Gefäße. In dem einen befanden sich Rollmöpse, in dem anderen marinierte Heringe – von Frau Niclas selbst mit Gurken und Zwiebeln eingelegt. Diese beiden Gefäße übten stets große Anziehungskraft auf die Besucher aus, eine so große, daß viele gleich an Ort und Stelle eine oder die andere Delikatesse zu essen begehrten. Dann holte Frau Niclas eine Untertasse, fischte den Rollmops oder den Hering mit einem Holzlöffel heraus und forderte zum Platznehmen auf, indem sie auf eine kleine Bank an der Wand wies, die aber ja nicht abgerückt werden durfte, weil sie nur drei Beine hatte.
Der Gast mußte also still an der Wand sitzenbleiben, wenn er nicht umfallen wollte. Und auf dieser Bank saß jetzt Frau Palmer, die Waschfrau, einen Hering auf der Untertasse, während am Ladentisch ein paar andere weibliche Wesen standen, die ihre Rollmöpse gleich vom Holzstäbchen aßen.
Alle waren darin einig, daß jetzt etwas geschehen müsse, selbst wenn die Lorenzen den Schuster an den Haaren zurückholen sollte. Frau Niclas war bereit, diese Ansicht der Witwe eindringlich darzulegen. Ja – irgend etwas mußte geschehen, so konnte die Sache nicht bleiben ... Am Abend war auch Kapitän Gundermann zu derselben Ansicht gelangt. Er war wohl wieder einmal ein bißchen zu hitzig gewesen heute nachmittag, aber das hatten die Gichtschmerzen gemacht, nun waren sie – Gott sei Dank – ein wenig vergangen. Als er sich jetzt die Kranoldschen Stiefel anzog, schien es ihm, als ob sie doch eigentlich recht gut paßten, wenn die Füße nicht gerade geschwollen waren. Er mußte doch gleich mal probieren, ob er damit ein Stück laufen konnte. Es ging sogar recht gut, und er hatte noch gar keine Lust, schon wieder umzudrehen. So ging er noch weiter und wunderte sich, daß er jetzt plötzlich vor dem Hause in der Friedrichsgracht stand. Durch das Fenster konnte man ein bißchen in die Stube sehen. Na ja – da war Frau Lorenzen und plättete, daß es rauchte; sie tat ihre Arbeit wie immer. Das war so richtige Weiberart: wegen eines Nichtsnutz von Jöre aufs eigene Glück zu verzichten und dann noch so tun, als sei überhaupt nichts gewesen ...! Fuchsteufelswild konnte man da wieder werden, wenn man so etwas mit ansehen mußte. Hatte man da nicht die Pflicht, wie ein Donnerwetter dreinzufahren? Als er nun an die Scheibe geklopft und die Witwe das Fenster aufgemacht hatte und Kapitän Gundermann gerade loslegen wollte, da blieb ihm das Wort im Munde stecken. „Häh – was soll denn det bedeuten?“ Denn dort in der Ecke saß doch wirklich die Lore mit dem Schuhmacher Kranold und lachte über seinen schwarzen Daumen.
„Häh?“ machte Kapitän Gundermann noch einmal in seinem unbändigen Erstaunen. Je nun – die Witwe Lorenzen war zwar ein bißchen verlegen, aber doch resolut. „Herr Kapitän“, sagte sie, „entschuldigen Sie man, aber ich hab’ jedacht, wenn meine Plättarbeit nischt mehr taugt und Kranolds Schusterei auch zu wünschen übrigläßt – ja, na denn is es wohl am besten, wenn wir uns beizeiten zusammentun, um gemeinsam zu verdienen. Vielleicht brauch’ ich dann keine solche Angst mehr um die Zukunft zu haben! Ja – und wenn jetzt die Plättwäsche fertig is, wollen wir ’rüber in den ‚Nußbaum‘ und Verlobung feiern!“ Ganz sachte wurde währenddem das Fenster zugemacht, aber nicht so schnell, daß Kapitän Gundermann nicht noch hätte sagen können: „Jott sei Dank – und meinetwegen könnt ihr Mazurka tanzen, bis euch die Stiefelsohlen um den Kopf fliegen!“