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Hinter der Glasscheibe des kleinen Küchenschrankes stand noch immer das Stück Schokoladentorte, das Lore gestern mit heimgebracht hatte. Nur ein schmaler Streifen war bisher „zum Kosten“ abgeschnitten, der Rest aber sorgfältig weggeschlossen worden, denn Frau Lorenzen hatte es „in den Gliedern“, daß „Pelters“ heute kommen würden.

Und sie kamen auch wirklich. In einem der Zillenbeiboote ruderten sie herüber und legten unten an der Ufermauer an, unweit von Lorenzens Haus.

Mit Händeschütteln und Kopfnicken, ohne viele Worte, begrüßte man sich, denn die Bekanntschaft war alt. Die Pelters waren schon damals auf die Zille gekommen, als Lores Vater noch gelebt hatte. Sie wußten stets alle Neuigkeiten, die das Schiffervolk angingen, übernahmen Bestellungen von Abfahrenden und Kommenden – aber das war nicht die Hauptsache. Nein, Frau Pelter konnte mehr. Sie konnte Gliederreißen und Warzen besprechen, wußte unbedingt wirksame Mittel gegen Zahnschmerzen und Bandwürmer, – und das war wohl das Merkwürdigste an ihr – sie konnte auch in die Zukunft sehen. Dazu brauchte sie keine Karten, sondern nichts weiter als eine große Tasse starken, schwarzen Kaffees. Und wie schnell wußte sie „Bescheid“. Ein Blick in den „Satz“ – das genügte, und der Fragende kannte seine Zukunft.

Auch Lorenzens Verschwinden hatte sie prophezeit, ganz genau. „Sie werden“, so hatte sie kurz vorher zu der jungen Frau gesagt, „bei nächstem Vollmond viel Geld zählen!“ Und so war es eingetroffen. Frau Lorenzen hatte, als Vollmond war, das Geld für die nach dem Verschwinden des Mannes verkaufte Zille gezählt und auf die Sparkasse getragen. Das war jetzt noch immer der Notpfennig, von dem sie mit ihrem Mädel lebte, wenn der Verdienst knapp war.

Frau Pelter saß am Herd, goß sich den Kaffee aus der Ober- in die Untertasse und schlürfte behaglich. Die Schokoladentorte war verzehrt, und Herr Pelter hatte sich den Tonpfeifenstummel zwischen die Eckzähne geklemmt und paffte.

Ja – jeder hatte seine Sorgen, darüber war man einig geworden, nachdem man sich gegenseitig erzählt, wie es in der Zwischenzeit dem und jenem ergangen war.

Nach einer Weile nahm Frau Pelter die braune Kaffeekanne von der Ofenplatte und goß den schwarzen Satz in Frau Lorenzens Tasse. Als sie da so hineinsah, war sie ganz betroffen vor Überraschung – kopfschüttelnd betrachtete sie die Witwe. „Aber Lorenzen“ –, sagte sie beinahe vorwurfsvoll, „Sie werden doch nich!“ Die Witwe bekam rote Wangen und einen trotzigen Zug um die Mundwinkel. Doch gleich darauf verdüsterten sich Frau Pelters Mienen, und sie starrte mit einem Gesicht in die Tasse, als ob es um ihre eigene Zukunft ginge. „Zwee sind da – zwee kommen“, murmelte sie endlich. „Aber der zweete kommt viel später als der erste ...!“ Wie erschlagen von diesem Orakel saß die Witwe da. „Zweie?“ stammelte sie. „Nu – wollen Se denn noch mal wieder ...?“ erkundigte sich nun Herr Pelter sehr interessiert und stocherte mit einer Haarnadel seiner Frau in seinem Pfeifenstummel. „Man is ja noch nich alt“, sagte Frau Lorenzen leise und mehr zu sich selbst. „Nu – denn man immer zu!“ ermutigte Herr Pelter, „aber dann nehmen Sie nur den Richtigen!“

Seine Frau nahm inzwischen das wollene rote Tuch, das sie bei ihrem Kommen abgelegt hatte.

„Adschüs“, sagte sie und nochmals: „Adschüs, Lorenzen. Ich bin ja selbst neugierig, welcher es nu werden wird!“ „Ich nicht weniger“, pflichtete Pelter bei. „Adschüs! Halten Se nur die Ohren steif ...!“

Damit waren sie bereits auf den Flur hinausgetreten.

... Es war Abend geworden, und der Schein der Gaslaterne am Hause tanzte im Wasser. Irgendwo auf einem der vor Anker liegenden Kähne wurde Harmonika gespielt; Mutter Lorenzen summte leise die Melodie des alten Volksliedes mit. Wie oft hatte sie es und manches, manches andere gesungen – damals, als sie selbst noch auf solch einem Kahn gewesen.

Sie hörte im Geiste wieder ihre frische Stimme, hörte, wie sie über das Wasser klang, vielleicht bis hinüber zum Kiefernwald, dessen Stämme im Abendsonnenlicht immer so ergreifend schön rot aufglühten. Ja – und dann war jener schreckliche Unglückssonntag gekommen. Die Zille lag am Ufer von Moabit vor Anker, und sie – die junge Frau – saß auf Deck und strickte. In einem Korb zu ihren Füßen schlief das Mädelchen, der weiße Spitz kläffte vom Dach der Kombüse nach dem Ufer, woher der Wind Tanzmusik herübertrug ... Da war Lorenzen heraufgekommen – in seinem Sonntagsstaat, die silberne Uhrkette auf der blauen Weste. Er hatte wieder einmal den Blick gehabt, vor dem sie sich heimlich immer fürchtete, denn dann war nichts mit ihm anzufangen, und er schien von allen guten Geistern verlassen zu sein.

Unbeweglich stand der breitschultrige Mann da, sah die Frau an, dann das Kind – den Hund, sagte aber nichts. Und Anna hütete sich, den Mund aufzutun, denn sie wußte ja, daß sie dann verlorenes Spiel hatte. Er suchte doch nur Streit, um vor sich selber einen Grund zu haben, an Land gehen zu können – nach den Zelten zum Tanzvergnügen. Der dünne, blaue Rauch aus dem Schornstein der Kombüse war plötzlich dick und schwarz geworden, der Spitz mit erschrecktem Aufbellen in den leeren Laderaum hinuntergesprungen, sie selbst aber war eiligst das Treppchen hinuntergestiegen. Denn das Abendbrot stand ja auf dem Feuer. Daß sie das ganz vergessen hatte ...

Und wirklich: alles bereits angebrannt! – – Von Deck her hörte sie Lore schreien – hm ... Aber der Mann war ja bei dem Kinde. Jetzt kam es vor allem darauf an, dem Schaden hier unten abzuhelfen. Gut nur, daß da noch genügend geschälte Kartoffeln in der Wasserschüssel lagen. Man brauchte also nicht ganz von vorn mit der Kocherei anzufangen. Als Anna nach einer kleinen Weile schuldbewußt wieder an Deck kam, war Lore still, sie schlief wieder. Doch – ihr Mann – wo war denn ihr Mann ...?

Das Laufbrett zum Uferrand lag noch eingezogen an Deck, die Entfernung zu der steilen Böschung war doch zu groß, um vom Kahn aufs Ufer springen zu können. Aber auch die nächste Zille lag so weit entfernt, daß es ganz unmöglich war, daß Lorenzen etwa drüben sein könnte.

Der Spitz stand jetzt am Kahnrand und blickte ins Wasser. Winselte er etwa kläglich –? Aber dort war doch auch nichts zu sehen, obwohl sich das Tier anscheinend nicht beruhigen konnte. Herrgott – hatten denn die anderen Schiffer nichts bemerkt? Sie rief hinüber und fragte nach ihrem Mann. Aber keiner hatte etwas gesehen oder überhaupt etwas Auffälliges beobachtet.

Mit dem Rettungskahn war stundenlang das Wasser abgesucht worden – alles vergeblich! So war damals Lorenzen verschwunden, spurlos. Denn selbst seine Leiche war nicht zum Vorschein gekommen, wie sonst andere Wasserleichen ...

Anna Lorenzen stand etwas schwerfällig auf, ging zur Kommode und nahm aus der Bibel hinten den Zeitungsausschnitt. Beim Schein der Laterne draußen las sie – ach, zum wievielten Mal? –: „Da der von hier gebürtige, frühere Matrose, zuletzt Schiffseigner Johann Friedrich Lorenz Lorenzen, ehelicher Sohn des weiland hiesigen Schiffseigners Carl Theodor Lorenzen und der Auguste Maria Rentner, seit fünf Jahren abwesend von hier ist, ohne daß von ihm oder seinem Aufenthalt irgendeine Nachricht eingegangen wäre, so wird auf Antrag seiner Ehefrau Friederike Anna Lorenzen, geb. Stiege, dieser abwesende Johann Friedrich Lorenz Lorenzen hierdurch geladen, sich im Termin, den 18. Mai n. J., vormittags 11 Uhr, vor dem Königl. Preußischen Stadtgericht allhier entweder in Person oder durch genügend Bevollmächtigte zu melden oder den Ort seines Aufenthaltes anzuzeigen, widrigenfalls der vorstehend benannte Johann Friedrich Lorenz Lorenzen für tot erklärt wird.

Berlin, im November

Königl. Preußisches Stadtgericht“

Nein, Lorenz hatte sich nicht gemeldet, obwohl diese Vorladung in allen Hafenplätzen angeschlagen worden war, und an einem schönen Maitag hatte ihn das Gericht „für tot“ erklärt und seitdem war sie – Friederike Anna Lorenzen geb. Stiege, eine Witwe.

Spreelore

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