Читать книгу Spreelore - Erdmann Graeser - Страница 13
II. Teil
ОглавлениеDer Schuhmachermeister Kranold hatte zweifellos eine poetische Ader, die sich oft in schönen Vergleichen äußerte: „Glückliche Jahre“ – sagte er heute – „sind wie ein Taubenflug!“ Dieser Vergleich, den er aber nicht näher erklärte und den daher Briefträger Pankraz nicht ganz so wunderschön fand wie frühere Aussprüche, war Kranold am Morgen eingefallen, als die Tauben von der Dachkante des Nachbarhauses knatternd in die klare Winterluft aufgestiegen waren, dann – bei einer Schwenkung – mit ihrem grellen Weiß die Augen blendeten und sich nachher in sanftem Bogen wieder niederließen. Als Kranold die Tiere zählte, waren es sieben Stück, gerade soviel Jahre, wie seit dem Tage vergangen waren, da er die Witwe Lorenzen geheiratet hatte. Schnell und leuchtend waren diese Jahre vergangen – wie ein Taubenflug – einen besseren Vergleich gab es gar nicht. Und wenn Pankraz das nicht einsah, so lag es wohl daran, daß er in der letzten Zeit etwas dösig geworden war.
Die Werkstatt in der Petrigasse hatte Kranold behalten. Er war nach der Hochzeit nur mit seiner Kommode nach der Friedrichsgracht übergesiedelt.
Das Mittagessen mußte Lore ihm bringen, und wenn er das Mädchen ansah, dann merkte er erst, wie schnell doch die Zeit vergangen war. Denn wie hatte sich das kleine Ding in diesen Jahren verändert. Seit ihrer Einsegnung, seitdem sie den dicken, langen Zopf hochgesteckt wie eine Erwachsene trug, sprach sie immer wieder davon, bei Fräulein Lohr, der Putzmacherin am Molkenmarkt, als Lehrmädchen eine Stellung anzunehmen. Sie wollte hoch hinaus, die Lore, gut nur, daß er, Meister Kranold, ein so demütiger und gottesfürchtiger Mann war, der wohl wußte, daß die Heilige Schrift vor dem Laster des Hochmuts warnte. Ja – es war eine glückliche Zeit gewesen, aber trotzdem sah die Witwe – diese resolute und entschlossene Frau – gar nicht sehr glücklich aus. Schuster Kranold schob es auf die erregten Auseinandersetzungen mit der oft recht aufsässigen Tochter; doch es hatte einen anderen Grund, den nur die Mutter selbst kannte. Aber sie hätte sich eher die Zunge abgebissen, als ein Wort davon gesagt.
Nein, niemand ahnte etwas von dem Grund ihrer zeitweiligen Schwermut. Selbst Briefträger Pankraz nicht, obwohl er ihr eines Morgens – Gott sei Dank, daß sie allein gewesen war! – doch den Brief mit der komischen, ausländischen Briefmarke gebracht hatte. Als Anna diesen Brief in dumpfer Vorahnung, weil sie doch wußte, daß so etwas immer nur Unheil brachte, aufgerissen hatte, las sie nur ein einziges Wort auf dem Papier. Und dieses Wort hieß: „Juvivallera ...!“ Sie war damals wie erschlagen auf die Bettkante gesunken und hatte erst Kraft sammeln müssen, ehe sie es fertigbrachte, nach dem Küchenherd zu gehen und den Brief in das Ofenloch zu stecken. Wochenlang war sie danach wie verstört umhergegangen, und es war erst wieder etwas besser mit ihr geworden, nachdem ihr Frau Pelter geraten hatte, sich die Schläfe mit Senfspiritus einzureiben.
„Bei Ihnen, liebe Lorenzen – Jottejott, ick sage immer noch Lorenzen, entschuldigen Sie man also, liebe Kranold, bei Ihnen sind die Tränendrüsen verstoppt, und Senfspiritus macht sie wieder offen. Passen Sie mal auf, wat Sie für klare Augen nach die Einreibung kriegen werden!“ Nun ja, die Augen hatten in den letzten Wochen wieder Glanz bekommen – vielleicht aber nur deshalb, weil Anna auch ohne Senfspiritus so viel geweint hatte, – nachts, wenn Lore und Kranold schon längst schliefen. Vielleicht aber auch deshalb, weil nicht das geringste weiter erfolgte, nichts von dem eingetroffen war, was Frau Kranold so sehr gefürchtet hatte. – – –
Am Abend schneite es, und in der Nacht kam wieder scharfer Frost, das richtige Weihnachtswetter war da. Steuermann Jens, der immer einen spekulanten Kopf gehabt und diesmal die am Mühlendamm zugefrorene Spree als Eisbahn gepachtet hatte, konnte vielleicht nun noch sein Glück machen und mit einem Schlage ein reicher Mann werden, wie er so oft prophezeite. Wenn nur das Eis noch ein paar Zoll dicker würde, daß es all die Menschen tragen konnte, die sich zu Weihnachten auf der Spree tummeln und ihre Schlittschuhkünste zeigen wollten. Alle Befürchtungen, daß sich der Wind drehen und plötzlich wieder Tauwetter eintreten könnte, waren überflüssig gewesen. Der Schnee knirschte wie Kies so hart unter den Füßen, und die Spree war jetzt beinahe bis zum Grund gefroren. Am ersten Feiertag, ganz früh, brachte der Laufbursche aus Herrn Bertrams Drogerie einen Brief mit der strikten Anweisung, daß er ihn nur „persönlich an Fräulein Lore“ abgeben dürfe. Die Mutter ließ sich dadurch aber nicht beirren, sondern nahm dem Jungen den Brief ab und öffnete ihn. Auf blauem Elfenbeinpapier, das nach Maiglöckchen duftete, stand geschrieben:
„Liebe Lore!
Du hast hoffentlich Deine Schulfreundin Agnes nicht vergessen? Möchtest Du nicht heute mit mir und Lili Semper zusammensein? Bringe, bitte, Deine Schlittschuhe mit. Wir erwarten Dich um drei Uhr bei Lili. Mit vielen Grüßen
Agnes Bertram“
„Is jut“, sagte die Mutter zu dem Burschen. „Bestelle man, daß meine Tochter kommen wird.“ Und dann ging sie hinein. Über die Enttäuschung, daß die Mutter dieses wichtige Schreiben zuerst geöffnet hatte, kam Lore durch die Überraschung über diese Einladung fort. Nach so langer Zeit eine Einladung ...! Und noch dazu für den ersten Weihnachtsfeiertag! Und das – obwohl Lili doch so stolz geworden war, daß ihr selbst Agnes kaum noch als Umgang genügte! Denn diese Lili Semper war doch in der französischen Schweiz erzogen worden – ein Wunder, daß sie überhaupt noch etwas von der Waschfrau- und Schustertochter wußte. Lore war wie im Fieber. Wahrscheinlich gab es große Gesellschaft bei Sempers, der Diener hatte sicher weiße Handschuhe an und servierte Fisch und Braten auf silbernen Platten – es galt also, sich zu putzen, um mit Ehren bestehen zu können. Die Handschuhe und die Pelzkappe mit dem weißen Kaninchenschwanz an der Seite genügten ihr nun kaum noch, so sehr sie sich auch gestern, am Heiligen Abend, über diese schönen Geschenke der Mutter gefreut hatte.
Eine halbe Stunde vor der angesetzten Zeit war sie schon in der Nähe von Sempers Haus; dann ging sie noch ein Weilchen wartend auf und ab, und dann hielt sie es nicht länger aus und zog die gelbe Messingklingel in der Breiten Straße. Ach, wie lange war es her, daß Lore hier in dieses Haus gekommen war, um die Wäsche abzuliefern. Das Dienstmädchen, das sie heute einließ, wußte es wohl kaum noch, oder hatte besondere Anweisung bekommen, es nicht merken zu lassen. Denn Lore Lorenzen wurde wie eine richtige Dame, die zum Besuch kam, behandelt.
Im Vorraum mußte sie ihre Sachen ablegen, dann wurde sie durch eine Reihe von Zimmern, die vornehm still dalagen, in einen kleinen, reizenden Raum geführt, wo es – trotz der Winterzeit – blühende Maiglöckchen am Fenster gab. Und dann trat Agnes aus dem Nebenzimmer. „Es ist schön, daß du gekommen bist“, sagte sie sehr freundlich und gab Lore die Hand. Aber es war doch etwas Eigenartiges in ihrem Wesen, als wolle sie es merken lassen, daß sie hier, in diesem vornehmen Hause, etwas Besonderes sei. „Wärme dich nur noch etwas, daß du keine kalte Luft mit hereinbringst – Lili kann das nicht vertragen! Es handelt sich um eine wichtige Sache, weswegen wir dich gebeten haben. Das verdankst du mir ...“ setzte sie geheimnisvoll hinzu. Eine kleine Enttäuschung – dieser Empfang durch Agnes. – – – Na, man konnte ja nicht wissen, was dahintersteckte. Und dann traten sie in ein Zimmer, in dem alles blau war: Die Tapete, die Teppiche, die Vorhänge und blaue Hyazinthen an den Fenstern strömten einen schweren, betäubenden Duft aus. Dort lag Lili, blaß und schlank und vornehm, auf einem blauen Diwan und hob grüßend ihre schmale Hand, aber ohne auch nur einen Versuch zu machen, aufzustehen. „Nimm Platz, Lore“, sagte sie mit süßer, etwas singender Stimme und deutete auf einen der blauen Sessel, „wir wollen dich in eine Angelegenheit einweihen. Agnes wird dir alles sagen.“ „Erst den Schwur!“ sagte diese erinnernd und zündete drei gelbe Wachskerzen in einem bereitstehenden silbernen Armleuchter an. „Na, natürlich, erst den Schwur“, sagte Lili und preßte wie erschöpft ihr Taschentuch an die Stirn. „Also Lore, du mußt schwören, niemals auch nur ein Sterbenswörtchen von dem zu verraten, was wir dir heute sagen. Und wenn du es doch tust, soll dein Leben ebenso schnell verlöschen, wie diese drei Flammen, die ich jetzt auspuste.“ Agnes blies die Lichter aus und sah Lore erwartungsvoll an. „Ich schwöre!“ sagte diese sofort, denn was war das für ein leichter Schwur gegen den von damals, als sie darauf eingegangen war, eine Spinne zu werden, wenn sie verriete, wer den Spottvers in Lehrer Klaus’ Briefkasten gesteckt hatte. „Nun sage ihr alles“, flüsterte Lili und schüttelte sich wie im Fieber. „Du mußt wissen“, sagte Agnes, „es handelt sich um eine romantische Liebe, wie sie sonst nur in Büchern vorkommt. Doch das verstehst du wohl nicht ganz und sollst deshalb gleich hören, worauf es ankommt. Lili hat sich also genau vor einem Jahr, gerade am ersten Weihnachtsfeiertag, mit ihrem Vetter Johannes Perkholz verlobt, und sie haben sich ihr Wort gegeben, sich später zu heiraten.“ „Du mußt erst mal sagen, wer mein Vetter ist“, flüsterte Lili mit verlöschender Stimme. „Ja – das mußt du freilich auch wissen, Lore, damit du nachher alles richtig machst. Johannes Perkholz ist jetzt noch Primaner – er will später studieren. Dann bekommt er übrigens eine noch flottere Hose. Jetzt ist er über Weihnachten zu Besuch hier – er trägt eine grüne Kappe mit schwarzem Schirm!“ „Und er hat – sage du es, Agnes ...“ hauchte Lili. „Er hat Stege an den Hosen, aber darauf brauchst du nicht so zu achten; es ist nur, wenn du einen Zweifel hast.“ Lore nickte. Es war ihr, als habe sie dieser Tage schon jemanden gesehen, auf den diese Beschreibung paßte, aber hauptsächlich war er ihr gerade wegen der Stege aufgefallen. „Und nun kommt etwas furchtbar Trauriges“, sagte Agnes und zog ebenfalls ihr Taschentuch hervor. „Du siehst, wie schwach Lili ist – sie hat sich durch Hyazinthenduft töten wollen, denn sie hat in einem Roman gelesen, daß alle – alle Männer untreu sind. Sie betrügen ihre Frauen und schon ihre Verlobten, wenn – darauf kommt es an, Lore! – wenn sie in Versuchung geführt werden.“ „Gib ihr erst mal von den kandierten Früchten, Agnes“, hauchte Lili. Solche Köstlichkeiten, die mit einem kleinen Löffel aus einer Kristallschale genommen werden mußten, hatte Lore noch nie gegessen. Die Zähne wurden ganz rebellisch gegen diese Süßigkeit, die bis in die große Zehe drang. Agnes und Lili beobachteten sie, bis sie das letzte Stück verschluckt hatte. „Möchtest du wohl eine ganze Schachtel solcher französischer Früchte haben? Und möchtest du ...“ Aber Agnes unterbrach Lili. „Erst müssen wir hören ...“, sagte sie bedeutungsvoll. „Also Lore, damit du es weißt: Wir haben dich dazu bestimmt, Johannes Perkholz in Versuchung zu führen. Willst du diesen Auftrag übernehmen, so bekommst du eine ganze Schachtel solcher feinen Süßigkeiten.“ Und als Lore sie nur starr ansah, flüsterte Lili: „Es handelt sich um mein Leben – bedenke das, Lore! Denn ich kann die Ungewißheit nicht mehr länger ertragen und muß erfahren, ob auch er mir – untreu werden könnte.“ „Du brauchst“, erklärte Agnes weiter, „nur auf die Eisbahn zu gehen, und wenn du Johannes Perkholz siehst, dich recht flott und verführerisch zu benehmen.“ „Und wenn er nu anbeißt?“ fragte Lore. Lili hielt sich plötzlich das Taschentuch vor die Nase, als habe sie etwas ganz Ekliges gerochen. „Du mußt uns den Beweis liefern“, sagte Agnes. „Du mußt sehen, daß du ihn zum Konditor Gumpert in die Hinterstube bringst – aber nicht in das Damenzimmer, denn da werden wir sitzen und hinter der Gardine aufpassen.“ „Wir müssen sie schmücken“, hauchte Lili, „sonst ist es ihm ja leicht, ihr zu widerstehen.“ Und sich zu Lore wendend, sagte sie: „Du mußt sehr geheimnisvoll tun und keine – hm – starken Ausdrücke gebrauchen.“ „Aber du darfst auch nicht merken lassen, daß du uns kennst oder gar, daß du etwa unsere – Freundin bist!“ „Habt man alle beide keine Bange, ich werde euch schon nicht blamieren“, sagte Lore. Da bekam sie einen feinen Pelzkragen umgelegt und dazu einen blauen Schleier, der ganz eigenartig verführerisch flatterte. „Das kannst du behalten – für immer ...“ sagte Lili, und ihre Stimme zitterte. „Denn nachher würde ich diese Sachen doch nicht wieder tragen mögen, wenn er dich geküßt hat.“ „Jeküßt ...?“ fragte Lore. „Küssen soll er mir ...?“ „Beim Konditor – ja in der kleinen Stube“, erklärte Agnes Bertram. „Denn nur das ist uns ein wirklicher Beweis. Aber hab dich nicht, wir lassen es gar nicht dazu kommen, daß er dich wirklich – küßt!“
Auf der Eisbahn wimmelte es. Steuermann Jens verstand seine Sache. Er hatte eine Musikkapelle zusammengebracht und über die Eisfläche Drähte gespannt, an denen nun bunte Papierlaternen und Flaggen hingen. Wenn es dunkelte, sollte bengalische Beleuchtung gemacht werden. Dann gab’s eine Bude, in der man Punsch und Pfannkuchen bekommen und sich an einem eisernen Ofen auftauen konnte. Bei der Musikkapelle produzierte sich Primaner Perkholz als Kunstläufer. Er hatte wirklich Stege, so daß die Hosen ganz straff saßen und warf die Beine hoch in die Luft, wenn er eine „Acht“ beschrieb. Keiner hatte ihm das bisher so elegant nachmachen können, aber nun erschien da eine junge Dame mit blauem Schleier und flottem Pelzkragen. Sie war außerordentlich fesch und holländerte in so verwegener Weise, daß sie allgemeines Aufsehen erregte. Kühn und verwegen warf sie dem Primaner so feurige Blicke zu, daß er bis ins Herz hinein getroffen wurde und mitten in einer Schleife beinahe zu Fall gekommen wäre, wenn ihm die junge Dame nicht schnell die Hand hingestreckt hätte. Schade – nun konnte man nicht mehr sehen, was weiter daraus wurde, denn nun liefen sie zusammen. Die ganze Bahn machten sie unsicher, und als sie nachher einmal in die Punschbude kamen, konnte man merken, daß ihre Bekanntschaft inzwischen sehr große Fortschritte gemacht hatte. Als ihr der Herr Primaner auf einem Teller einen Pfannkuchen brachte, sagte er: „Bitte, Fräulein Eisfee!“ und sie erwiderte gnädig: „Danke, Herr Eiszapfen!“ Aber diese Namen paßten gar nicht, denn beide sahen sehr feurig aus. Und als sie wieder davonglitten, glichen sie akkurat dem jungen Paar, das man seit Jahren in Glasermeister Müllers Schaufenster auf einem Holzschnitt sehen konnte mit der Unterschrift: „Liebesfrühling auf dem Eise.“ Nachdem das erste bengalische Feuer abgebrannt war, waren die beiden plötzlich verschwunden. Sie wollten noch ein bißchen promenieren, hatte man das Fräulein sagen hören, aber etwas abseits von den vielen Menschen.
Und in der dunklen Uferstraße wurde Johannes Perkholz zudringlich und wollte einen Kuß ... „Nee, hier nich, es jeht hier nich“, sagte die Eisfee, „hier kann man uns ja sehen!“ „Es ist doch aber ganz dunkel!“ „Was haben Sie denn davon – von so ’nem Kuß ...?“ „Ja – ich habe was davon“, sagte der Primaner. „Na, dann – nee, hier lieber nich, aber vielleicht beim Konditor – wenn’s da jeht!“
Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Eisfee zum Konditor zu führen. Dort, auf einem langen, weißgedeckten Tisch, stand der große Weihnachtsbaum gerade so, daß man nicht ins Damenzimmer sehen konnte. Der Primaner fand, daß das sehr gut sei und bestellte zwei Tassen Schokolade mit Schlagsahne. Als die Mamsell hinaus war, fing er wieder vom Küssen an. „Sind Sie denn nicht auch ein bißchen in mich verliebt?“ Die Eisfee meinte, das sei eine etwas komische Frage, auf die ein anständiges Mädchen doch gar nicht antworten könne. „Sie brauchen wirklich nicht zu denken, daß das etwas Schlimmes ist. Meine Kusine Lili Semper, die doch gewiß ein anständiges Mädchen ist, läßt sich von mir küssen, so oft ich bloß will ...“ „So – na ja, die ist auch Ihre Kusine!“
„Und ihre Freundin, die Agnes Bertram, die doch auch ein anständiges Mädchen ist, habe ich ebenfalls schon mindestens zwölfmal geküßt!“ – – – Es war ein Wunder, daß der Weihnachtsbaum durch den heftigen Stoß, den er gerade jetzt bekam, nicht auf Johannes Perkholz gefallen war. Im ersten Augenblick glaubte der Herr Jüngling, daß er ihn wohl in seiner Kußwütigkeit umgerissen habe. Als er sich dann aber umsah, bemerkte er im Damenzimmer seine Kusine Lili, und hinter ihr, auf dem Sofa, lag halb ohnmächtig Agnes Bertram ... „Geh zu deiner Schlange und werde glücklich mit ihr“, sagte im gleichen Augenblick Lili hoheitsvoll und deutete auf Agnes. Dann war ihre Kraft zu Ende. Auf Lores Arm gestützt, wankte sie hinaus.
Lore aber tat es bitter leid, daß sie nicht erst noch ihre Schokolade hatte austrinken können. Aber eins tröstete sie: Nun hatte sie doch Aussicht – endlich, endlich, Lilis einzige Freundin zu werden. – – – Aber ach, das Mädel aus der Friedrichsgracht kannte die feinen Mädchen noch immer nicht.
Denn Lili ließ nichts von sich hören, und als Lore dann eines Tages nach der Breiten Straße ging, um sich nun selbst in Erinnerung zu bringen, war das Dienstmädchen, das ihr öffnete, höchst verwundert. „Fräulein Lili ist verreist!“ sagte das schnippische Ding und drückte gleichzeitig die Tür ins Schloß. Aber das war eine infame Lüge. Denn als Lore am nächsten Tage wieder vorbeikam, hielt gerade die Equipage vor der Haustür, und Lili stieg mit ihren Eltern ein – vielleicht zu einer Spazierfahrt durch den Tiergarten. „Dann soll sie mir den Buckel langrutschen“, dachte Lore. Doch – sie erlebte noch eine weitere Demütigung. Als sie bald darauf die Agnes Bertram traf, sah diese sie nur von oben bis unten an und ging hochmütig an ihr vorbei.