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ОглавлениеDie kleinen Häuser des Spreewinkels mit ihren schrägen Ziegeldächern und ungewöhnlich tiefen Kellern waren wie alte, zähe Invaliden, die dem Tod schmunzelnd ein Schnippchen schlagen. Sie standen jetzt im Frühlingssonnenschein wie alte Spittelleute, die in Gartenanlagen herumsitzen und die morschen Knochen von den Strahlen wärmen lassen. Die Bewohner lebten bei kümmerlicher Beschäftigung von heute zu morgen, zufrieden schon, daß es überhaupt weiterging.
Die Fischer allerdings, die waren eine Gilde für sich, die ihr gutes Einkommen und lohnende Arbeit hatten. Ihr immer etwas lautes Treiben erfüllte die Uferstraße bis zum Mühlendamm hinunter, dort, wo die Kleiderhändler vor ihren mit alten Uniformen, Pelzen und Anzügen vollgestopften Buden saßen oder standen.
Aber die seßhaft gewordenen Schiffer und ihre Angehörigen, soweit sie nicht in ihre märkischen Dörfer zurückgekehrt waren, schlugen sich eben doch nur mühsam durch mit allerlei Gelegenheitsarbeit. Katzen saßen überall und beobachteten blinzelnd die im Pferdemist hackenden Sperlinge. Auf dem Wasser zogen Zillen gemächlich dahin; aus dem Schornstein auf dem Bäckerhaus stiegen Rauchringel empor und erfüllten, zuweilen vom Winde niedergedrückt, die ganze Gegend mit ihrem Geruch. Auf den Blumenbrettern vor vielen Fenstern oder hinter den Scheiben Myrten, Kakteen oder Oleanderableger – auch in Bierflaschen ... so zeigte sich das Bild des „Spreewinkels“, in dem sich manchmal die Bewohner anderer Stadtviertel einfanden und dann Menschen und Häuser hier anstarrten, als wären sie in eine absonderliche Welt geraten.
Wenn sie dann wohl die Lore erblickten, die in ihrem blauen Kleidchen auf den steinernen Treppenstufen wie die anderen Kinder hockte, so stießen diese und jene sich an – das hier war etwas Besonderes –. Dann aber zog die Kleine meist ihre Holzpantoffeln unter das Röckchen, denn sie fühlte sich unbehaglich. Heute saß sie einsam da und blickte den großen, weißen Wolken nach, die so schnell dahinsegelten. Sie war heute aufgeregt, denn sie wußte, daß die Tochter des Drogisten – Goldkäferschuhe bekommen hatte! – Sie grübelte nun: wie bekomme ich ebenfalls welche, und wenn es irgendwie anging, noch ein bißchen schönere ...? Freilich – Agnes Vater war wohlhabend, er hatte wunderbar große Gläser voll Zuckerkand und Pfefferminzplätzchen. Aber meine Mutter, so stellte Lore weiter fest, war zwar jetzt bloß Waschfrau und früher Dienstmädchen, aber sie hatte eine ganz feine, rote Korallenbrosche und eine Tigermuschel – wenn man die ans Ohr hielt, dann hörte man das Weltmeer brausen ... Wenn das auch alles sehr schön war, so half es Lore doch jetzt nicht darüber hinweg, daß Agnes Goldkäferschuhe besaß und sie nicht ... Das eine war sicher, hier mußte etwas geschehen, und zwar bald, sonst erstickte man ja an dem Knoten, den sie jedesmal im Halse spürte, sobald sie an die Drogistentochter dachte. Das war doch eine ganz Schlaue! Sie hatte sich an Lili Semper herangemacht und war seit dem Geburtstag alle Tage bei ihr. Wenn man nun mal starb – ob dann die Mutter einem vielleicht Goldkäferschuhe in den Sarg mitgeben würde ...? Lore wäre unter diesen Umständen bereit gewesen, sofort zu sterben. Aber jetzt war es zunächst einmal nötig, die alten, schweren Holzpantinen loszuwerden. Daß man einen davon verlieren könnte, das ginge schon – aber beide ...? Und lügen durfte man nicht, das war Sünde. Aber wenn man nun sagte, Lehrer Klaus habe angeordnet, daß alle Kinder von morgen ab mit Goldkäferschuhen in die Schule kommen müßten ...? Dann würde freilich die Mutter wohl zu Frau Niclas in den Gemüsekeller gehen und sich erkundigen, wo denn sie für ihre Marie solche Goldkäferschuhe kaufen werde? Nein – das lieber nicht, denn es war ja nicht sicher, was Marie von den Goldkäferschuhen gehört hatte.
Nein, es mußte schon etwas sein, das jedermann sofort glaubte? Was tun ...?
Mal probieren: „Verflucht und verhext ...!“ Manche sagen doch, das hilft immer.
Und siehe da – es half sofort.
Um die Ecke kam Briefträger Pankraz mit einem großen, schwarzgeränderten Brief gerade auf Lore zu. Sie sah ihn mißtrauisch an und schnüffelte unwillkürlich. Wenn der hagere Mann sonst meist nur nach Leder und Schnupftabak roch, heute duftete er ganz bestimmt tüchtig nach Pech und Schwefel, und wer weiß, was das außerdem noch für ein besonderer Geruch war, den er da um sich verbreitete. In dem schwarzen Brief, den er Lore mit der Weisung gab, ihn sofort der Mutter zu geben, steckten ja nun ganz sicherlich keine Goldkäferschuhe, das konnte man fühlen. Die Mutter war jetzt nicht zu Hause: wenn man mal ein bißchen nachsah, was in dem Briefe drin stand ...? Nein, da war nichts zu machen, denn hinten auf dem Umschlag klebte ein Siegel, schade! Frau Lorenzen wusch heute bei Sempers, zur Aushilfe, denn Frau Palmer, die Waschfrau, konnte es diesmal allein nicht schaffen. Wenn Lore nun hinging und der Mutter den Brief brächte? Daß sie nicht gleich auf diesen Gedanken gekommen war!
Den Brief in der linken, die Pantoffeln in der rechten Hand, lief sie in Strümpfen nach der Breiten Straße. In Strümpfen! – Das war nun ungefähr das Schlimmste, was sie tun konnte.
Die Mutter dachte wahrscheinlich, es brenne zu Hause – denn das war stets ihr erster Gedanke – als Lore in die Waschküche stürmte. Sie mußte sich erst einmal setzen und starrte den Brief fassungslos an, wollte ihn gar nicht öffnen. Denn aus solchen versiegelten Briefen kam ja doch immer Unglück.
Aber schließlich ging sie damit zu Frau Semper, um sich Rat zu erbitten, und als sie zurück in die Waschküche kam, hatte sie rotgeweinte Augen. Sie hörte auch gleich mit der Wäsche auf und sagte Frau Palmer, daß sie ein paar Tage verreisen müsse, denn ihre Schwester Amalie in Brandenburg sei gestorben. Gleichzeitig zeigte sie ein paar Geldscheine, die in dem Briefe gesteckt hatten, damit sie gleich zum Begräbnis kommen könne.
Lore hörte zu und sah mit großen Augen von einer zur anderen. Es tat ihr leid, daß Tante Amalie der Goldkäferschuhe wegen hatte sterben müssen ... Denn es war ja ganz klar: das „Verflucht und verhext!“ vorhin hatte der Teufel gehört, und nun hatte er gleich Tante Amalie sterben lassen. Warum wohl ...?
Und der so furchtbar geizige Onkel Christian hatte der Mutter Geld geschickt ...?
Ob die Mutter es wohl merkte, wofür das Geld bestimmt war? Natürlich für die Goldkäferschuhe, denn Reisegeld hatten sie doch; für so etwas war immer ein Notgroschen im Kommodenkasten. Frau Lorenzen dachte nur an ihre Schwester Amalie – wie gut die immer gewesen war. Plötzlich blieb sie mitten auf der Straße stehen, zählte die Geldscheine und ging in tiefem Sinnen weiter. Nach einer Weile sagte sie: „Lore – du fährst mit, aber da muß ich dir erst noch ein Paar neue Schuhe kaufen!“
Na – endlich! Lore war schon nahe daran gewesen, noch mal leise für sich „verflucht und verhext“ zu sagen. – Schuster Kranold freute sich, daß Frau Lorenzen, oder „Madam Lorenzen“ – wie er sagte, denn er war ein galanter Mann, der die Witwe immer für eine stattliche Frau gehalten hatte –, daß also Madam zu ihm kam. Als er aber hörte, daß es sich nur um Lore handele, bedauerte er, daß nicht auch Madam sich ein Paar neue Schuhe kaufen wolle, denn er habe schon seit langem etwas ganz Feines für sie zurückgestellt. Lore wurde ungeduldig, daß er so viel redete und nicht gleich die Goldkäferschuhe brachte, die dort in dem Glasschrank standen. Wie lange dauerte es doch, bis er merkte, worauf es eigentlich ankam. Wohl ein gutes Dutzend Schuhe standen nun schon um Lore herum, und es war für das Mädel wahrlich keine Kleinigkeit gewesen, bei jedem Paar zu beweisen, daß es nicht paßte. Hinkend war sie jedesmal um den Ladentisch herumgegangen und hatte dann immer gemeint, daß sie in diesen Schuhen auch nicht einen Schritt mehr weiterkäme. Schuster Kranold hatte schon einen roten Kopf bekommen und schwitzte. Schließlich sagte er, nun wolle er doch einmal die Probe machen und sehen, ob es nur an dem Leder oder an der Fasson läge. Und damit ging er an den Glasschrank und holte endlich die Goldkäferschuhe heraus. Merkwürdig, wie gut die paßten. Freilich, hinten drückten sie ein klein wenig, und von dem linken Fuß hätte eigentlich die große Zehe abgeschnitten werden müssen, weil sie nicht recht Platz finden konnte, aber das verschwieg Lore. Sie sagte, die Schuhe wären so weich wie Filzpantoffeln, und wirklich – die Mutter kaufte sie. Sie hatte auch nicht länger Zeit, und Schuster Kranold, der ein gefälliger Mann war, ließ sie ihr obendrein so billig, als wenn es nur ein Paar ganz gewöhnliche Schuhe gewesen wären.
So hätte alles also in schönster Ordnung sein können. Kaum aber war Lore aus dem Laden getreten, da mußte sie vor Schmerzen hinken, das schlimmste war, sie durfte es nicht einmal verraten. Ohne Strumpf, den Schuh nur auf dem bloßen Fuß, war es, wie sie dann zu Hause heimlich probierte, mit den Schmerzen nicht ganz so schlimm, da hätte man nur die kleine Zehe abzuhacken brauchen – aber immerhin, auch das war gerade nicht sehr angenehm. Sie mußte immer wieder denken, daß sie eben kein feines Mädchen sei, weil ihr die Goldkäferschuhe nicht paßten. Sie hatte nun mal nicht so kleine, feine Füße wie die Agnes Bertram – daran lag es wohl! Die Zehen mußten wohl oder übel dranbleiben, das sah Lore nach und nach ja ein ... Sonst konnte man später auch nicht tanzen – und das wollte Lore auf jeden Fall. Aber wenn man nun ein Stück von der Ferse absäbelte? Wenn man es mit einem Ruck machte, dann war es sicherlich nicht so schmerzhaft. Am besten mit dem kleinen Beil, das sich damals Steuermann Jens ausgeliehen hatte, als er den jungen Hunden die Schwänze abhacken wollte. Und ehe es ihr etwa wieder leid werden konnte, nahm das Mädel wirklich das Beil vom Nagel, setzte das Bein auf die Fußbank, machte die Augen zu, damit sie es nicht sähe, und hackte zu. – – – Na – das war eine schöne Geschichte! Frau Lorenzen wußte ja, daß ein Unglück niemals allein kommt, aber gleich zwei so große – womit hatte sie das verdient! Weder Spinnweben noch Essigumschläge hatten genutzt. Der Doktor hatte geholt werden müssen, um das Blut zu stillen, und dann hatte er sogar die Wunde zugenäht ... Und nun lag Lore im Bett und war nicht mit zu Tante Amalies Begräbnis gefahren, und die Goldkäferschuhe konnte sie auch nicht anziehen.
Es gefiel ihr gar nicht, von der Marie Niclas aus dem Kartoffelkeller gepflegt zu werden, denn die roch immer nach Salzheringen und hatte stets eine verstopfte Nase. Ach – Lore hatte gehofft, ihr Unglück würde sich herumsprechen, und die feinen Mädchen von Lilis Geburtstagsfest würden sie nun besuchen und ihr Blumen und Schokolade bringen ... Nein, niemand ließ sich sehen, nur die Waschfrau Palmer erschien einmal mit zwei Apfelsinen und einem Kristallfläschchen „Maiglöckchenduft“ – die Lili schickte es ihr und wünschte „baldige Genesung“.
Na ja – so waren eben die „feinen Mädchen“! Wenn man bei ihnen eingeladen war, taten sie so, als wäre man ebenso fein wie sie selbst, taten es aus Artigkeit und Falschheit. Doch, wenn sie es nicht gerade nötig hatten, dann ließen sie ihre Feinheit nur riechen ... An Kristallfläschchen mit Maiglöckchenduft ... Es war ihnen ganz gleichgültig, ob man Goldkäferschuhe hatte! Man mußte eben noch etwas ganz Besonderes haben, um sie zu übertrumpfen und zu wirklichen Freundinnen zu bekommen.
Lore dachte angestrengt nach, was das Besondere wohl sein könnte, um das selbst eine Lili Semper sie beneiden würde. Ob sie es noch einmal mit dem Teufel versuchte? Und auf einmal, als hätte es ihr der Böse eingegeben – wußte sie, was es sein mußte. Eine Uhr, eine kleine goldene Uhr mußte sie haben. Wie die ganz feinen Damen sie am schwarzen Samtband um den Hals trugen. Eine Uhr, und wenn sie auch nicht tickte, die man aber dafür aufmachen konnte, um ein Bildchen hineinzustecken.
„Verflucht und verhext!“ Hatte sie das bloß gedacht oder laut gesagt? So oder so –. Ja – der Teufel hatte es gehört ... Da war doch jemand vor der Tür! Aber ach, nur Marie Niclas kam herein und brachte das Mittagessen – weiße Bohnen mit Speck. Aber – der Teufel ...?