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ОглавлениеZwei Tage vergingen, da erlaubte der Doktor, daß Lore wieder aufstehen durfte. Ja, er verlangte sogar, daß sie draußen auf der Straße Gehversuche mache. „Aber vorsichtig, liebes Kind, ganz vorsichtig, sonst platzt die Wunde wieder auf!“
Lore hatte sich bis an die Fischerbrücke geschleppt, hockte nun auf dem Ufergelände und sah dem Treiben dort zu. Von irgendwoher hallte das helle Pinkpank aus einer offenen Schmiede – Karrenräder quietschten, Holzpantoffeln klapperten. In den Läden und Lädchen dort drüben in den schmalen Häuschen gab es leider nichts für Lore. Nur Bedarf für Schiffersleute: Ölmäntel, Mützen, „echten Hewimsa-Waterküken“, Kentucky-Kautabak, Tonpfeifen, ja. – Aber dann war auch noch ein Laden dort, in dem die Schiffer für ihre Bräute bunte Kopftücher, weiße Schürzen, rote Korallenketten kaufen konnten ...
Dort standen ein paar Schiffer, die kurze Pfeife im Mundwinkel, und besahen sich lange die Herrlichkeiten. Dann stampften sie mit ihren schweren Schuhen weiter und suchten das Makler- und Vermittlungsbüro auf, in dessen Fenster ein kleines Schiffsmodell ausgestellt war.
Ein paar alte, verwitterte Kerle lehnten sich müßig ans Brückengeländer, spieen im weiten Bogen den überschüssigen Priemsaft ab und zu in das glitzernde Wasser und schauten dann wieder in gelassener Ruhe der schweren Kärrnerarbeit im Hafen zu. Von der Nikolaikirche hallte noch mal der Schlag der Uhr herüber. „Ja, was war denn nun eigentlich mit der Uhr? Verhext und verflucht!“ Als die Mutter vom Begräbnis ihrer Schwester heimkehrte, brachte sie, außer den Kleidern der Verstorbenen, auch eine kleine, goldene Uhr mit, die sie ebenfalls geerbt hatte. Es war eine richtige Medaillonuhr, wenigstens hatte die Mutter sie so genannt, als sie das kostbare Ding den Frauen im Kartoffelkeller zeigte. Inwendig war sie mit blauer Seide gefüttert und hatte Fächer, gerade wie ein Portemonnaie.
Und diese kostbare Uhr gehöre ihr nun, behauptete Lore in der Schule, die Mutter habe sie ihr geschenkt – jawoll! Keines der Mädel wollte es ihr glauben – auch nicht Agnes Bertram, ja selbst nicht mal die dumme Marie Niclas. So war Lore schließlich nichts übriggeblieben, als zu prahlen: „Also morgen bringe ich meine Uhr mit – bäh!“ Aber – wie sollte sie dieses Kunststück nun fertigbekommen ...? Die Mutter um die Uhr bitten ...? Ach – wie die unter Tränen versichert hatte, war ihr dieses Andenken ja lieber als sonst irgend etwas, und darum hatte sie es auch nicht Lore gegeben. Die Uhr lag in dem Kästchen, in dem die Mutter auch ihre rote Kette und die Tigermuschel als Andenken an den verschwundenen Vater aufbewahrte. Und dieses Kästchen wieder war in der Kommode tief unter wollenen Strümpfen versteckt. Bisher hatte die Mutter jeden Abend vor dem Schlafengehen nochmals nachgesehen, ob das Kästchen auch nicht gestohlen worden war. Als Lore am nächsten Morgen das Quietschen der Kaffeemühle in der Küche hörte, kletterte sie aus dem Bett und schlich nach der Kommode, und als Frau Lorenzen eine halbe Stunde später ihr Mädel wecken wollte, wunderte sie sich, wie fest es heute noch schlief. Sie ahnte nicht, daß ihre kostbare Uhr, in ein wenig ansehnliches Schnupftuch geknüpft, in Lores Kleidertasche steckte ...
Keines der Mädchen hätte es für möglich gehalten, daß Lore wirklich die Uhr mitbringen würde. Zuerst, als sie so langsam und ganz feierlich an der um den Hals geschlungenen Seidenschnur zogen, hatten sie geglaubt, daß sicherlich nur ein Knopf zum Vorschein kommen werde und daß Lore nachher behaupten würde, irgendeine böse Hexe habe ihr die Uhr verwandelt. Aber nun hing da wirklich eine Uhr an der Schnur. Eine Uhr, die sich richtig öffnen ließ und inwendig himmelblauseidene Fächer besaß. Alle hatten diese Uhr wie ein Wunder angestaunt – am meisten aber Bertrams Agnes. Fein! – von ihr würde es ja jetzt Lili Semper erfahren. Na, und dann: vielleicht kam Lili schon morgen aus dem feinen Hause in der Breiten Straße nach dem Häuschen in der Friedrichsgracht und wollte Lores Freundin sein ... Plötzlich stoben sie alle auseinander, denn die Tür hatte geklappt – Lehrer Klaus trat in die Klasse – oh, wenn er nur nicht heute Diktat schreiben läßt ...! Glücklicherweise kam es anders. Agnes Bertram, die er immer vorzog, weil er in der Drogerie bei dem „strammen Liberalen“ alles billiger erhielt, sollte aus der „Biblischen Geschichte“ vorlesen. Die anderen Mädchen aber mußten kerzengerade dasitzen, die Hände gefaltet, und Herrn Klaus unverwandt ansehen. Wer das nicht tat, mußte zu Hause als Strafarbeit hundertmal aufschreiben: „Ich bin ungehorsam gewesen.“
Nachdem sich die Klasse von ihrem Schreck über diese Anordnung erholt hatte, saßen alle wie versteinert da und hörten bald darauf, von der Agnes fein säuberlich vorgelesen, daß Lots Frau nur, weil sie sich einmal umgedreht hatte, zur Salzsäule erstarrt war. Das war übrigens eine Geschichte, die Lore schon kannte. Sie fand sie gar nicht so wunderbar, denn nach ihrer Ansicht waren doch alle Menschen inwendig salzig – man merkte es doch an den Tränen, die ganz salzig schmeckten. Ja, wenn die Frau eine Pfeffersäule geworden wäre ...!
Das mußte sie gleich mal ihrer Nachbarin Marie sagen, und sie tat das auch trotz des strengen Verbots, nicht zu sprechen. Marie aber saß selbst wie eine Salzsäule da, regungslos und rührte sich auch nicht, als ihr Lore mit den Holzpantinen – die Goldkäferschuhe zog sie nur sonntags an – auf die Stiefelspitzen trat. Daß Marie solche Angst vor Lehrer Klaus hatte ...! Fürchtete sie sich denn wirklich so sehr ...? Dies festzustellen, schien der Lore jetzt viel wichtiger als zu erfahren, was da schließlich aus den Leuten von Sodom und Gomorrha wurde. Flugs tauchte sie hinter dem breiten Rücken Berta Dieters ihren Bleistift ins Tintenfaß und wischte ihn dann an Maries gefalteten Händen ab.
Marie tat, als merke sie gar nichts und starrte beharrlich den Lehrer an. Nun aber zog Lore plötzlich die kostbare Uhr vorn aus dem Halsbündchen und ließ sie an der Schnur dicht vor Maries Nase hin und her baumeln – wie ein Perpendikel. Aber da geschah etwas Furchtbares ...! Wie alles möglich gewesen war, konnte Lore auch später nicht recht begreifen. Wie ein Habicht fuhr plötzlich eine große, rote Hand nach der Uhr, umkrallte sie und riß sie weg! Und im nächsten Augenblick stand Lehrer Klaus selbst in seiner ganzen Größe vor der entsetzten Lore ... Genau so mußte es Lots Frau zumute gewesen sein, als sie damals zur Salzsäule erstarrte! Aber Lots Weib hatte damit genug und konnte nun bleiben, wo es war. Lore aber, der das Entsetzen in die Beine gefahren war, wurde von ihrem Platz weggezerrt und vorn nach dem Katheder geführt. Vierzig Augen sahen zu, was Lehrer Klaus jetzt weiter tat. Er sah sich die Uhr an, machte sie auf und zu und – einige der kleinen Mädchen hätten beinahe laut aufgeschrien! – legte sie in sein Pult ... Fast gleichzeitig verabreichte er Lore einen „Katzenkopf“. Das hatte gar nicht so schlimm ausgesehen, aber Lores Kopf hing wie bei einer geknickten Butterblume plötzlich nach der rechten Seite. Nun faßte Herr Klaus Lore wieder ganz sanft an. Und da schrie das Mädel, das bisher keinen Laut von sich gegeben hatte, plötzlich so schrill auf, daß man es sicherlich bis unten im Zimmer des Rektors gehört haben mußte – jeden Augenblick konnte der also heraufkommen.
Lehrer Klaus wußte genau, daß Lore Lorenzen sich verstellte. Aber immerhin; sie war imstande und hielt den Kopf schief, bis die Schule aus war, ging wohl gar so nach Hause. Da würde man viele gute Worte geben müssen, damit die Witwe Lorenzen nicht zum Rektor lief. Soweit durfte es nicht kommen. Man sollte nicht sagen, daß er sich habe hinreißen lassen und ein Kind womöglich zum Krüppel geschlagen.
Obwohl Lehrer Klaus nun so tat, als wenn er Lore gar nicht mehr sähe, wie sie da vor dem Pult stand und den Kopf schief hielt, merkten es die Kinder doch, daß er heimlich nach ihr schielte, während Agnes Bertram jetzt die Geschichte vom Turmbau zu Babel lesen mußte. Tat ihr denn der Hals noch immer nicht weh? So etwas von Trotz und Eigensinn war dem Lehrer wahrhaftig noch nicht vorgekommen. Freilich, er ahnte, was das Mädel damit bezweckte: es handelte sich um die Uhr. Die würde er wieder herausrücken müssen. Nach einer Weile war er sich klar. Er befahl der Agnes Bertram, auch gleich noch die nächste Geschichte zu lesen und rief den übrigen zu, ganz still zu sitzen. „Ich komme gleich wieder, gehe nur einmal hinunter, um nachzusehen, ob der Herr Rektor da ist.“ Er ging. Zur Sicherheit lehnte er die Klassentüre nur an ...
Nur wenige Minuten blieb Herr Klaus fort, aber inzwischen hatte Lore es fertigbekommen, unter den Blicken der vor Entsetzen starren Klasse den Kathederdeckel hochzuheben, die Uhr herauszunehmen, sie in die Tasche verschwinden zu lassen und sich wieder vor das Pult zu stellen. Als Lehrer Klaus hereinkam, sagte er Lore ganz freundlich, daß sie sich jetzt wieder auf ihren Platz setzen dürfe.
Als wäre nichts geschehen, ging die Stunde zu Ende – schließlich auch der Vormittag. Lehrer Klaus war glücklicherweise nicht auf den Gedanken gekommen, im Pult nach der Uhr zu sehen.
Endlich war die Schule aus. Wenn nun der Lehrer aber morgen – oder übermorgen – die Uhr suchen würde? Was dann ...? Das war heute das Gesprächsthema auf dem Nachhauseweg. Merkwürdigerweise war Lore weniger besorgt als alle anderen, sie hatte nur den einen Gedanken, die Uhr wieder in Mutters Kommodenschublade unterzubringen ...
Und das glückte ihr gleich nach dem Mittagessen.
Hm – die Kopfnuß ...! Was tat die schon! Viel schlimmer wäre es gewesen, den Kopf so lange schief halten zu müssen, bis Lehrer Klaus doch endlich mürbe geworden war.
Auf alle Fälle wußte nun wenigstens die ganze Klasse, daß sie, die Lore Lorenzen, eine feine goldene Damenuhr besaß. Doch – wo blieb denn die Lili? Der Pankraz brachte nicht einmal ein Briefchen mit einer Einladung in das feine Haus. Oder hatte die Agnes der Lili gar nichts von der Uhr erzählt? Es wäre ihr schon zuzutrauen.
Nun, das nächste Mal, wenn Lore bei Sempers die Plättwäsche abliefern würde, bot sich vielleicht eine Gelegenheit, die Lili selbst zu sprechen.