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6.

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Der August kam und es regnete immer noch, Schauer, Dauerregen, Nebel, einzelne blaue Streifen zwischen den Wolken, aber keine Sonne. Das Wasser in den Badeseen wurde nicht warm, grüner Schleim blubberte vor der Zeit von den schlammigen Gründen hoch, rund um die Strände des Långsjö wurden Warnschilder aufgestellt: ›Bitte nicht baden! Giftige Algen! Achtet auf Kinder und Hunde.‹

Verner hörte öfter als sonst die Nachrichten im Radio. Er kaufte beide Boulevardblätter, Expressen und Aftonbladet, las die Tageszeitungen Dagens Nyheter und Svenska Dagbladet in der Bibliothek im Stadtzentrum. Nach den groß aufgemachten Schlagzeilen und Artikeln der ersten Tage hatten die Zeitungen nicht mehr viel zu berichten. Die Fahndung lief weiter, der Sprecher der Polizei schwieg sich aus. Zunächst wurde ihm unterstellt, er würde wichtige Fakten unterschlagen, dann begriffen die Reporter, dass er überhaupt nichts wusste.

Nach drei Tagen hörten die Tageszeitungen auf, über den Mord zu schreiben, denn es gab keine Neuigkeiten. Aftonbladet brachte eine halbe Spalte über den Mord und Expressen eine kleine Notiz; die bestanden jedoch fast nur daraus, die bekannten Fakten zu wiederholen.

Außerdem geschahen in derselben Woche noch mehrere schwere Gewaltverbrechen: Der Anführer eines Bikerclubs wurde in Trångsund ermordet, seine Anhänger drohten mit blutiger Vergeltung. Ein Fernfahrer wurde im Einkaufscenter Kungens kurva ausgeraubt, seine Ladung war verschwunden, und es wurde angenommen, dass eine internationale Verbrecherorganisation dahintersteckte. Dann noch ein Messermord in Sundbyberg. Der Älvsjömord geriet in den Schatten der neuen Ereignisse.

Eines Abends wurde Verner von Margret angerufen. Es war halb acht, er stand in der Tür und war gerade auf dem Sprung zu einem Spaziergang, vielleicht auch zu einem kleinen Ausflug mit dem Pendelzug in die Stadt, denn er fühlte sich rastlos.

»Störe ich?«, fragte Margret.

Verner antwortete, dass es gerade nicht so gut passe, aber dass sie sich ja kurz fassen könne.

»Dauert nur ein paar Minuten«, sagte Margret.

»Okay.«

»Er war mit einer dunklen, halblangen Jacke bekleidet, der Mann, den wir suchen, jemand hat ihn gesehen. Wenn er es denn war.«

»Ach ja?«

»Jemand war gerade auf und sah hinaus über den Hof, eine Dame, die von ihrem bellenden Hund geweckt worden war. Sie sah einen Mann in dunkler Jacke aus dem betreffenden Hauseingang kommen, so gegen drei Uhr nachts.«

»Ach ja?«

»Ich wollte nur deine Aufmerksamkeit auf dieses Detail lenken, die Jacke meine ich, falls dir dadurch noch etwas einfallen sollte, was du gesehen hast, wenn du draußen gewesen sein solltest. Denn vielleicht warst du da ja gerade draußen?«

»Ich erinnere mich nicht, wie ich bereits gesagt habe.«

»Ich weiß, aber ich glaube diese Jacke ist wichtig, schwarz und halblang. Vielleicht bringt das ja etwas hervor? Aus der Erinnerung, meine ich.«

»Ich werde versuchen darüber nachzudenken.«

»Wie geht es dir sonst?«

»Wie immer.«

»Okay Verner, vielleicht sehen wir uns, ich bin ab und zu in der Gegend.«

»Ja, vielleicht sehen wir uns dann.«

»Das war‘s schon, pass auf dich auf.«

Verner murmelte etwas, das Margret nicht verstehen konnte. Sie hielt kurz inne, wollte fragen, was er gesagt hatte, aber da hatte er schon aufgelegt.

Er ging nicht gleich hinaus, wie er es vorgehabt hatte. Er blieb eine Weile auf dem Bett sitzen. Er war sich nicht sicher, warum Margret das mit der Jacke so hervorgehoben hatte, aber er nahm an, dass sie es gesagt hatte, weil sie wohl gesehen hatte, dass er eine ähnliche Jacke besaß. Sie hing im Flur bei der Tür, neben Schals und anderen Jacken.

Und warum arbeitete sie so spät noch? Waren es angeordnete Überstunden, oder nahm sie ihre Arbeit mit nach Hause? War sie eine von diesen übermotivierten jungen Polizisten, die nur für die Arbeit lebten? Gab es solche Polizisten heutzutage noch? Und wenn, mussten sie abends und nachts umsonst arbeiten, ohne dass ihr Chef oder die Gewerkschaften ihnen Einhalt geboten, oder die betriebliche Gesundheitsvorsorge?

Das fragte sich Verner, aber er kannte Margret ja schließlich gar nicht. Vielleicht wollte sie ja auch nur ein bißchen plaudern. Nein, das glaubte er nicht. Sie ist gewieft, dachte er, sie will mich zum Reden bringen, sie weiß schon, was sie tut, und auch gleichzeitig, dass ich das alles durchschaue. Als er hinausging, begriff er, dass sie ihn vermutlich verdächtigten. Vielleicht nicht offiziell. Sie hatten wohl noch niemanden wirklich im Verdacht, der Staatsanwalt war noch nicht eingeschaltet worden. Sie haben mich im Hinterkopf, dachte Verner. Sie haben meinen Namen noch nirgendwo aufgeschrieben, sie haben ihn vielleicht nicht mal ausgesprochen, als sie mögliche Verdächtige durchgesprochen haben. Und wenn schon jemand meinen Namen ausgesprochen haben sollte, dann unter dem Deckmantel: »Unser alter Kollege wohnt doch in der Gegend, das können wir nicht ignorieren«. Keine Beschuldigung, kein ausgesprochener Verdacht gegen ihn. Trotzdem würden alle die unterschwellige Andeutung verstehen, jeder Polizist, alle Fahnder und Ermittler. Denn alle wussten, was mit Verner Lindgren geschehen war, wer er war. Verner selbst war überzeugt davon, dass sein Name bei der Ermittlung des Mordes vom Törnrosväg eine Rolle spielte.

Als Verner gegen zehn Uhr abends von seinem Spaziergang zurückkehrte, hatte der Regen aufgehört. Er war zuerst zum Friedhof in Västberga gegangen, dann auf der Schnellstraße zur alten Kirche von Brännkyrka, war eine Weile über den Friedhof geschlendert, hatte die Inschriften der Grabsteine gelesen, an denen er immer stehen zu bleiben pflegte, denn sie waren alle für Menschen errichtet worden, die Verner geheißen hatten.

Zwei hatten lange gelebt, aber ein Verner war nur achtundzwanzig Jahre alt geworden. Verner und dieser jung Verstorbene hatten denselben Nachnamen, Lindgren. Als Verner den Grabstein zum ersten Mal sah, war er über den frühen Tod seines Namensvetters erschrocken. Er hatte es als schlechtes Omen angesehen.

Das war passiert, als er vor drei Jahren gerade nach Älvsjö gezogen war, und es hatte ihn noch mehr davon überzeugt, dass er bald sterben würde. Er hatte sogar einen Margeritenstrauß auf das Grab gelegt. Jetzt wusste er, dass ihm Aufschub gewährt worden war, für eine bestimmte Zeit, für wie lange, konnte er nicht wissen.

Es war noch nicht richtig dunkel, als Verner in seine Wohnung kam. Er machte kein Licht, sondern setzte sich ans Fenster und blieb dort eine halbe Stunde sitzen, ohne etwas zu tun. Plötzlich erhob er sich mit einem Ruck, ging schnell ins Badezimmer, öffnete das Spiegelschränkchen und nahm eines der Pillendöschen heraus. Er hätte zwei von den hellblauen Tabletten nehmen sollen, aber er nahm vier.

Ein Auto sprang unter dem Fenster an. Verner wachte auf und blickte auf den Wecker, der zehn nach fünf anzeigte. Er wusste, dass er nicht wieder würde einschlafen können. Er stand auf und trank Wasser, pinkelte, fand, dass der Urin ungewöhnlich stark roch und zu dunkel aussah. Er trank noch mehr Wasser und nahm zwei Tabletten. Legte sich wieder aufs Bett und wartete auf den Morgen.

Zwanzig nach sechs ging er nach draußen. Er hatte die dunkle, halblange Jacke an.

Er wusste, dass er jemandem auffallen konnte, jemandem, der nur von ihm gehört hatte, vielleicht durch Margret oder einen der alten Kollegen. Und derjenige, der zuerst die Jacke entdeckte, würde sich an seinen Streifenkollegen im Auto wenden oder später bei der Besprechung im Präsidium seine Beobachtung mitteilen. Etwas würde dazu gesagt werden, das war unausweichlich. Notizen würden darüber gemacht werden.

Verner war sich absolut sicher, dass ihn jetzt jemand beobachtete, vielleicht sogar mit der Videokamera aufnahm. Er hätte andere Kleidung wählen können: die kurze graue Jacke, ein Jackett, einen Mantel.

Er ging durchs Zentrum, vorbei an den Bussen, und er drehte sich nicht um, schielte nicht verstohlen zur Seite. Er hätte auf die Beobachter zeigen können, er wusste, wo sie sich befanden, dachte, dass er bessere Stellen dafür ausgesucht hätte, wenn er hätte wählen müssen.

Zwischendurch kam kurz die Sonne heraus. Verner folgte der Eisenbahnlinie, bog zum Trimm-dich-Pfad ab, durchquerte den Wald, geriet außer Atem, verringerte das Tempo etwas, fühlte sich erschöpft.

Er ging knapp zwei Stunden lang, ohne anzuhalten. Als er zurück im Zentrum war, war es halb zehn. Er ging in den Konsum, denn er brauchte Milch und Käse, und der Kaffee war auch fast alle.

Im Laden befanden sich nur wenige Kunden, einige Frauen und ein älterer Mann. Verner nickte einer der Frauen zu, er kannte sie, denn sie wohnte im gleichen Häuserkomplex wie er, mit Mann und zwei Söhnen, er hatte sie dann und wann zusammen gesehen. Zufälligerweise wusste er, dass die Frau Birgitta Lundberg hieß. Sie hatte mal Zeitungen zum Container getragen, als Verner auch gerade mit einem seiner Altpapierbündel dorthin kam. Er hatte in eine der Tüten schauen können, die die Frau neben sich abgestellt hatte, und zuoberst hatten ein Werbeprospekt und ein Kuvert mit ihrem Namen und ihrer Adresse gelegen. Verner hatte sich den Namen eingeprägt, wohl eine alte Gewohnheit oder auch Berufskrankheit.

Jetzt nickte er der Frau zu, die Birgitta hieß, sie nickte zurück.

Als Verner ein Paket Kaffee aus dem Regal nahm, stellte sich die Frau auf die Zehenspitzen, um an eine Packung Filtertüten oben auf dem Regal heranzukommen. Dabei rutschte ihr Ärmel ein wenig zurück und entblößte Handgelenk und Unterarm. Quer über dem Arm verlief ein blauer Fleck, ein großer Bluterguss, als ob sie sich eingeklemmt oder einen Schlag abbekommen hatte. Verner sah den rotblauen Fleck. Er schaute schnell zu der Frau hinüber, traf für eine Sekunde ihren Blick. Sie hatte die Filtertüten noch nicht zu fassen bekommen, trotzdem ließ sie den Arm sinken und zog den Pulloverärmel herunter. »Ich kann dir helfen«, sagte Verner, »ich bin größer und komme dran.«

Er nahm eine Packung aus dem Regal und reichte sie der Frau, die sich beeilte zu lächeln.

»Danke«, murmelte sie.

Verner nickte ihr zu und folgte ihr mit dem Blick, als sie sich bückte, den Einkaufskorb hochhob, ihm den Rücken zudrehte und weiterging, mit dem Korb in der rechten Hand.

Er hatte auch vorher schon ähnliche Flecken auf den Armen der Frau gesehen. Er wusste, dass sie auf unterschiedliche Weise entstehen konnten. Aber in den meisten Fällen waren sie das Resultat unsanfter Behandlung, jemand hatte sie blau gequetscht, die Haut verletzt. Verner begriff, dass die Frau gemerkt hatte, dass er es gesehen und verstanden hatte. Das hatte sie erschreckt, denn sie hatte verstecken wollen, dass jemand sie misshandelt hatte. Auch das wusste Verner, da er in den Jahren bei der Polizei sehr viele misshandelte Frauen getroffen hatte. Er dachte, dass er vielleicht zu ihr hätte sagen sollen, dass sie ganz beruhigt sein konnte, dass er nichts weitererzählen würde, dass er sich nicht einmischen würde.

Er sagte nichts zu ihr, er ließ sie verschwinden, und ihm war nicht wohl zumute. Das verwunderte ihn ein wenig, denn es war lange her, dass er etwas von diesem alten, vertrauten Gefühl spürte, er hatte sich schon eingebildet, dass es völlig verschwunden war. Trotzdem war das Gefühl ganz anders als früher. Die Wut blieb aus.

Herbst der Vergeltung

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