Читать книгу Herbst der Vergeltung - Erik Eriksson - Страница 14
10.
ОглавлениеBirgitta hatte keinen Ausdruck für die Misshandlung, der sie ausgesetzt war; wäre sie gezwungen worden, darüber zu sprechen, hätte sie gesagt der Vorfall, oder das, was passiert ist. Aber sie sprach niemals darüber.
Einmal hatte Leila sie gefragt, warum sie blaue Flecken auf dem Arm hatte. Sie hatte versucht auszuweichen, aber als Leila die Frage wiederholte und wissen wollte, ob sie geschlagen worden war, hatte Birgitta es widerstrebend zugegeben, vielleicht gesagt, aber es sei ja nur ein einziges Mal passiert, und dieser Vorfall sei nicht der Rede wert. Danach hatte sie zu vergessen versucht, dass Leila gefragt hatte. Von dieser Begebenheit rührte wohl dieser Ausdruck her: Der Vorfall damals.
Aber sie war seitdem noch oft misshandelt worden, viele viele Male, und viele Male davor.
Birgitta wollte über das, was passiert war, nicht nachdenken, sie hielt es von sich fort, dachte es sich weg, ließ es zu einem Nichts schrumpfen, zu etwas, das weit weg war, etwas Nebensächlichem. Ja, es passierte neben ihr. So, als ob es jemand anderem passierte, so, als ob sie selbst unbeteiligt daneben stand und zusah, so, als ob es nur etwas war, das sie gehört und wieder fast vergessen hatte.
Am Morgen nach dem letzten Vorfall hatte Bengt lange geschlafen. Birgitta selbst war eine Weile vor den Söhnen aufgestanden, hatte sich gewaschen, sich gepudert und versucht, sich stark zu schminken, um die schlimmsten Spuren zu verbergen. Sie hatte eine Schramme am Kinn und eine geschwollene Lippe, die Zunge hatte eine Wunde, aber das war nicht zu sehen.
Das Gesicht war noch recht gut davongekommen, das Schlimmste waren die Schmerzen in der Seite und im Bauch. Da hatten Bengts Fäuste sie viele Male getroffen, er hatte hart und mit Wucht zugeschlagen.
Bengt schlug sie selten ins Gesicht. Es war, als wolle er keine all zu deutlichen Spuren hinterlassen.
Als er aufwachte, war Birgitta in der Küche. Er murmelte ›Guten Morgen‹, ging ins Badezimmer und blieb ziemlich lange dort.
Als er wieder herauskam, war der Kaffee fertig. Sie saßen einander stumm gegenüber. Bengt vermied es, sie anzusehen. Als er sich erhob und sagte, dass er einen kleinen Spaziergang machen wolle, wusste sie ziemlich sicher, was er jetzt vorhatte.
Und es kam, wie sie vermutet hatte. Nach einer halben Stunde war er zurück mit einer Tortenschachtel und einer Tüte.
»Oh, das wird ja ein Festschmaus«, sagte Birgitta, »Marzipantorte und Plunderteilchen.«
»Bitte sehr, nicht der Rede wert«, antwortete Bengt.
Mehr wurde nicht gesagt. Bengt rasierte sich, Birgitta machte die Betten, die Söhne kamen, schauten in die Küche und sahen die Torte.
»Lecker, nicht wahr?«, sagte Birgitta.
Die Jungen freuten sich, sie wussten, dass Torte gegen elf oft zum Samstag gehörte. Es war schon fast eine Gewohnheit. Obwohl es manchmal auch am Sonntag so war.
Birgitta hatte eine Weile in der Küche gesessen. Als sie sich erheben wollte, schoss ein gewaltiger Schmerz durch ihren Bauch, er durchfuhr sie wie eine scharfe Messerklinge, sie stöhnte auf. In diesem Augenblick kam Bengt in die Küche. Birgitta ging schnell zu einem Husten über, hielt die Hand vor den Mund. Hinter einem gespielten Reizhusten versuchte sie den Schmerz zu verbergen.
Sie hätte stillsitzen und vorsichtig atmen sollen. Nun verschlimmerte sich der Schmerz im Magen stattdessen noch. Bei jedem Husten war es, als risse eine Wunde tief im Zwerchfell auf.
»Bist du erkältet?«, fragte Bengt.
»Ach, halb so wild«, murmelte Birgitta.
»Dann hole ich wohl den Kaffee.«
»Nett von dir.«
»Setz dich, ich mache das schon.«
Dann rief er seine Söhne, sie kamen sofort. Bengt sagte, dass sie nicht extra fragen müssten, sie dürften sich so viele und so große Stücke Torte nehmen, wie sie wollten.
Birgitta meldete sich am Montag krank, sagte, dass sie wieder ihre starken Kopfschmerzen bekommen hätte, diejenigen, die ohne Vorwarnung kamen und ein oder zwei Tage blieben.
Ja, man wusste auf der Arbeit, dass sie an diesen Schmerzen litt. Die Sekretärin des Bürovorstehers, mit der sie telefoniert hatte, sagte, Birgitta solle sich pflegen, es ruhig angehen lassen und wieder auf die Beine kommen. Sie sagte das, was man erwarten konnte. Aber Birgitta wollte gerne glauben, dass sie meinte, was sie sagte, sie war eine freundliche Frau, die bald in Rente gehen würde, ein herzlicher Mensch, den alle mochten.
Am Abend, als die Jungen schliefen, kam Leila zu Birgitta herüber. Bengt war für einige Tage weggefahren zum Arbeiten, dieses Mal nach Köping, etwas zu weit entfernt, um jeden Tag nach Hause zu fahren.
Leila hatte eine Flasche spanischen Wein von einer guten Sorte mitgebracht, eine von mehreren, die sie in der Weinlotterie gewonnen hatte.
Wenn sie sich auf ein Glas trafen, lud Leila sie immer ein.
Birgitta hatte ihr gesagt, dass sie für ihren Anteil bezahlen wolle, aber Leila hatte das jedes Mal abgelehnt, weil Birgitta oft Knabberzeug bereitstellte. Und Birgitta wollte keinen Alkohol für sich alleine kaufen, weil sie wusste, dass Bengt es nicht mochte, wenn sie ohne ihn trank.
Sie saßen meistens bei Birgitta, jedesmal, wenn Bengt fort war in Sachen Arbeit, was oft vorkam, denn Bengt war Elektriker und Leihmonteur, er war bei einer Firma angestellt, die Generatoren und Energiezentralen in ganz Mittelschweden wartete.
Leila arbeitete in der mobilen Krankenpflege, sie hatte keine Kinder und lebte allein mit zwei Vögeln im Käfig. Manchmal ging sie aus zum Tanzen, und es kam vor, dass sie mit einem Mann zu ihm nach Hause ging, aber der durfte niemals mit zu ihr nach Hause kommen, sie gab niemals ihre Adresse heraus und nannte falsche Namen, Therese, Brigitte, gerne auch Vendela; warum gerade diesen Namen, wusste sie nicht. Die Anonymität war zu einer Angewohnheit geworden, zuvor war sie absolut lebenswichtig gewesen.
Der Wein, zu dem sie Birgitta einlud, hieß Torremilanos, ein ausgezeichneter Jahrgang, der in der Weinrubrik in der Zeitung Bestnoten bekommen hatte.
»Ich bin in Griechenland gewesen, aber niemals in Spanien«, sagte Leila. »Aber sie haben guten Wein.« »Meinst du jetzt Spanien oder Griechenland?«, fragte Birgitta.
»Beide«, antwortete Leila und lachte.
Sie tranken, Birgitta öffnete das Küchenfenster einen Spalt, sie zündeten sich jede eine Zigarette an und versuchten, den Rauch zum Fenster zu blasen.
»Was hast du mit deinem Gesicht gemacht?«, fragte Leila.
»Ich hatte meine Kopfschmerzen«, antwortete Birgitta, »und da ist mir so schwindelig geworden, dass ich im Bad über die Badematte gestolpert und gegen das Waschbecken gefallen bin.«
»Genau wie mit der Küchentür«, sagte Leila.
»Wie?«
»Sonst ist es immer die Küchentür, gegen die sie laufen. Oder die Treppe, die sie runterfallen.«
»Wer?«
»Die Mädels, die verprügelt werden.«
»Aber ich bin ja gestürzt.«
»Du brauchst mir nichts vorzumachen, ich weiß Bescheid, und ich hab‘ schließlich früher schon mal gefragt. Erinnerst du dich?«
»Ja, ich kann mich erinnern.«
»Ich hab‘ es selbst schon mal erlebt, ich weiß, wovon ich rede.«
Birgitta saß stumm da, zündete sich noch eine Zigarette an. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Sprich endlich darüber«, sagte Leila, »es ist viel besser, wenn du darüber sprichst, mir kannst du vertrauen, ich erzähle nichts weiter.«
»Es ist ... es ist«, versuchte Birgitta, »es ist ... oder ...«
Weiter kam sie nicht. Es fühlte sich an, als würde sie anfangen zu weinen, aber es kamen keine Tränen. Stattdessen wurde der Schmerz im Bauch stärker und auch in der Brust tat es weh. Sie konnte nicht ausmachen, ob der Bauch am meisten schmerzte oder ob es ihre Trauer war, die jetzt hervorbrach. Alles floss zusammen, es war wie ein Krampf im Körper. Sie starrte vor sich hin.
»Erzähl es mir«, sagte Leila, »jetzt oder ein anderes Mal, aber du musst es erzählen, sonst gehst du kaputt.«
Da fing Birgitta an zu weinen. Erst langsam und leise, aber dann immer heftiger. Sie versuchte, die Hände vor Augen und Mund zu pressen, um die Schluchzer zurückzuhalten, aber die Tränen flossen zwischen ihren Fingern hindurch, und ihre Nase schniefte, die Trauer wurde übermächtig. Das Weinen steigerte sich und wurde zu einem gedämpften und langgezogenen Schrei lang unterdrückter Verzweiflung.
Ihre Söhne wachten auf. Sie lagen still in ihren Betten, sagten nichts zueinander. Sie versuchten, die Laute zu dämpfen, indem sie ihre Kissen auf die Ohren drückten. Das hatten sie vorher schon gemacht, aber da waren es Schläge gewesen, die sie gehört hatten, Poltern auf dem Boden und der Zorn des Vaters. Das hier war etwas anderes.
Langsam erstarb das Weinen. Die Jungen lagen trotzdem noch eine Weile wach, bevor sie wieder einschliefen.
Leila hielt die Hand ihrer Freundin. Jetzt lockerte sie langsam ihren Griff, goss Wein nach, schob Birgitta das Glas herüber.
»Ich habe das alles schon lange gewusst«, sagte sie.
»Wie lange?«, schniefte Birgitta.
»Lange.«
»Wie hast du es herausgefunden?«
»Ich sagte ja schon, dass ich es wusste, weil ich so etwas selbst kenne.«
»Hat dich auch jemand geschlagen?«
»Ja, davon reden wir ja schließlich, oder?«
»Kannst du mir davon erzählen? Also, ich meine, natürlich nur, wenn du willst.«
»Ich habe für einige Jahre mit einem Typen zusammen gelebt, erst war er nett, ein echt netter Kerl, aber er veränderte sich und fing an mich zu kontrollieren, ließ mich nirgends mehr allein hingehen, denn er war absolut eifersüchtig. Dann schlug er mich einige Male, bis ich schließlich Schluss machen wollte. Das akzeptierte er nicht und wurde dann erst richtig gewalttätig. Ich zog aus, wir waren schließlich nicht verheiratet und hatten keine Kinder. Aber er suchte nach mir. Ich zog wieder um, aber er bekam immer heraus, wo ich wohnte. Und er schlug mich wieder, auf die übelste Weise. Ich musste mich verstecken, er nahm mir praktisch mein Leben weg, ich saß nur herum und zitterte hinter zugezogenen Vorhängen in irgendeinem Versteck.«
»Du brauchst nicht weiterzuerzählen.«
»Doch, ich werde dir die ganze Geschichte erzählen. Zu guter Letzt verschwand er, er hat wohl eine andere gefunden, die er terrorisieren konnte, aber zu dem Zeitpunkt hatte ich schon eine Menge Hass auf dieses verdammte Arschloch entwickelt, ich lief herum und malte mir unterschiedliche Methoden aus, wie ich ihn wohl töten konnte. Und obwohl ich eigentlich froh war, dass er verschwunden war, konnte ich nicht aufhören, ihn zu hassen. Er war LKW-Fahrer, und noch immer hoffe ich jedesmal, wenn ich in der Zeitung etwas von einem Autounfall lese, dass er es war, der dort gestorben ist. Besonders wenn es ein richtig schlimmer Unfall war, ein Brand zum Beispiel, wo jemand langsam gestorben ist, hoffe ich darauf. LKW-Unfälle lese ich immer mit dem größten Vergnügen. Und als die Estonia sank, dachte ich, dass er vielleicht an Bord war, man weiß ja nie, LKWs fahren ja oft ins Ausland. Manchmal sind Unfälle das einzige, was mich interessiert. Es ist sogar schon vorgekommen, dass ich in die Stadtbücherei gegangen bin und Massen von Tageszeitungen durchgeblättert habe, nur um alle schlimmen Unfälle mitzubekommen. Und immer denke ich dasselbe, hoffentlich ist es dieser verfluchte Mistkerl, ich hoffe, dass er verbrannt ist, in Stücke gerissen, langsam gestorben ist. Ich ergötze mich an Unfällen, kann kaum genug davon kriegen. Er hat mich kaputt gemacht.«
»Himmel, Leila.«
»Hm, es ist furchtbar, aber ich weiß, wie es dir ergeht, und ich habe es die ganze Zeit über mitgekriegt, von Anfang an, seit ich eingezogen bin. Warum verlässt du den Kerl nicht?«
»Ich kann nicht, nicht jetzt, wir haben ja schließlich die Jungs, und er ist ja schließlich nicht immer so, ich hoffe, dass er sich ändern wird, dass er wieder so wird wie in der ersten Zeit, als wir zusammen waren.«
»Aber er ändert sich nicht.«
»Wie kannst du das wissen?«
»Ich weiß es, weil es so ist.«
»Aber ich hoffe es trotzdem.«
»Das tun all die, die ausgenutzt werden, das sage ich dir.« Sie tranken ihren Wein aus, rauchten weiter, trennten sich gegen halb zwölf. Birgitta schaute bei den Jungen hinein, lauschte eine Weile, hörte, dass sie schliefen und hoffte, dass sie sie nicht gestört hatten. Als sie unter ihre Decke kroch, kamen die Bauchschmerzen wieder.